Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2008
771
Dialog :Bildung und Ausbildung im Sonderpädagogikstudium
11
2008
Tobias Tretter
Manfred Wittrock
München, 10. April 2007 Sehr geehrter Herr Professor Wittrock, in den kommenden Semestern werde ich mein Studium der Sonderpädagogik auf Lehramt abschließen. Obwohl ich sehr gerne studiere, stelle ich die Qualität meines Sonderpädagogikstudiums immer öfter in Frage. Zugunsten einer handlungstheoretischen Ausbildung sehe ich dabei den Wert einer humanistischen Bildung und die eigene Persönlichkeitsentfaltung im Hintergrund. Da ich aber gerade diese für eine Lehrkraft als besonders wichtig erachte, möchte ich mich mit Ihnen über die Aufgaben und Ziele des Studiums austauschen und Möglichkeiten zur Verbesserung andenken. Dieses Thema scheint mir für einen Briefwechsel insofern aktuell, als zurzeit viele Universitäten das Sonderpädagogikstudium auf den Bachelor- und Masterabschluss umstellen oder umgestellt haben - sich also ein Wandel von Bildung und Ausbildung in der Sonderpädagogik vollzieht.
5_077_2008_1_0007
61 Dialog München, 10. April 2007 + Sehr geehrter Herr Professor Wittrock, in den kommenden Semestern werde ich mein Studium der Sonderpädagogik auf Lehramt abschließen. Obwohl ich sehr gerne studiere, stelle ich die Qualität meines Sonderpädagogikstudiums immer öfter in Frage. Zugunsten einer handlungstheoretischen Ausbildung sehe ich dabei den Wert einer humanistischen Bildung und die eigene Persönlichkeitsentfaltung im Hintergrund. Da ich aber gerade diese für eine Lehrkraft als besonders wichtig erachte, möchte ich mich mit Ihnen über die Aufgaben und Ziele des Studiums austauschen und Möglichkeiten zur Verbesserung andenken. Dieses Thema scheint mir für einen Briefwechsel insofern aktuell, als zurzeit viele Universitäten das Sonderpädagogikstudium auf den Bachelor- und Masterabschluss umstellen oder umgestellt haben - sich also ein Wandel von Bildung und Ausbildung in der Sonderpädagogik vollzieht. Im Bachelor sehe ich aber auch eine ganz große Gefahr: Findet durch ihn nicht eine Verschulung der Universitäten statt, welche den freien Geist humanistischer Bildung gefährdet? Durch modularisierte Stundenpläne und verstärkte Anwesenheitspflicht wird es Studierenden schwerer fallen, eigenen Interessen im Studium nachzugehen, ein selbstständiges Studienprofil zu erstellen und schließlich die eigene Richtung im Studium zu entdecken. Ob ein solches Studium dem Lehrerethos in seiner Vielseitigkeit dann noch gerecht werden kann, bleibt fraglich. Unabhängig von dem neuen Abschluss stellt sich für mich die Frage, ob die Universität aufgrund ihrer Ressourcen überhaupt noch die Persönlichkeit der Studierenden erreichen kann. Außerdem erlebe ich es oft, dass manche meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen lieber „die richtige Antwort“ vorgegeben bekommen, als sich selbst für eine entscheiden zu müssen. Studierende nehmen dann die Rolle von Schülern ein, und Lehrende scheinen sich in der Rolle des Schulmeisters nicht unwohl zu fühlen. Wodurch kann in einer Veranstaltung aber sichergestellt werden, dass neben dem Wissen auch eine selbstreflektierte, kritische Haltung vermittelt wird? Einer meiner Professoren hat mir erklärt, dass in dem Wort „Kommilitone“ die ursprüngliche Bedeutung des „Mitstreiters“ sowohl in Bezug auf Studierende als auch auf Dozenten liegt. Lieber Herr Professor Wittrock, sind Ihre Studentinnen und Studenten nun wirklich Mitstreitende um die wissenschaftliche Erkenntnis oder eben doch nur Lernende Ihrer Überlegungen? Kommt es an der Universität wirklich zu einer Verzahnung von Lehre und Forschung? Oder ist eine solche Verzahnung höchstens auf die Zulassungs-, Diplom- und Magisterarbeit beschränkt? An dieser Stelle frage ich mich, ob die Universität vorwiegend Sonderpädagogen für die Praxis ausbildet oder auch selbst für den eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs sorgt. Natürlich stehen Professoren dabei in der Diskrepanz, auf der einen Seite dem wissenschaftlichen Standard entsprechen zu wollen und auf der anderen Seite einer pra- Bildung und Ausbildung im Sonderpädagogikstudium Tobias Tretter Ludwig-Maximilians-Universität München Manfred Wittrock Universität Oldenburg VHN, 77. Jg., S. 61 - 66 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel VHN 1/ 2008 62 xisnahen Ausbildung gerecht werden zu müssen. Aber lässt sich hier