eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Das provokative Essay: Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik - internationalisiert, inkompetent, wegrationalisiert

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2008
Hans-Joachim Motsch
Am Beispiel der Sprachheilpädagogik skizziert der Autor den Prozess der Deprofessionalisierung, durch den sich diese Disziplin in schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern überflüssig macht - überflüssig wegen Inkompetenz. Totengräber sind u. a. eine verfehlte Schulpolitik mit dem Wunsch eines allseitig einsetzbaren heilpädagogischen Generalisten, die falsch verstandenen und unter dem Diktat der Kosteneinsparung stehenden Integrationsbemühungen und die Gleichgültigkeit vieler betroffener Praktiker. Der Bologna-Prozess mit der Konsequenz verschulter Schmalspur-Bachelor-Studiengänge beschleunigt den Vorgang.
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Das Ziel sprachtherapeutischer Professionalität vor 100 Jahren Eigentlich fing alles gut an, als die ersten Sprachheilschulen vor ca. 100 Jahren entstanden. Die Gründung dieser Sonderschulen war der Versuch, das zum damaligen Zeitpunkt vorhandene Maximum an therapeutischer Professionalität zu bündeln, um vor allem stotternden Schülern therapeutische Hilfe zu bieten. Ohne den Mainstreambegriff des Qualitätsmanagements zu kennen, schlossen sich Sprachheillehrer und Sprachheilärzte 1927 zur Arbeitsgemeinschaft der Sprachheilpädagogik in Deutschland e.V. zusammen und konzipierten die erste Prüfungsordnung für Sprachheillehrer, die 1928 in Hamburg erlassen wurde. Das Konzept dieses Studienganges lag qualitativ und quantitativ weit über den heute in Deutschland existierenden Ausbildungsgängen. Es war ein 4-semestriges Aufbaustudium, bei dem Volksschullehrer, die bereits zwei Jahre Erfahrungen in einer Sprachheilschule als Voraussetzung mitbringen mussten, im Studium ausschließlich Sprachheilpädagogik studieren durften (vgl. Dupuis 1984). Sprachbehindertenpädagogik als hoch differenzierende Fachwissenschaft seit 50 Jahren Es war ein Jahrhundert des Aufbruchs. Das zugegeben zu dieser Zeit noch relativ geringe Das provokative Essay Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik - internationalisiert, inkompetent, wegrationalisiert Hans-Joachim Motsch Universität zu Köln n Zusammenfassung: Am Beispiel der Sprachheilpädagogik skizziert der Autor den Prozess der Deprofessionalisierung, durch den sich diese Disziplin in schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern überflüssig macht - überflüssig wegen Inkompetenz. Totengräber sind u. a. eine verfehlte Schulpolitik mit dem Wunsch eines allseitig einsetzbaren heilpädagogischen Generalisten, die falsch verstandenen und unter dem Diktat der Kosteneinsparung stehenden Integrationsbemühungen und die Gleichgültigkeit vieler betroffener Praktiker. Der Bologna-Prozess mit der Konsequenz verschulter Schmalspur-Bachelor-Studiengänge beschleunigt den Vorgang. Schlüsselbegriffe: Deprofessionalisierung, Förderschulen, Sprachtherapie, Bologna-Prozess, berufliche Qualitätsstandards Deprofessionalisation of Special (Language) Education and Rehabilitation - Internationalised, Incompetent, Useless and Disestablished n Summary: Using speech and language pathology as an example the author outlines the process of deprofessionalisation, which supersedes this scientific field in school and rehabilitation due to incompetence. Among others, mistaken educational politics looking for all-purpose pedagogical generalists, the misconceived efforts of integration only trying to save costs and the disinterest of practitioners seem to be some of the responsible “grave-diggers”. The process has also been accelerated by the Bologna reform with its consequence of strongly regimented, pseudo-academic