eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Persönlichkeitsstörungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung - eine Herausforderung für die Behindertenhilfe

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2008
Georg Theunissen
Früher war von Psychopathie die Rede, heute wird von Persönlichkeitsstörungen gesprochen. Dennoch ist das Konzept der Persönlichkeitsstörungen angesichts seiner Normabhängigkeit nach wie vor umstritten. Dennoch werden in jüngster Zeit Menschen mit intellektueller Behinderung immer häufiger Persönlichkeitsstörungen nachgesagt. Der Beitrag greift diese Entwicklung auf, reflektiert das Konzept der Persönlichkeitsstörungen und befasst sich mit Konsequenzen für die Praxis.
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23 Fachbeitrag Seit einiger Zeit nehmen Stimmen aus dem Lager der Träger sowie unmittelbar aus Wohneinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen zu, die einen Wandel der Klientel der Geistigbehindertenhilfe konstatieren. Immer häufiger würden Erwachsene in Wohnheimen, betreuten Außenwohnungen und vor allem in Werkstätten aufgenommen, die „eigentlich nicht geistig behindert“ seien. Gemeint sind damit vor allem Personen, die einst zum sogenannten harten Kern der Psychiatrie zählten und noch heute mitunter als „Gegentypus des in der klassischen Psychotherapie immer noch favorisierten YARVIS-Patienten (Young, Attractive, Rich, Verbal, Intelligent, Social) betrachtet werden“ (Lotz/ Koch/ Stahl 1994, 7). Viele dieser Personen gelten als leicht geistig behindert, lernbehindert oder auch seelisch behindert, zudem als unterprivilegiert, benachteiligt, sozial schwach und milieugeschädigt. Ferner werden ihnen zum Teil erhebliche soziale Anpassungsstörungen, dissoziale Verhaltensweisen und Verwahrlosungstendenzen wie auch spezifische, pathologisch anmutende Verhaltensbesonderheiten nachgesagt (dazu auch Huber 2005, 425ff, 583). Gerade mit dieser Verhaltensproblematik, die kein eindeutiges psychiatrisches Krankheitsbild aufweist, tun sich viele in der Praxis Tätige schwer. Nicht wenige Mitarbeiter/ innen an der Basis stehen den sozialen Auffälligkeiten recht hilflos, ja, ohnmächtig gegenüber, fühlen sich überfordert und wünschen sich Konzepte und Anregungen für einen adäquaten Umgang mit den Betroffenen sowie Unterstützung durch pädagogische und therapeutische Fachdienste. Persönlichkeitsstörungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung - eine Herausforderung für die Behindertenhilfe Georg Theunissen Universität Halle-Wittenberg n Zusammenfassung: Früher war von Psychopathie die Rede, heute wird von Persönlichkeitsstörungen gesprochen. Dennoch ist das Konzept der Persönlichkeitsstörungen angesichts seiner Normabhängigkeit nach wie vor umstritten. Dennoch werden in jüngster Zeit Menschen mitintellektueller Behinderung immer häufiger Persönlichkeitsstörungen nachgesagt. Der Beitrag greift diese Entwicklung auf, reflektiert das Konzept der Persönlichkeitsstörungen und befasst sich mit Konsequenzen für die Praxis. Schlüsselbegriffe: Intellektuelle Behinderung, Persönlichkeitsstörungen, kontextbezogene Therapie Personality Disorders in People with Intellectual Disabilities - A Challenge for Special Assistance for the Handicapped n Summary: In former times, people with mild intellectual disabilities and/ or difficulties in their social behaviour have been labelled “psychopathic personalities”, today they are regarded as being people with personality disorders. Though the concept of personality disorders is still quite controversial due to its normative focus, this trend becomes more and more popular. The author takes a closer look at this development, he reflects on the concept of personality disorders and deals with the consequences for practice. Keywords: Intellectual disabilities, personality disorders, context-oriented therapy VHN, 77. Jg., S. 23 - 34 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel VHN 1/ 2008 24 1 Von der Psychopathie zu Persönlichkeitsstörungen Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Personen mit dem zuvor beschriebenen Persönlichkeitsbild zumeist als „Psychopathen“ oder „psychopathische Persönlichkeiten“ bezeichnet (Kraepelin 1915; Heller 1925; Schneider 1973). Mit diesen (Ober-)Begriffen sollten sämtliche Formen eines „abnormen Charakters", zum Beispiel Eigenschaften wie leichte Erregbarkeit, Haltlosigkeit, Faulheit, Geltungssucht, Gemütskälte, Beziehungsunfähigkeit oder „krankhaftes Lügen“, „seelische Abnormitäten“, „abnorme Varianten menschlichen Lebens“, „Entartungen“, „Abartigkeiten“ und insbesondere „Querulantentum“, soziale Verwahrlosung, sexuelle Triebhaftigkeit, Asozialität und Delinquenz (Kriminalität) erfasst werden. Ursächlich wurde dabei auf Vererbungsfaktoren oder disharmonische Anlagen, häufig in Verbindung mit intellektuellen und moralischen Schwächezuständen, verwiesen, und es wurde davon ausgegangen, dass solche „psychischen Entartungen" bei „Schwachsinn" kaum beeinflussbar seien (Schneider 1973, 67, 70; auch Fiedler 2001, 21). Diese Vorstellungen waren nicht nur in der Psychiatrie, sondern ebenso in der Heilpädagogik weit verbreitet (z. B. Heller 1925; Scholz- Ehrsam 1967, 65ff; Meinertz/ Kausen 1975, 51). Im Schlepptau der Psychiatrie schloss sie sich ungeniert der Annahme „krankhafter psychischer Zustände“ (Heller 1925, 