Bachelor programs of study. Keywords: Deprofessionalisation, special schools, speech and language rehabilitation, Bologna Process, occupational quality standards VHN, 77. Jg., S. 4 - 10 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel VHN 1/ 2008 von Fachmedizinern erarbeitete Wissen über Sprachstörungen explodierte durch das Hinzutreten des Erkenntnisinteresses der Fachwissenschaften Sprachwissenschaft/ Linguistik und Psychologie, durch den Zugang zur internationalen Forschung im Bereich von Spracherwerb und Sprachstörungen und in den 1960er Jahren durch die Etablierung der universitären Sprachbehindertenpädagogik. Sprachbehindertenpädagogik hat durch diese Entwicklung als Integrationswissenschaft eine fachliche Binnendifferenzierung erfahren, die von anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen bis heute entweder nicht wahrgenommen oder aufgrund der sich daraus ergebenden berechtigten Forderungen für die Ausgestaltung der Studiengänge als bedrohlich erlebt wird. Der Sprachbehindertenpädagoge oder Sprachtherapeut arbeitet mit zweijährigen Kindern, welche die Sprache nicht entdecken, in der Rehabilitation von Neugeborenen, die mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zur Welt kommen. Er sollte Fachmann sein für stotternde, schweigende (mutistische), spracherwerbs-, schriftsprach-, stimmgestörte und näselnde Kinder. In der Arbeit mit Erwachsenen benötigt er diagnostisches und therapeutisches Knowhow für unterschiedliche Formen zentraler Sprach- und Sprechstörungen sowie Stimm- und Stimmklangstörungen nicht nur als Folge von Hirnschlägen, sondern bei verschiedenen progressiven, neurologischen Erkrankungen. Da Spracherwerb und Sprachstörungen bei allen Behinderungsformen bedeutsam sind, sollte er Wissen über spezifische Probleme von Down-Syndrom-Kindern genauso haben wie über die Problematik bei cerebralbewegungsgestörten Kindern oder über Schriftsprachstörungen bei lernbehinderten Schülern u. v. m. Fröschels, ein Pionier der medizinischen Sprach- und Stimmheilkunde, sagte dazu: „Wer eine Sprachstörung nicht kennt, kennt keine.“ Soweit die Soll- Vorstellungen. In dieser Vision steckt zugegebenermaßen bereits die Gefahr einer Überforderung. Das letzte Jahrzehnt war in vielen Bereichen durch Konzepte der Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle geprägt. Nicht zuletzt als Folge der Pisa-Untersuchungsergebnisse wird heute Sprache als unverzichtbare Schlüsselkompetenz begriffen. Auf diesem Hintergrund muss es als Paradoxon der Zeitgeschichte erlebt werden, dass sich die Sprachbehindertenpädagogik in diesem Jahrzehnt wie vielleicht keine andere Fachrichtung von ihren Gründerzielen entfernt hat und dabei ist, sich wegen Inkompetenz wegzurationalisieren. Es wäre vermessen, eine umfassende Analyse dieses fachlichen Ausblutungsprozesses vorlegen zu wollen. Vielmehr versucht der Autor - stark biografisch geprägt - kritische Punkte anzusprechen, die er in den vergangenen drei Jahrzehnten in diesem vielleicht nicht mehr umkehrbaren Prozess selbst erlebt und erfahren hat. Spezialisierung als Gefährdung flexibler Schulpolitik - der Sonderpädagoge als eierlegende Wollmilchsau Seit sich in Deutschland im Bereich des Sonderschulwesens die kategoriale Organisationsform - früher nach primären Behinderungen, heute nach Förderschwerpunkten (Lernen, Sprache, Verhalten usw.) - herausgebildet hat, hätte es aufgrund geringer Steuerungsinstrumente in Studiengängen mit nur einem Förderschwerpunkt (Fachrichtung) ein Problem werden können, die jeweils für die spezialisierten Schulen notwendigen Stellen zu besetzen. Dieses Problem versuchte man dadurch zu entschärfen, dass die meisten Bundesländer im Lehramtsstudium zwei Fachrichtungen vorschrieben, in der Schulpraxis hingegen durchaus auch Lehrer in Förderschwerpunkten einsetzten, die sie nicht studiert hatten. Dies ist offensichtlich besser vertretbar als die gängige Praxis bei Sonderschullehrermangel, nicht dafür ausgebildete Grundschullehrer oder arbeitslose Gymnasiallehrer einzusetzen. Da- Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik VHN 1/ 2008 hinter muss in der Schulverwaltung immer der Traum einer sonderpädagogisch eierlegenden Wollmilchsau gestanden haben. So kam und kommt es immer wieder zu Versuchen, zum Beispiel in den sich oft im raschen Turnus abwechselnden Lehrer-Studien- und -Prüfungsordnungen, den Anteil der förderschwerpunktspezifischen Inhalte und Stunden zu kürzen zugunsten so genannter Basiskompetenzen wie zum Beispiel Beratung. Dabei wird billigend in Kauf genommen, dass derart ausgebildete beratende Lehrer nichts mehr über die spezifischen Probleme und Lösungsmöglichkeiten der Klientel wissen. Ein weiteres Problem ist bis heute die verwaltungstechnische Vorgabe, dass letztlich jede Fachrichtung im gleichen Umfang studiert werden muss, unabhängig davon, ob sie diese Semesterwochenstunden überhaupt für die Vermittlung ihrer wesentlichen Inhalte benötigt oder nicht. Auch dieses Problem löste man dadurch, dass man die Anzahl der fachrichtungsspezifischen Stunden kontinuierlich reduzierte, ohne Rücksicht auf Qualitätsverluste. Auch das Ungleichgewicht der im größeren Umfang studierten Hauptfachrichtung zur Nebenfachrichtung war schulpolitisch unerwünscht und wurde verschiedenenorts, z.B. an der Universität zu Köln, durch eine Gleichsetzung der beiden Fachrichtungen ersetzt, die damit bei genauer Analyse beide auf das Niveau einer Nebenfachrichtung heruntergefahren wurden. Das Axiom exemplarischen Lernens, das in den Lehramtsstudiengängen auch für die Unterrichtsfächer gilt, wurde hier bei den Fachrichtungen dadurch missachtet, dass sich der Student in keinem der beiden Bereiche mehr ein umfassendes und befriedigendes Wissen und eine berufliche Kompetenz erarbeiten kann. Der schulpolitisch gesteuerte Wunsch nach einem sonderpädagogischen Generalisten führt zur Unterbindung der Vermittlung notwendiger förderschwerpunktspezifischer Inhalte. Förderschulen als Spielball der Politik Nach dem fulminanten Aufbau der Sprachheilschulen (1992: ca. 230 in Deutschland) kam es nach 1994 im Zusammenhang mit der Umsetzung der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zu deren fortschreitender Auflösung. „Sprachheilschulen lösen sich im Gleichschritt mit dem Ausbau von Förderschulen, Förderzentren, Kooperationsklassen und Mobilen Sonderpädagogischen Diensten ohne Not, politisch erwünscht, mehr und mehr auf. Sie werden in ihrer klassischen Gestalt jetzt von ‚oben‘ negativ etikettiert, anstatt sie zum Kristallisationspunkt sonderpädagogischer Expertise zu machen“ (Baumgartner 2006, 270). Bremen hat bereits alle Sprachheilschulen aufgelöst. Auch in anderen Bundesländern hat das Sterben der Sprachheilschulen begonnen. Die Facetten dieses Sterbens sind unterschiedlich: In Rheinland-Pfalz werden Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache auf die Eingangsklassen 1 und 2 begrenzt, in Brandenburg werden nur noch Schüler ab der 3. Klasse aufgenommen. Der zunehmenden Anzahl von Schülern mit sprachlichem Förderbedarf begegnet man in Brandenburg mit dem Verbot, bei Schuleintritt den sonderpädagogischen Förderbedarf festzustellen, um „eine vorzeitige Selektion“ der Schüler zu verhindern. Die Gründe für das Sterben der Schulen sind weder vielfältig noch fachlich motiviert. Die ersten Anfänge am Ende der 1980er Jahre gingen zumeist auf den politischen Willen vorab der SPD-regierten Länder zurück, sich die Auflösung von Sondereinrichtungen auf dem Hintergrund der weitgehend emotional geführten Integrationsdebatte in ihre Wahlprogramme zu schreiben. Seit Mitte der 90er Jahre ist das Diktat