707) bzw. einer „psychopathologischen Veranlagung“ sowie dem damit verknüpften Dogma der „Unerziehbarkeit“ an, welches gleichfalls im Lager der psychoanalytischen Verwahrlosungsforschung und Fürsorgeerziehung bestimmend war. So hielt beispielsweise Aichhorn (zit. n. Perner 2001, 74) „asoziale Imbezille“ und „Affektgestörte“ für „unerziehbar“ (dazu kritisch auch Fiedler 2001, 232). Welche Auswirkungen solche Positionen zur Zeit des Nationalsozialismus hatten, dürfte wohl hinlänglich bekannt sein (Klee 1983). Dass und wie diese Ansichten bis heute nachwirken, ist einigen Lehrbüchern der Psychiatrie zu entnehmen (vgl. Huber 1994, 398ff; 2005, 425ff; 583). Noch Ende der 1970er Jahre gingen Weitbrecht und Glatzel (1979, 150) davon aus, dass nicht nur „Schwachsinnige“ mit „psychopathischen Wesenszügen“ vor gesellschaftlichen Gefahren (z. B. sexuellem Missbrauch) geschützt, sondern dass ebenso die Gesellschaft und ihre Bürger vor diesen Personen geschützt werden müssen, „zumal vor allem leicht Schwachsinnige einen beträchtlichen Prozentsatz der Dis- und Antisozialen stellen. Dabei handelt es sich je nach Temperament bei männlichen Jugendlichen um arbeitsscheue Bummler und Landstreicher, um Gelegenheitsdiebe, aber auch um willfährige Handlanger bei schweren Verbrechen; außerdem werden von Schwachsinnigen nicht selten Sexualdelikte und -verbrechen … begangen. Hinzutretender chronischer Alkoholismus spielt eine erhebliche Rolle. Weibliche schwachsinnige Jugendliche leichteren Grades stellen bei einigermaßen passablem Aussehen einen hohen Anteil der Prostituierten niedrigen Ranges." Es ist das Verdienst der anti- und sozialpsychiatrischen Bewegungen Ende der 1960er Jahre, diese dunklen Seiten des Psychopathie-Konzepts, vor allem die Denunzierung, Stigmatisierung und Kasernierung Betroffener, die Verquickung der Diagnose „Psychopathie“ mit gesellschaftlichen Normen und Werten sowie den Normanwendungsprozess schonungslos aufgezeigt zu haben. Die Kritik führte im Lager der Anti- und Sozialpsychiatrie nicht nur zu einer Ablehnung der diskriminierenden Begriffe, sondern zugleich auch zu einer Abweisung der gesamten Psychopathie-Konzeption. Dieser Schritt ging allerdings der etablierten Psychiatrie zu weit, die bis heute „die sozial-wertende und moralisierende Verbindung von Psychopathie mit Minderwertigkeit und Gesellschaftsfeindlichkeit“ (Fiedler 2001, 17) weithin leugnet, indem sie die Wertfreiheit des Psychopathie-Begriffs verteidigt (Haring 2004, 153; Huber 2005, 425). Durch ihren Einfluss Georg Theunissen VHN 1/ 2008 25 wurde zudem in der forensischen Begutachtung an der traditionellen Begrifflichkeit, Denk- und Handlungsfigur lange Zeit festgehalten (vgl. Fiedler 2001, 5), und bis heute stoßen wir in Gesetzestexten (§§ 19 - 21 StGB) auf eine Terminologie, die sich in ähnlichen Bahnen bewegt und uns einen Veränderungsbedarf vor Augen führt. Seit den 1980er Jahren ist nunmehr festzustellen, dass in kritischer Distanz zum traditionellen medizinisch-psychiatrischen Modell (dazu Keupp 1972; Theunissen 2000) die grundsätzlichen Bedenken zugunsten eines Perspektivenwechsels „von den Persönlichkeitseigenschaften in Richtung Persönlichkeitsstörung“ (Fiedler 2001, 6) allmählich aufgegeben werden. Diese Entwicklung ist durch internationale, interdisziplinäre Diskussionen maßgeblich befördert worden und hat vor einigen Jahren zur Einführung des Begriffs der „Persönlichkeitsstörungen“ (personality disorders) in den beiden weltweit anerkannten psychiatrischen Diagnosebzw. Klassifikationssystemen DSM-IV (APA 1996) und ICD-10 (Dilling u. a. 1993) geführt. Zwar weisen die in beiden Systemen (ICD-10 Kategorie F 6; F 60; DSM-IV Kategorie 301) ausgewiesenen Persönlichkeitsstörungen zum Teil frappierende Ähnlichkeiten mit den klassischen Symptombeschreibungen der „psychopathischen Persönlichkeiten“ auf, doch kommt mit dem Schlüsselbegriff der Störung eine neue Dimension ins Spiel, indem Entwicklungs- und Interaktionsaspekte für die Einschätzung eines Persönlichkeitsstils und spezifischer Persönlichkeitsprobleme im Erwachsenenalter besondere Beachtung finden. Persönlichkeitsstörungen gelten diesbezüglich vorrangig als „Störungen des zwischenmenschlichen Beziehungsverhaltens“ (Fiedler 2001, 30), die mit spezifischen Störungen der Emotionalität, der Realitätswahrnehmung, der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung sowie der Impuls- und Selbstkontrolle eng verknüpft sein (ebd., 538f ) und zu beruflichen Anpassungsschwierigkeiten führen können (Rahn/ Mahnkopf 2005, 475). Dabei wird auf stabil anmutende, lang andauernde Verhaltens- und Erlebensmuster verwiesen, deren Entstehung im Einzelfall bis in die Kindheit zurückverfolgt werden kann. Nach dem heutigen Stand der Forschung werden Persönlichkeitsstörungen nicht monokausal betrachtet und erklärt (Vererbung, Veranlagung o. Ä.), sondern es wird ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren angenommen, die innerhalb und außerhalb der Person liegen (Bohus u. a. 1999; Bronisch 2001; Rahn/ Mahnkopf 2005). Ein Erklärungsmodell, das zur Zeit viel Zuspruch erfährt, ist das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell (Fiedler 2001, 156ff; Rahn/ Mahnkopf 2005, 476). Ausgangspunkt einer ungünstigen Persönlichkeitsentwicklung ist demnach eine Vulnerabilität, die von einer diathetischen Prädisposition (z. B. frühkindliche