leerer Kassen federführend für „Umstrukturierungen“. Die Etikette „Integration“ wurde jedoch beibehalten, auch wenn jetzt Integration vielfach für das Ausbleiben spezifischer Förderung steht. Damit hat „Integration“ vielleicht gute Chancen, Hans-Joachim Motsch VHN 1/ 2008 einmal zum Unwort des Jahres gekürt zu werden (Motsch 2005). Der Nutzen der Schulen für die sprachbehinderten Schüler, d. h. ihr Qualitätsstandard, die Effektivität ihrer therapeutischen Bemühungen, die sich daran messen lässt, wie sie dem Anspruch als Durchgangsschule gerecht werden, wurde nie als fachliches Kriterium für Gründungen oder Schließungen der Schulen ins Kalkül gezogen. Diese Beliebigkeit ihrer Existenz als Spielball fachfremder Entscheidungen und jenseits einer echten Qualitätskontrolle bescherte den Schulen einen Dornröschenschlaf fernab von ggf. peinliche Fragen stellenden Prinzen. Sich verschlechternde Statistiken der Überweisungsraten an Regelschulen nach zwei oder vier Jahren fanden durch den Hinweis aufeine sichverändernde Schülerklientel eine plausible Begründung. Schleichende Nivellierung fachlicher Qualität in der Schulpraxis Kann von Lehrern an Sprachheilschulen überhaupt hochwertige sprachtherapeutische Arbeit erwartet werden? Die skizzierten aktuellen Veränderungen der Lehrerprüfungsordnungen fahren die im Vergleich zu den Studienstandards von Sprachtherapeuten ohnehin sehr schmale sprachtherapeutische Vermittlungsbasis weiter zurück. Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache hatten unverzichtbar immer zwei Standbeine, neben dem sprachtherapeutischen Unterricht zusätzlich ausgewiesene Therapiestunden für die sprachbehinderten Kinder, die in Einzel- oder Gruppentherapie umgesetzt werden sollten. Der Sprachheillehrer hatte - wie vielleicht kein anderer Sonderpädagoge - die Chance, sowohl unterrichtlich als auch therapeutisch mit seinen Schülern zu arbeiten. Diese Chance wurde als Rollenkonflikt zur Dualismusproblematik hochstilisiert und von vielen Praktikern eher als Joch erlebt. In den letzten zehn Jahren wurde der Bereich der Therapiestunden immer mehr zurückgefahren. Der Unterrichtssicherstellung bei krankheits- oder weiterbildungsbedingten Lehrerausfällen wurde immer schon Priorität vor der Einzeltherapie eingeräumt, sodass dieTherapiestunden als Manövriermasse der Rektoren bei Unterrichtsausfällen herhalten müssen. Vielleicht liefert gerade diese Unterbewertung schulpolitische Argumente für die erfolgte Reduktion oder Streichung der Therapiestunden in den Stundentafeln der Lehrerschaft: von ehemals fünf Wochenstunden in Baden-Württemberg derzeit auf vier, auf zwei Stunden in Niedersachsen, auf null Stunden in bayrischen Förderzentren. Schulen, die in den letzten Jahren noch klassenübergreifende Therapieangebote in Kleingruppen realisierten, litten ohnehin daran, dass fast alle dieser sogenannten „Therapieangebote“ unspezifisch ausfielen (z. B. allgemeine Sprachförderung oder Rechtschreibförderung) und zum Teil auf dem Niveau von Nachhilfeunterricht gestaltet wurden. Die geringe Eigenmotivation von Sonderschullehrern, sich permanent weiterzubilden, ist sprichwörtlich. Das in verschiedenen Ländern neuerdings eingeführte Weiterbildungsobligatorium stieß auf wenig Gegenliebe in der Praxis. Sprachtherapie ist tot - es lebe die Sprachförderung Allzu gern und schnell hat man sich auf allen Ebenen vom Therapiebegriff getrennt, den manche Sonderpädagogen fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Mit dem Begriff der Förderung wurde eine unspezifische, substanzlose Leerformel als Ersatz hochgelobt, die nach Baumgartner (2006, 269) in die Restmülltonne gehört. Sprachliche Förderung ist ein Desiderat aller: der Regelpädagogik, der Regelschulen, aller Sonderschultypen, der Kitas, der Kindergärten. Die spezifische Professionalität eines