Hirnschädigung, genetische Faktoren, prä-, peri- und postnatale Traumata) und einer psychosozialen Prädisposition (z. B. chronische Belastungen in der frühen Kindheit, längere Krankenhaus- oder frühe Heimaufenthalte, häufiger Wechsel von Bezugspersonen, ungünstige familiäre Bedingungen, Kindesmisshandlungen) abhängt. Ob es zu Persönlichkeitsstörungen kommt, hängt davon ab, wie ein Betroffener die jeweiligen Situationen und (alltäglichen) Anforderungen wahrnimmt, bewertet und bewältigt, wobei das Zusammenwirken individueller (v. a. Coping) und sozialer Ressourcen (z. B. Verfügbarkeit eines haltgebenden Netzwerks) eine entscheidende Rolle spielt. Individuelle „(Problem)verhaltensweisen von Jugendlichen und Erwachsenen werden unter dieser Perspektive als individuelle Eigenarten oder sogar als Kompetenzen verstehbar, auf psychosoziale Anforderungen, einschneidende Lebensereignisse oder zwischenmenschliche Krisen sich selbst schützend zu reagieren“ (Fiedler 2002, 148). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass wir es im Falle von Persönlichkeitsstörungen mit Zuschreibungen zu tun haben, da die Gren- Persönlichkeitsstörungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung VHN 1/ 2008 26 zen zwischen psychischer Störung und Gesundheit, sozialer Anpassung und Abweichung (Devianz), zwischen einem vernünftigen und unvernünftigen Verhalten fließend sind, so dass einerseits Übergänge von Persönlichkeitsstörungen zu einer psychischen Erkrankung nicht ausgeschlossen werden dürfen und andererseits „zwischen normalen Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen ein gradueller und kein grundsätzlicher Unterschied besteht“ (Fiedler 2001, 544). Damit stoßen wir auf die prinzipielle Schwierigkeit, Persönlichkeitsstörungen exakt zu bestimmen. Sie hängt damit zusammen, dass die Einschätzung eines Verhaltens und Erlebens als Ausdruck einer „gestörten Persönlichkeit“ in starkem Maße norm- und kulturabhängig ist (Keupp 1999, 613), sich an dem bemisst, was ein Beobachter als normabweichend oder sozial unerwünscht erlebt und einstuft. Solche Beobachtungen erfolgen gerade bei Persönlichkeitsstörungen in der Regel aus der Außenperspektive, indem sich nicht etwa Betroffene über ihr Verhalten und Erleben beklagen (Fiedler 2001, 7, 35f ). Vielmehr erlebt die Gesellschaft (repräsentiert durch Lehrer, Betreuer, Geschäftsleute, Arbeitgeber u. a.) ein bestimmtes Verhalten, welches ihren Norm- oder Wertvorstellungen widerspricht, als leidvoll. Es wird nicht akzeptiert und folglich als dysfunktional wahrgenommen. Daher sollten wir es vermeiden, Persönlichkeitsstörungen als objektive Sachverhalte anzusehen. Diese Position schimmert letztlich auch bei Fiedler (2001, 9, 39, 537) durch, der unmissverständlich vor einer leichtfertigen Diagnose einer bestimmten Persönlichkeitsstörung warnt: Die Diagnose Persönlichkeitsstörungen „sollte erst gestellt werden, wenn sich die zwischenmenschlichen Beziehungsstörungen der Betroffenen in der Weise extremisieren, dass die berufliche und private Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist und wenn diese Beeinträchtigungen zu subjektiven Beschwernissen führen“ (ebd., 36). 2 Persönlichkeitsstörungen unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit intellektueller Behinderung Angesichts der Beurteilungsproblematik ist es nahezu unmöglich, verlässliche epidemiologische Angaben zu machen. Zudem stimmen ICD-10 und DSM-IV hinsichtlich Anzahl, Einteilung und Bezeichnungen von Persönlichkeitsstörungen nicht völlig überein (vgl. die Gegenüberstellung in Fiedler 2001, 44). In der Allgemeinbevölkerung scheint einschlägigen Studien zufolge die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen zwischen 5,9 und 17,9 % zu liegen (Bronisch 2005, 1604; Gelder/ Harrison/ Lowen 2006, 141). Bei Menschen mit intellektueller Behinderung (< IQ 75) werden hingegen höhere Werte angegeben (Khan/ Cowan/ Roy 1997, 324). So nennen Deb u. a. (2001, 98) 22 - 27 %, und manche Raten reichen sogar bis 92 % (Lidher u. a. 2005, 845). Dabei scheint der Anteil an Personen aus einem sozial schwachen bzw. benachteiligten Milieu recht hoch zu sein. Nicht selten wird in dem Zusammenhang auf eine enge Verbindung zur sog. anti- oder dissozialen Persönlichkeitsstörung verwiesen (vgl. Dickson/ Emerson/ Hatton 2005, 823). Allerdings sind auch hierzu verlässliche Daten schwer zu ermitteln. So fand Leygraf (1988) zum Beispiel im Rahmen seiner bundesweiten Untersuchung zur Häufigkeit geistig behinderter Menschen im psychiatrischen Maßregelvollzug heraus, dass die Diagnose „intellektuelle Behinderung mit deutlichen Verhaltensstörungen“ in 68,3 % der Fälle in den Kliniken geändert wurde. Meistens lautete dann die Diagnose „Persönlichkeitsstörung mit Minderbegabung“ (Knapheide 2000, 7). Grundsätzlich erschweren Symptomüberlappungen bei Persönlichkeitsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und intellektueller Behinderung die Diagnostik (Deb u. a. 2001, 98f ). Nach Khan/ Cowan/ Roy (1997, 328) sei es besonders schwierig, die „dependente Persönlichkeitsstörung“ von „behinderungsspezifischen Georg Theunissen VHN 1/ 2008 27 Erscheinungsformen“ abzugrenzen. Zudem lässt sich aufgrund spezifischer Kommunikationsprobleme (z. B. unzureichende Selbstauskünfte) bei Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen die Diagnose „Persönlichkeitsstörungen“ kaum stellen (Alexander/ Cooray 2003, 28, 30). Davon abgesehen können bei Menschen mit intellektueller Behinderung genauso wie bei nichtbehinderten Personen alle Varianten an Persönlichkeitsstörungen auftreten (Lidher u. a. 2005, 847). Diese werden heutzutage häufig in drei Cluster bzw. Hauptgruppen unterteilt (Bronisch 2005; Rahn/ Mahnkopf 2005; Fiedler 2001, 45ff ), welche im Folgenden mit je zwei Beispielen illustriert werden. Hauptgruppe A: sonderbar und exzentrisch (paranoide, schizoide und schizotypische Persönlichkeitsstörung) Beispiel Herr F.: Herr F., 37 Jahre alt, war nach Abschluss der Hilfsschule zunächst auf dem Bau tätig. Dort kam es öfters zu Streitigkeiten mit Kollegen, die ihm immer wieder ein zu langsames Arbeiten, Faulheit und auch Unkollegialität vorwarfen. Herr F. stritt die Vorwürfe stets ab, wurde jedoch wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft und Uneinsichtigkeit entlassen. Nach mehreren gescheiterten Jobs als Gelegenheitsarbeiter zog er ein Jahr lang als Nichtsesshafter durch die Gegend, bevor er in einem völlig verwahrlosten und stark alkoholisierten Zustand in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Dort lebte er ein halbes Jahr auf einer Rehabilitationsstation. Sämtliche Bemühungen, ihn in die Beschäftigungs- oder Arbeitstherapie oder in eine Werkstatt für behinderte Menschen zu integrieren, scheiterten. Zudem geriet er immer wieder mit Mitarbeitern und Mitbewohnern in Streit, von denen er sich belästigt und bedrängt fühlte. Herr F. wollte stets in Ruhe gelassen werden. Sämtliche Gruppenabsprachen wie auch Gruppenaktivitäten oder Zurechtweisungen von Mitarbeitern schienen ihm emotional gleichgültig zu sein. Erst ein Umzug in eine eigene Ein-Zimmer- Wohnung mit aufsuchender Hilfe, der mit einer zeitlich weithin selbstbestimmten Arbeit in einem Pferdestall verbunden war, führte zu einer deutlichen Entspannung und ebnete den Weg zu einem konfliktfreien Leben. Herrn F. wurden neben einer „leichten Intelligenzminderung“ (F70 nach ICD-10) und „schizoiden Persönlichkeitsstörung“ (F60.1) Tendenzen zur Verwahrlosung (Dissozialität) nachgesagt. Beispiel Frau S.: Frau S., 47 Jahre alt, als lernbehindert eingeschätzt, erledigt in ihrer Wohngruppe die alltäglich anfallenden Arbeiten sehr zuverlässig und gewissenhaft, trotzdem gilt sie als unbeliebt, wirft anderen tagsüber sehr oft böse Blicke zu, zeigt zumeist einen verfinsterten Gesichtsausdruck, fühlt sich von anderen nicht selten ausgenutzt, ständig beobachtet, bedrängt oder verfolgt, wird von ihren Mitarbeiterinnen als „Einzelgängerin und Querulantin“ beschrieben, die immer wieder durch Rechthaberei eine schlechte Stimmung verbreiten würde. Besonders auffällig sei ihr Misstrauen gegenüber Besuchern der Wohngruppe, die sie zumeist nicht hineinließe, befragen würde, ob sie von der Polizei seien und wen sie jetzt abholen wollten. Dabei nennt sie oft andere Mitbewohnerinnen, die einen schlechten Charakter hätten, ihr gegenüber hinterhältig seien und aus der Gruppe müssten. Zugleich beschwert sie sich aber auch darüber, dass sie von ihren Mitarbeitern schlecht behandelt würde. Dem Personal gegenüber versucht sie dagegen in solchen Situationen glaubhaft zu machen, dass man gegenüber den Besuchern vorsichtig sein müsse, dass es „böse Menschen“ sein könnten, die gleichfalls hinterhältig seien. Wird sie in solchen Situationen abgewiesen, glaubt sie an eine Verschwörung und schließt sich für eine Weile bis zum Weggang der Besucher in ihr Zimmer ein. Aber auch ein freundliches Eingehen wird nicht selten als ein Täuschungsmanöver ausgelegt, dem sie sich dann rechthaberisch durch Einschließen in ihr Zimmer zu entziehen versucht. Nach etwa zwei Jahren stärkenorientierter Beziehungsarbeit konnte eine wesentliche Verbesserung in ihrem Verhalten und Erleben erreicht werden. Hauptgruppe B: dramatisch, emotional und launisch (anti- oder dissoziale, histrionische, narzisstische, depressive Persönlichkeitsstörung, emotional instabile vom impulsiven Typ und Borderline-Typus) Persönlichkeitsstörungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung VHN 1/ 2008 28 Beispiel Herr S.: Herr S., 30 Jahre alt, wohnte bis zum 25. Lebensjahr bei seinen Eltern. Seitdem lebt er in einem Wohnheim für behinderte Menschen. Wenngleich Herr S. Mitarbeiter einer Werkstatt für behinderte Menschen ist, geht er seiner Arbeit sehr unregelmäßig nach, nicht selten zieht er es vor, am Morgen früh anstatt zur Arbeitsstätte in die Stadt zu fahren, sich tagsüber auf dem Marktplatz aufzuhalten und sich mit Bauern, Brot- oder Imbissverkäufern über Welt- und lokale Tagesereignisse zu unterhalten. Dabei macht er immer einen sehr informierten und sachkundigen Eindruck, den er mit bestimmten Redewendungen und einer lauten Stimme und aufdringlichen Art geschickt zu verstärken weiß. Vor allem Menschen, die ihn nicht näher kennen, scheint er damit zu imponieren. Kommt er mit Marktbesuchern oder Kunden ins Gespräch, wechselt er zumeist nach einer kurzen Einschätzung der Weltlage und bestimmter lokaler Alltagsgeschehnisse (Unfall o. Ä.) das Thema, indem er in aller Ausführlichkeit und in aufdringlicher Art, die auf Dauer von vielen, insbesondere von den Standverkäufern, als belästigend erlebt wird, Kaufempfehlungen gibt und dabei eine Allwissenheit vortäuscht. Schon mehrfach wurden diesbezüglich an das Wohnheim Beschwerden herangetragen. Ähnlich verhält sich Herr S. auch in der Werkstatt für behinderte Menschen. Dort tritt er gegenüber den Gruppenleitern als ein ständiger Informant auf und glaubt, aufgrund seines Wissens und Leistungsvermögens Vergünstigungen haben zu dürfen. Den meisten anderen behinderten Arbeitnehmern ist er nicht nur sprachlich, sondern auch arbeitsmäßig überlegen, indem er innerhalb kürzester Zeit Arbeitsprodukte erbringt, für die andere einen ganzen Tag benötigen. Aufgrund dieser „Überlegenheit“ wird sein häufiges Fehlen in der Werkstatt für behinderte Menschen stillschweigend geduldet, und es wird ihm tatsächlich ein Sonderstatus eingeräumt. Zu guter Letzt sei erwähnt, dass Herr S. an Wochenenden gerne in der Stadt als „Ordnungshüter“ und bei dem alljährlichen Schützenfest als „Dirigent“ und „Sänger“ auftritt. Das aber wird zumeist von den Veranstaltern nicht geduldet. Daraufhin hatte Herr S. in der Vergangenheit schon mehrfach mit depressiven Verstimmungen und Aggressionen reagiert. Zunächst wurde Herrn S. eine „histrionische“ (tiefgreifende, übertriebene Emotionalität, übermäßiges Streben nach Aufmerksamkeit), später eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ zusätzlich zu seiner intellektuellen Behinderung (IQ 73) nachgesagt. Beispiel Frau D.: Frau D., 28 Jahre alt, lebt in einer großen Behindertenanstalt und arbeitet in der Werkstatt für behinderte Menschen. Zumeist hält sie sich nach der Arbeit und an den Wochenenden auf einer Bank in der Nähe der Eingangspforte zum Anstaltsgelände auf und versucht durch ihr Aussehen (lackierte Fingernägel, große Ohrringe, auffallende, ausgefallene Kleidung ...) sowie durch das Ansprechen von Besuchern, Spaziergängern oder auch bekannten Personen (Bewohner/ Personal) die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Fühlt sie sich zu wenig beachtet und bewundert, wird sie aufdringlich, indem sie die Nähe der anderen sucht und dabei auf ihr Äußeres durch gezieltes Nachfragen (Wie finden Sie mein neues Täschchen? Ist das nicht schön! Haben Sie auch ein solches Täschchen? Das ist aber nicht so schön wie meins …) hinweist. Bei jeder Form von Missachtung, Abweisung oder auch Zurechtweisung zieht sie sich gekränkt, beleidigt, laut schimpfend und gestikulierend zurück. Nicht selten kommt es in solchen Situationen vor, dass sie den diensthabenden Arzt aufsucht, dem sie nicht nur diffuse körperliche Schmerzen vorspielt, sondern auch diverse Beschwerden vorträgt (z. B. über Streitigkeiten mit Bewohnern, Bösartigkeiten oder Fehlverhaltensweisen von Mitarbeitern). Dabei legt sie großen Wert auf eine Bestrafung der anderen. In der Regel lässt sie sich durch Zuhören und einfühlendes, gutes Zureden beruhigen und beeinflussen. Bei Frau D. wurde eine „leichte Intelligenzminderung“ und „histrionische Persönlichkeitsstörung“ diagnostiziert. Hauptgruppe C: ängstlich und furchtsam (vermeidende, dependente, zwanghafte und passivaggressive Persönlichkeitsstörung) Beispiel Herr J.: Herr J., 47 Jahre alt, als mittelgradig geistig behindert eingestuft, anfallsgefährdet und körperbehindert (sog. Klumpfuß), wurde in seiner Kindheit überbehütet und überversorgt. Aufgrund des Todes seiner Mutter kam er im Alter von 22 Jahren in ein Wohnheim für behinderte Menschen. Dort wurde er ähnlich wie zuvor schon in der Fördergruppe einer Werkstatt für behinderte Menschen von Beginn an Georg Theunissen VHN 1/ 2008 29 als ausgesprochen unselbstständig, hilflos, ängstlich und „mitarbeiterfixiert“ erlebt, indem er ständig die Nähe eines Betreuers suchte und in allen Verrichtungen des alltäglichen Lebens versorgt werden wollte. Wurde er vonseiten des Personals ab- und auch zurechtgewiesen, reagierte er für wenige Minuten tief beleidigt, weinerlich oder auch aggressiv (mit Schreien, Schlagen anderer). Danach gab er sich für eine Weile zunächst überangepasst und unterwürfig, hing dann aber wieder quasi „klettenhaft“ an einem Mitarbeiter, um Aufmerksamkeit und bestimmte Hilfen zu bekommen. Forderte man ihn auf, etwas selbst zu tun oder auch selbst Entscheidungen zu treffen, ging er zunächst immer darauf ein. Jedoch zeigte er bei all seinem Tun nur wenig Selbstvertrauen, ein ausgesprochen geringes Maß an Ausdauer und auch Konzentrationsschwierigkeiten, was in der Regel zum Abbruch seiner Handlungen und zu einem erneuten Hilfegesuch an seine Mitarbeiter führte. In den Augen des Personals galt er als aufdringlich, „lästig, klebrig und distanzlos“. Herrn J. wurde eine „dependente Persönlichkeitsstörung“ (DSM-IV) nachgesagt. Beispiel Herr L.: Herr L., der in einem Wohnheim für lern- und geistig behinderte Menschen lebt, wurde von seinen Mitarbeitern als Einzelgänger und Asket, als rigide, verkrampft, unflexibel, psychisch gehemmt, sparsam, überangepasst, sozial unsicher und ängstlich wahrgenommen und beschrieben. Zudem wurde ihm ein ausgeprägtes zwanghaftes Verhalten nachgesagt, das sich auf alle Verrichtungen des alltäglichen Lebens bis hin zu seinem Arbeitsverhalten erstreckte. Jeder Tag musste immer nach ganz bestimmten Regeln und Konventionen, einem eng gestrickten Organisationsschema und Zeitplan ablaufen, alles musste seine Ordnung haben, jedes Ding an der richtigen Stelle liegen bzw. nach Gebrauch wieder richtig platziert werden. Das alles wurde täglich von Herrn L. kontrolliert und ggf. korrigiert; zudem wurden von ihm sehr oft