Sprachbehindertenpäd- Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik VHN 1/ 2008 agogenkannsichnichtausdemFörderungsbegriff ableiten, wenn er nicht darüber hinausgehende spezifische diagnostische und therapeutische Methoden für die Sprachstörungen seiner Schülerschaft zur Verfügung hat. Nachdem gerade aber diese therapeutischen Angebote nur noch an wenigen Musterschulen mit qualitativem Standard nachgewiesen werden können, könnte sich die Hoffnung auf den seit 40 Jahren propagierten sprachtherapeutischen Unterricht richten. Gerade hier aber fehlen Effektivitätsnachweise. Studierende, die nach Orientierungspraktika von Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache zurückkommen, können häufig nicht ein Merkmal des Unterrichts nennen, das diesen Unterricht von normalem Unterricht unterscheidet. Sprachheillehrer, die Sprachbehindertenpädagogik als Hauptfachrichtung studiert hatten, hatten bisher die (eingeschränkte) Zulassung zur krankenkassenfinanzierten Sprachtherapie. Es ist bezeichnend, dass diesem Berufsstand diese Zulassung auf dem Hintergrund der bereits in den Studiengängen grundgelegten und in der Praxis nicht kompensierten fehlenden therapeutischen Kompetenz ab dem 1. Juli 2007 entzogen wurde. Universitäten als Erfüllungsgehilfen Die Hochschulen des Landes wurden Erfüllungsgehilfen der durch die Schulministerien vorgegebenen Lehrerprüfungsordnung, an deren Ausarbeitung sie oftmals nicht oder nur marginal beteiligt wurden. Begriffe wie Basiskompetenzen oder Querlagen erfreuten sich großer Beliebtheit, insbesondere bei Fachrichtungen, deren Binnendifferenzierung nicht das Ausmaß der Sprachbehindertenpädagogik erreichen muss. Die Sinnesgeschädigten- und die Sprachbehindertenpädagogik fanden sich oftmals in einem Lager gegenüber Vertretern der Geistig- und Lernbehindertenpädagogik, die im Abstimmungsverhalten unterstützt wurden durch die Querlagenprofessoren, die sich zunehmend aus Psychologie, Medizin, Soziologie, Kunst, Musik und Bewegung zusammensetzten.Heute ist es out,förderschwerpunktspezifisch zu argumentieren, wenn man nicht als ewig Gestriger verschrien werden will. In ist wahrscheinlich die „cross-kategoriale Sonderpädagogik“, in der die Förderschwerpunkte Sprache, Lernen und Verhalten zusammengekürzt werden. Die Modularisierung der Studiengänge, die sich in der Umstrukturierung in den top-down beschlossenen Bachelor- und Masterstudiengängen fortsetzt, beschleunigt den Prozess der Deprofessionalisierung. Lehrstuhlinhaber der Sprachbehindertenpädagogik empfehlen für diese Neustrukturierung in derLehrerausbildung einen Rückzug auf das „Kerngeschäft“, das sie mit der Vorbereitung auf die Arbeit mit spracherwerbsgestörten und schriftsprachgestörten Schülern definieren (Grohnfeldt/ Homburg 2006). Zum Kerngeschäft gehören nicht mehr die stotternden Kinder, die 1956 noch 70 % der Schülerschaft der Sprachheilschulen ausmachten, nicht Kinder mit Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, mit Poltern, Mutismus, Näseln oder kindlichen Stimmstörungen. Wird hier versucht, in einem Rückzugsgefecht aus der Not eine Tugend zu machen? Dann darf die Frage erlaubt sein, auf welchem qualitativen Standard wenigstens das Kerngeschäft studiert werden kann. Die Vorbereitung auf die unterrichtliche und therapeutische Arbeit mit schriftsprachgestörten Schülern ist im modularisierten Studiengang der Universität zu Köln ein Baustein mit zwei Semesterwochenstunden. Die Vorbereitung aufdie diagnostisch-therapeutische und unterrichtlicheTätigkeit mit spracherwerbsgestörten Kindern hingegen ist ein Wahlmodul mit drei Lehrveranstaltungen (6 SWS), das bei weitem nicht von allen Studierenden gewählt wird. Es werden also Lehrer/ innen an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache angestellt, die über Schriftsprachstörungen