die alltäglichen Hausarbeiten und Aufgaben in der Gruppe überwacht, und oftmals kam es vor, dass er bereits erledigte Küchenarbeiten abends noch einmal aufgriff und nachbesserte. Dabei verzichtete er stets auf abendliche Freizeitaktivitäten oder ein geselliges Zusammensein in der Gruppe. Versuchten ihn die Mitarbeiter von seinem Nacharbeiten abzuhalten, reagierte er beleidigt mit Schimpfen, mitunter auch mit Tritten oder Ohrfeigen. Dabei versuchte er immer wieder die Mitarbeiter zu überzeugen, dass sich die anderen zu wenig Mühe geben würden, dass die Alltagsarbeiten mangel- und fehlerhaft erledigt würden und dass er für die Wohngruppe unentbehrlich sei, um chaotische Zustände zu verhindern. Fühlte er sich von den Mitarbeitern zu wenig beachtet und wertgeschätzt, geriet er mitunter in eine akute psychische Krise (Stress), indem er einen ausgesprochen verwirrten, desorientierten Eindruck machte. Es dauerte mehrere Jahre, bis Herr L. flexibler, physisch-psychisch ausgeglichener, kommunikationsfreundlicher und sozial offener erlebt wurde. Den Beispielen ist unschwer zu entnehmen, dass Menschen, denen eine Persönlichkeitsstörung nachgesagt wird, zumeist mit über- oder unterentwickelten Verhaltensmustern imponieren (Beck/ Freeman 1993, 36ff ): n Herr F. mit einer hohen Isolierungstendenz und einer mangelnden sozialen Autonomie, einer mangelnden Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation; n Frau S. mit einem übermäßigen Misstrauen und Argwohn und einem geringen Vertrauen gegenüber anderen sowie einer geringen sozialen Wertschätzung und Anerkennung; n Herr S. mit selbstverherrlichenden, aufdringlichen, expressiven Verhaltensweisen und einer mangelnden Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, sozialen Sensibilität und Empathie; n Frau G. mit einem exhibitionistischen Verhalten und einem mangelnden Selbstwertgefühl und einer geringen Frustrationstoleranz; n Herr J. mit einem überangepassten, anhänglich-hilflos wirkenden Verhalten und einem geringen Maß an Selbstvertrauen, Zutrauen in eigene Fähigkeiten und Selbstständigkeit; n HerrL.miteinerübermäßigen(zwanghaften) Kontrolle und einer fehlenden Flexibilität und Spontaneität. Persönlichkeitsstörungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung VHN 1/ 2008 30 Ferner zeigen die Beispiele auf, dass das Verhalten, welches mit Persönlichkeitsstörungen in Verbindung gebracht wird, als Kompetenz (z. B. als Überlebensstrategie, Selbstverteidigung, Selbstbehauptung) zutage tritt (Fiedler 2001, 428f, 438). Diese Kompetenz ist allerdings in ihrem Sozialbezug „gestört“ oder „beschädigt“, was einer unzureichenden, gar fehlenden Entwicklung „sozial-bezogener Autonomie“ geschuldet ist: „Menschen ohne sozial-bezogene Autonomie stehen in zweierlei Hinsicht außerhalb dieser Möglichkeiten. Entweder brauchen sie andere Menschen, weil sie (scheinbar oder real) von deren Zuneigung, Zustimmung oder Bewunderung abhängig sind (Beispiele finden sich bei den dependenten, narzisstischen, passiv-aggressiven und histrionischen Persönlichkeitsstörungen). Oder es mangelt ihnen an sozialer Bezogenheit, weil sie (scheinbar oder real) engstirnig und egoistisch eigene oder allgemeine Interessen und Ziele voranstellen und durchzusetzen versuchen (Beispiele finden sich bei den paranoiden, schizoiden und zwanghaften Persönlichkeitsstörungen). Die zwischen diesen beiden Extremen liegenden Ausdrucksformen sind häufig durch extreme Unsicherheiten in Bezug auf Anpassung und Egoismus bestimmt (z. B. die selbst unsicheren, depressiven und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen) oder durch ein extremes Schwanken zwischen Zuneigung und Ablehnung (z. B. die Borderline- Persönlichkeitsstörung). Auch im Falle des (real oder scheinbar) völlig norm- oder orientierungslosen, devianten und antisozialen Handelns bei Vorliegen dissozialer Persönlichkeitsstörungen dürfte nur schwerlich von sozialer Bezogenheit gesprochen werden können“ (ebd., 511). Des Weiteren führen uns die Beispiele den Stellenwert lebensweltlicher Systeme (Lebensmilieu, Kontext, soziales Umfeld) vor Augen (v. a. bei Herrn F.), die mit Blick auf Prävention und Intervention (im Sinne multimodaler Hilfen und Maßnahmen) eine bedeutsame Rolle spielen. 3 Konsequenzen für die Praxis Im Gegensatz zu früher gelten heute Persönlichkeitsmerkmale als wandelbar (Fiedler 2001, 551ff ), und somit werden auch Persönlichkeitsstörungen, unabhängig einer intellektuellen Behinderung, als therapeutisch und pädagogisch beeinflussbar betrachtet (ebd., 409ff ). Diese optimistische Einschätzung korrespondiert mit Beobachtungen und Forschungsergebnissen von Lidher (2005, 848), dass Menschen mit intellektueller Behinderung und Persönlichkeitsstörungen bei spezialisierter Unterstützung sehr wohl in gemeindeintegrierten Settings leben können. Demgegenüber wurde bisher eine Persönlichkeitsstörung sehr oft „als ein Hauptausschlusskriterium für die Rehabilitation und Integration geistig behinderter Personen von einer Anstalt (hospital) in die Gemeinde“ (ebd., 848) betrachtet. Auch schwere Formen wie dissoziale Persönlichkeitsstörungen (z. B. in Verbindung mit delinquentem oder kriminellem Verhalten wie Zündeln, Diebstahl, Vergewaltigung, Körperverletzung) sollten selbst bei ungünstiger Verlaufsprognose nicht von vornherein als therapieresistent gelten. Vollbach (2004) führt uns anhand