eine Lehrveranstaltung besuchen mussten, über spracherwerbsgestörte Schüler, die inzwischen etwa 90 % der Schülerschaft ausmachen, nichts gehört haben, wenn sie das Modul nicht gewählt Hans-Joachim Motsch VHN 1/ 2008 hatten, und über die Sprachstörungen, z. B. Stottern oder Mutismus, eine Basisinformation von insgesamt zweimal 90 Minuten besuchen konnten. Kontrastiv dazu steht der Vergleich mit der bereits 1980 vomVerband der heilpädagogischen Ausbildungsstätten der Schweiz verabschiedeten Rahmenordnung zur Ausbildung des Sprachheilpädagogen/ Logopäden: Darin wurden 1.600 Stunden spezifisch sprachbehindertenpädagogischer Lehre festgelegt. Dies entspricht etwa 110 SWS oder 55 Lehrveranstaltungen. Ein neuer Gag zur Unterbindung einer Qualitätskontrolle ist es, dass Studierende des Lehramtsstudiums in Köln keine eigentliche erste Lehramtsprüfung mehr abzulegen haben, in der sie sich über ein breites Wissen ausweisen müssten, das sie ohnehin in diesem Studium nicht erreichen könnten. Diese letzte Bremse vor dem Referendariat erfüllt heute eine Modulprüfung, bei der sich der Studierende für ein Modul seiner Wahl entscheiden kann und oftmals die Prüfung in nur einem Baustein des Moduls ablegt, der sich auf eine 2-Semesterwochenstunden-Veranstaltung bezieht. Auf diesem Hintergrund ist es zynisch, Eltern anzuraten oder sogar vorzuschreiben, ihre Kinder an Schulen zu geben, die das Etikett Förderschwerpunkt Sprache nicht mehr verdienen, weil dieser Lehrerschaft der Zukunft keinerlei spezifische Professionalität mehr zuzuschreiben ist. In diesem Fall wäre es konsequenter, alle Förderschulen mit dem Schwerpunkt Sprache aufzulösen und den Kindern dann gegebenenfalls eine qualifizierte Sprachtherapie zu ermöglichen. Exodus aus allen schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern Nach dem bereits begonnenen Exodus aus den schulischen Handlungsfeldern werden wir in der qualifizierten außerschulischen Sprachtherapie auch zunehmend weniger Sprachbehindertenpädagogen antreffen. Für die krankenkassenfinanzierte Sprachtherapie würde die Mehrzahl der an sonderpädagogischen Hochschulen ausgebildeten Absolventen ohnehin nur eine Teilzulassung schaffen, da nicht alle Bereiche der durch das deutsche Logopädengesetz rigide erbsenzählerisch vorgeschriebenen Stunden und Inhalte abgedeckt werden konnten. Zudem wird der Markt durch die immer noch auf Fachschulniveau ausgebildeten, abertausenden Logopäden und Logopädinnen abgedeckt, die zunehmend an privaten Fachschulen ausgebildet werden, die derzeit in Deutschland als Sammeltopf und „Resteverwertung“ einer nicht erfolgreichen Beschäftigungspolitik finanziert werden. Das heißt, alle Handwerker, die in ihren Berufen keine Anstellung finden, werden auf Kosten der Arbeitsagentur für Arbeit zu Logopäden umgeschult. Auf akademischem Niveau wird das Handlungsfeld außerschulischer Sprachtherapie zunehmend durch klinische Linguisten, Patholinguisten und klinische Sprechwissenschaftler besetzt, da sich die sonderpädagogischen Hochschulen nach dem Auslaufen der Diplomstudiengänge vielerorts schwer tun, die hohen Hürden der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge für die Sprachtherapie zu nehmen. Dafür sind personelle Verstärkungen, Kooperationen mit außeruniversitären Praktikumsstellen und vieles andere nötig. Derartige Vorhaben stoßen hochschulintern häufig nicht auf die Gegenliebe und Unterstützung der Fakultätskollegen, die der Notwendigkeit dieses Spezialistentums argwöhnisch gegenüberstehen und die Sprachbehindertenpädagogen lieber einbinden wollen in gemeinsame Bachelor- und Masterstudiengänge, die zu einem sonderpädagogischen Allrounder mit kleinen Schwerpunkten führen würden. Unbeachtet bleibt gern, dass diese Abschlüsse das Ziel verfehlen würden, eine Krankenkassenzulassung für die Absolventen