eines Fallbeispiels vor Augen, dass bei einer „grenzüberschreitenden“ Zusammenarbeit zwischen der forensischen Psychiatrie und Institutionen der stationären Behindertenhilfe im psychiatrischen Maßregelvollzug untergebrachte Menschen mit intellektuellen Behinderungen erfolgreich rehabilitiert und rechtskräftig entlassen werden können. Der Fokus der Maßnahmen lag im Bereich der lebensweltbezogenen Behindertenarbeit, wie sie an anderer Stelle ausführlich skizziert worden ist (Theunissen 2000; 2005). Hier genügt nur der Hinweis, dass sich die zentralen Grundzüge dieses Ansatzes mit Überlegungen und Erfahrungen aus der (psycho-)therapeutischen Arbeit und Psychotherapieforschung bei Persönlichkeitsstörungen weitgehend decken und nahtlos verschalten lassen (Fiedler 2001). Vor diesem Hintergrund lassen sich über alle Differenzierungen hinweg folgende Aspekte Georg Theunissen VHN 1/ 2008 31 für die Arbeit mit intellektuell behinderten Menschen herausstellen: Ausgehend von einem Zusammenwirken bio-psycho-sozialer Aspekte zur Erklärung von Persönlichkeitsstörungen sollte ein Konzept favorisiert werden, das nicht unmittelbar auf die Veränderung der Verhaltenssymptomatik zielt, sondern die Störungen des Verhältnisses zwischen Individuum und Umwelt (Personen, Dinge, Situationen) in den Blick nimmt (ebd., 441, 438; Theunissen 2005). Das bedeutet, dass anstelle des engen Korsetts einer herkömmlichen Psychotherapie (dazu Fiedler 2001, 416) ein interdisziplinär angelegtes Breitbandkonzept (Lingg/ Theunissen 2000) treten sollte, in dem medizinische (psychiatrische), psychotherapeutische, milieuspezifische (kontextuelle) und pädagogische Maßnahmen Eingang finden und miteinander abgestimmt eine positive Synergiewirkung erzeugen können. Denn ein Nebeneinander der Hilfen wäre kontraproduktiv und einer erfolgreichen Arbeit abträglich. Kernstück eines Breitbandkonzepts ist ein multidimensionales Assessment im Sinne einer „verstehenden Diagnostik“ (Lingg/ Theunissen 2000), welches neben medizinisch-klinischen Untersuchungen (allgemein, internistisch, psychiatrisch, neurologisch) die Aufbereitung der Lebensgeschichte (nicht ausschließlich im Lichte von Problemen, sondern ebenso von positiven Erfahrungen und Stärken), eine funktionale Analyse in Bezug auf das Problemverhalten und ein Stärken-Assessment vorsieht. Im Fokus der Diagnostik stehen damit Fragen nach dem klinischen Bild (auch Komorbidität psychischer Störungen), der subjektiven Bedeutung (Funktion) auffälliger (beklagter) Verhaltens- und Erlebensweisen sowie den individuellen Ressourcen (Stärken, Potenziale, positive Botschaften) und den sozialen Ressourcen (z. B. verlässliche Bezugsbzw. Vertrauensperson; haltgebende, unterstützende und entwicklungsfördernde Netzwerke). Der diagnostische Prozess führt zurBildung vonArbeitshypothesen, die für die Interventionsplanung grundlegend sind. Erfahrungen haben gezeigt, dass kombinierte, im Lebenskontext der Betroffenen verankerte Angebote bei Persönlichkeitsstörungen in aller Regel erfolgreicher sind als eine bloße medizinische Behandlung oder Psychotherapie (Bronisch 2005, 1626). Dem Anschein nach erhalten zu viele Betroffene regelmäßig Psychopharmaka, „was leider gelegentlich ein Zeichen einer misslungenen therapeutischen Zusammenarbeit ist“ (Rahn/ Mahnkopf 2005, 500) oder auch (z. B. in einigen Institutionen der forensischen Psychiatrie) „Ausdruck einer ungenügenden Kenntnis der Verantwortlichen über alternative Behandlungsmöglichkeiten, zumeist auch des Fehlens geeigneter Therapeuten, überhaupt des Fehlens vielfältiger weiterer notwendiger Ressourcen, die eine effektive psychotherapeutische Behandlung bei Persönlichkeitsstörungen erfordert“ (Fiedler 2001, 448), sein kann. In dem Zusammenhang sollte gleichfalls die oftmals überzogene Vergabe von Neuroleptika bei Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Dieckmann 2006, 155) kritisch gesehen werden (dazu Theunissen 2000, 252; Rössert/ Steiger 2003). Freilich kann eine Psychopharmakotherapie bei Komorbidität sowie bei Verstimmungs- und Angstzuständen, suizidaler Einengung, Sinnestäuschungen in Grenzbereichen zur Psychose, Impulsdurchbrüchen und Aggressivität hilfreich sein (Bronisch 2005; Rahn/ Mahnkopf 2005, 500) und andere Maßnahmen unterstützen, jedoch sollte sie sowohl bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen als auch mit intellektueller Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten (herausforderndem Verhalten) „eher die Ausnahme bleiben“ (Fiedler 2001, 449). Ferner scheinen vor allem in der Anfangszeit eines Interventionsprogramms einsichtsbzw. tiefenpsychologisch orientierte (psychoanalytische) sowie klientenzentrierte Psychotherapien bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere bei dissozialem Verhalten, weniger geeignet zu sein als psychoedukative,ressourcenorientierte oder soziotherapeutische Maßnahmen (Fiedler Persönlichkeitsstörungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung VHN 1/ 2008 32 2001, 480, 532). Dies gilt gleichfalls (vor allem) für Menschen mit intellektueller Behinderung und Kommunikationsproblemen (Theunissen 2005, 90f.; auch Buchner 2006, 77, 79). „Entsprechendwären alle psychotherapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen nach heutigem Wissen vorrangig verhaltenstherapeutisch auszurichten“ (Fiedler 2001, 480). Damit sind freilich