im Bereich Sprachtherapie zu erreichen. Wenn Grohnfeldt (2007) schreibt, es sei zu erwarten, dass langfristig der Einfluss der Sprachheilpädagogik abnehmen werde, gehört er zu den Zweckoptimisten. Der Einfluss hat Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik VHN 1/ 2008 10 schon in der Vergangenheit und Gegenwart abgenommen und wird sich bereits mittelfristig dramatisch reduzieren. Es besteht die Gefahr, dass sich die akademische Sprachbehindertenpädagogik an Hochschulen und in den schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern verabschieden wird. Bologna-Manie Ein Beschleuniger dieser Entwicklung war - wie bereits erwähnt - der „Bologna-Prozess“. Warum Deutschland wie kein anderes Land auf diesen Zug der Internationalisierung aufgesprungen ist und gut eingeführte Studiengänge: Magister-, Diplom- oder auch die Lehramtsstudiengänge, mit lautem Hurra über Bord wirft, wird immer ein Rätsel bleiben. Oftmals werden ältere Studiengänge konzeptlos in neue Modulstrukturen gezwängt, ohne dass sich durch die mit leuchtenden Augen ausgesprochenen neudeutschen Wörter wie basics, mile stones, credit points und workloads irgendetwas verbessern würde. Das Gegenteil ist der Fall. Warum wollen die Deutschen immer die Internationalsten sein? Die mit Bologna verbundenen Hoffnungen werden sich nicht erfüllen. Obwohl wir dies bereits vor der endgültigen Umsetzung in Bachelor- und Masterstudiengänge wissen, wird der Weg eisern fortgesetzt. So hat Herz (2007)bezogen aufdie gesamte Sonderpädagogik festgestellt, dass die bisher hohe Durchlässigkeit bei Studienortwechseln durch Mobilitätshürden in den neuen Studiengängen ersetzt wird. Die Studiengänge selbst haben unterschiedliche Semesterlängen, die Module unterschiedliche inhaltliche Schwerpunktsetzungen, die Leistungspunkte stimmen nicht überein. Herz kommt ebenfalls zum Schluss, dass der Bologna- Prozess zu einer Verschulung der universitären Lehre geführt hat und führen wird, mit der Konsequenz der Deprofessionalisierung. Bezogen auf alle sonderpädagogischen Studiengänge konstatiert sie, dass die fachwissenschaftliche Qualifikation hinter den Standard bisheriger Aufbaustudiengänge zurückfallen wird. Sie meint, dass die Sonderpädagogik durch die Umstrukturierung geschwächt wird, die fachwissenschaftliche Vielfalt und Forschungsexzellenz leidet, es zu Stellenstreichungen und zur Abwicklung von Studienstätten kommen wird. Letztlich befürchtet sie eine Verstärkung der gesellschaftlichen Ausgrenzung der sonderpädagogischen Klientel. Stört das jemand? Hauptsache, wir bleiben die Internationalsten, bis zu einem Finale, nach dem uns wegen Unprofessionalität niemand mehr braucht. Literatur Baumgartner, S. (2006): Sprachtherapie und Sprachförderung im Unterricht: Kritische Analyse und Konzeptbildung. In: Die Sprachheilarbeit 51, 268 - 277 Dupuis, G. (1984): Sprachbehindertenpädagogik. In: Solarová, S.(Hrsg.): Geschichte der Sonderpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer Grohnfeldt, M.; Homburg, G. (2006): Empfehlungen für das Bachelor-/ Master-Studium: Lehramt für den Förderschwerpunkt Sprache (Sprachheillehrer). In: Die Sprachheilarbeit 51, 186 - 189 Grohnfeldt, M. (2007): Die Sprachheilpädagogik im demographischen Wandel. In: Die Sprachheilarbeit 52, 94 - 95 Herz, B. (2007): Bringt „Bologna“ wirklich eine Harmonisierung der Studiengänge? In: VHN 76, 267 - 271 Motsch, H.-J. (2005): Kontextoptimierter Unterricht an der Schule für Sprachbehinderte. In: Arnoldy, P.; Traub, B. (Hrsg.): Sprachentwicklungsstörungen. Früh erkennen und behandeln. Karlsruhe: Von Loeper Verlag, 195 - 209 Prof. Dr. Hans-Joachim Motsch Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Department für Heilpädagogik und Rehabilitation Klosterstraße 79 b D-50931 Köln E-Mail: j.motsch@uni-koeln.de Hans-Joachim Motsch