keine aversiven Methoden (z. B. Bestrafung, Time-out) gemeint, sondern vielfältige Angebote einer positiven Verhaltensunterstützung, Psychoedukation, soziales Kompetenz-, Problemlösungs-, Selbstsicherheits- oder Selbstbehauptungstraining, Erwerb von Copingstrategien zur Stressbewältigung, Konfliktlösung im Alltag, Impulskontrolle usw. in Verbindung mit einer Ressourcenaktivierung, mit sportlichen, musik- und kunsttherapeutischen sowie Entspannungsangeboten (vgl. hierzu die Übersicht entsprechender Angebote in Theunissen 2005). Da soziale Ängste und Unsicherheiten auch bei den Persönlichkeitsstörungen eine Rolle spielen, werden soziale (psychoedukative) Trainingsprogramme „inzwischen als ein Baustein in der verhaltenstherapeutischen Behandlung insbesondere der paranoiden, schizoiden, schizotypischen, depedenten, selbstunsicheren und passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung empfohlen und eingesetzt“ (Fiedler 2001, 460). Des Weiteren scheint in manchen Situationen anstelle einer einsichtsorientierten Therapie ein „psychosoziales Konfliktmanagement“ angezeigt zu sein, „insbesondere dann, wenn die Ursache für eigenes Missbefinden von den Betroffenen bei anderen vermutet wird. Die Suche von Schuld bei anderen und die Zurückweisung jeglicher Mitverantwortung an zwischenmenschlichen Krisen bedeutet nun offensichtlich für eine Vielzahl von Therapeuten eine besondere Schwierigkeit, vorbehaltlos eine Therapie zu beginnen. Das scheint insbesondere dann der Fall zu sein, wenn sie direkt mit rechthaberischen, querulantorischen oder gar fanatisch vorgetragenen Ansichten konfrontiert werden, die unmittelbar auf die charakterlichen Eigenarten und Störungen der Patienten rückschließen lassen … Psychosoziales Konfliktmanagement rückt die Stress- und Konfliktbedingungen in den Behandlungsfokus und nicht die Persönlichkeitsstörung der Betroffenen. Der Therapeut berät und unterstützt den Patienten, wie Krisen und Konflikte im Alltag mit Hilfe psychologisch gut begründeter Strategien auf eine möglicherweise neue und befriedigende Art gelöst werden können … Mit Hilfe des psychosozialen Konfliktmanagements wird also indirekt auf eine Verbesserung zwischenmenschlicher Interaktionseigenarten und Kompetenzen hingewirkt“ (Fiedler 2001, 470f ). Sinnvoll kann es auch sein, „den Betreffenden in eine Situation zu bringen, in der er die paranoiden Konstruktionen nicht mehr nötig hat“ (ebd., 472). Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung (Grawe/ Donati/ Bernauer 1994) legen den Schluss nahe, dass eine Wirksamkeit all dieser Angebote am ehesten gegeben ist, wenn der Herstellung und Sicherung eines tragfähigen Beziehungsverhältnisses zwischen Betroffenem und Unterstützer (Therapeut usw.), d. h. der „Güte der Beziehung“ (Rahn/ Mahnkopf 2005, 499), Rechnung getragen wird. Dies zu ignorieren ist ein Fehler mancher (behavioraler) Konzepte, deren Interventionsmethoden zu sehr top-down-strategisch und technokratisch ausgerichtet sind und sowohl die Subjektseite (Problemsicht, Interessen, Stärken der Betroffenen) als auch die therapeutische oder pädagogische Einstellung und Haltung vernachlässigen. Bemerkenswert ist, dass unter anderem auch Klienten mit intellektueller Behinderung großen Wert auf eine positive Beziehung zu ihrem Therapeuten sowie auf das Einhalten der therapeutischen Schweigepflicht legen (Buchner 2006, 82f ). Ebenso wäre es ein Kunstfehler, Betroffenen Möglichkeiten der Erarbeitung tragfähiger Lebensperspektiven (Fiedler 2001, 481), z. B. durch persönliche Zukunfts- oder Lebensstilplanungen (dazu Theunissen 2005, 136ff ), sowie entsprechende Unterstützung bei der Implementierung von Georg Theunissen VHN 1/ 2008 33 Absprachen (Verträge) und eigenverantwortlichem Handeln vorzuenthalten. Zudem darf vor allem dann, wenn Persönlichkeitsstörungen als Ausdruck eines gestörten Individuum-Umwelt-Verhältnisses betrachtet werden, die Arbeit mit den lebensweltlichen Systemen (mit Institutionen, Mitarbeitern, Angehörigen usw.) nicht zu kurz kommen. Gerade die funktionale Verhaltensanalyse zeigt auf, dass es häufig notwendig ist, auch Umgebungsfaktoren (problemauslösende situative Bedingungen, Aufgaben, Anforderungen usw.) sowie das Verhalten von Bezugspersonen (Mitarbeitern) zu verändern. Dies aber setzt die Bereitschaft der Bezugswelt zur kritischen Selbstreflexion und Mitarbeit voraus. Zu guter Letzt sei erwähnt, dass neben der Beteiligung von Bezugspersonen und Kontextorientierung immer auch eine Nachbetreuung und Nachsorge, z. B. durch Einbeziehung sozialpsychiatrischer oder Kriseninterventionsdienste sichergestellt sein sollte, um Rückschläge, eine Einweisung in eine Psychiatrie oder gar Forensik zu vermeiden. Literatur Alexander, R.; Cooray, S. (2003): Diagnosis of personality disorders in learning disability. In: British Journal of Psychiatry 182, 28 - 31 APA - American Psychiatric Association (1996): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV. Göttingen Beck, A. T.; Freeman, A. u. a. (1993): Kognitive Therapie der Persönlichkeitsstörungen. Weinheim Bohus, M. u. a. (1999): Persönlichkeitsstörungen. In: Berger, M. (Hrsg.): Psychiatrie und Psychotherapie. München, 771 - 845 Bronisch, T. (2001): Neurobiologie der Persönlichkeitsstörungen mit Schwerpunkt auf Borderline- Persönlichkeitsstörungen. 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