nicht - frei nach Lewin - antworten: „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“? Selbstverständlich muss in einer Universität eine fundierte didaktische Ausbildung gelehrt und ein umfangreiches Wissen an sonderpädagogischen Handlungstheorien vermittelt werden. Letztendlich bleibt jedoch die Frage, welche Bedingungen bei Studierenden und in der Lehre bestehen müssen, damit diese auch in die Praxis umgesetzt werden. Wenn wir akzeptieren, dass es in pädagogischen Fragen niemals „die einzig richtige Antwort“ gibt, müssen Studierende eine kritische Haltung entwickeln, wodurch sie die jeweiligen Theorien passend zu ihrer eigenen Lehrerpersönlichkeit und der jeweiligen Situation bewerten und anwenden können. Meiner Meinung nach kann eine solche Haltung nicht allein in Seminaren erworben werden, sondern muss eine umfassende Dialogkultur voraussetzen, welche beispielsweise in der Autonomie und Partizipation engagierter Studentinnen und Studenten der jeweiligen Fachschaft zu fördern ist. Dabei scheinen mir die Universitäten den Wert einer solchen Kultur oder ihren Einfluss darauf stark zu unterschätzen. Schließlich wird ein solches Engagement zwar angenommen, aber kaum eine Universität arbeitet ein Konzept aus, um eine solche Arbeit auch durch Räumlichkeiten, Ressourcen und Vorteile für Fachschaftsstudenten zu unterstützen. Welches Potenzial im Dialog der Studierenden liegt, erfahre ich jedes Semester auf der Bundesfachschaftentagung. Nach wie vor begeistert mich der Gedanke, dass engagierte Studentinnen und Studenten einer Gastgeberuniversität die Sonderpädagogikfachschaften aus ganz Deutschland einladen, um sowohl hochschulpolitische als auch fachliche Themen zu diskutieren. In diesen Tagen erlebe ich dann eine Stimmung, welche sich nur schwer in Worte fassen lässt, die ich im Studium aber allzu oft vermisse. Mit dem Mut, Missstände verändern zu wollen, dem Interesse, andere Richtungen zu erkunden, und der Gemeinschaft, Sonderpädagogik zu studieren, findet so eine offene Begegnung zwischen den deutschen Universitäten statt. In diesem Sinne freue ich mich schon jetzt auf Ihre Antwort. Mit herzlichen Grüßen Tobias Tretter Oldenburg, 5. Juni 2007 + Lieber Herr Tretter, herzlichen Dank für Ihren Brief und Ihr Angebot eines Gedankenaustausches zum Thema „Qualität“ des Sonderpädagogikstudiums heute. Ihre Zeilen haben mich lange über meine Antwort nachdenken lassen, eben gerade weil ich das Gefühl hatte, Ihr Anliegen zu verstehen. Ich möchte Ihnen deshalb keine einfache, schlanke Antwort geben. Ins Grübeln kam ich, da mir Ihr Brief das Gefühl gab, dass Sie Ihr Studium so erleben, als würde eine handlungstheoretische Ausbildung zwangsläufig die eigene Persönlichkeitsentfaltung in den Hintergrund treten lassen. Wollten Sie dieses Gefühl ausdrücken? Sehr klar trat mir in Ihren Zeilen aber auch der Wunsch des Sich-Auseinandersetzens mit der von Ihnen erlebten Spannung in der Gegensatzeinheit von „Orientierung erhalten“ und „selbst ausprobieren können“ entgegen. Mehr als gut kann ich verstehen, dass Sie sich genau mit dieser Spannung zwischen diesen beiden für mich notwendigen Polen auseinandersetzen. Denn für mich sind beides Konstituenten von Entwicklung. Die Kunst besteht für mich darin, eben diese Spannung immer und immer wieder auszubalancieren, was jedem von uns nur mehr oder minder häufig gelingt. Die Struktur des Studienangebotes muss Studierenden beides anbieten und sie nicht verbindungslos nebeneinander stehen lassen. Tobias Tretter, Manfred Wittrock VHN 1/ 2008 63 Bereits 1969 hat Carl Rogers in seinem Buch „Lernen in Freiheit“ (dt. 1974) eine Pädagogin mit dem Beitrag „Eine Lehrerin experimentiert mit ihrer 6. Klasse“ zu Wort kommen lassen, in dem diese eine Form des „offenen“ Unterrichts vorstellt, die Schüler/ innen genau das Ausmaß von Orientierung und Halt bietet, das sie in ihrer individuellen Lerngeschichte brauchen. Auch wenn ich mich in meiner weiteren fachlichen Sozialisation anderen theoretischen Grundlagen (wie der Feldtheorie, der Kommunikationstheorie und der Lebensproblemzentrierten Pädagogik) zugewandt habe, so habe ich recht früh von Carl Rogers gelernt, dass Orientierung und Probehandeln zwar Pole darstellen, aber eben keine unvereinbaren. Und bis heute bemühe ich mich darum, dass in meiner Haltung die Grundpositionen der humanistischen Psychologie erfahrbar werden. Eine weitere mich beeinflussende Spur hat Paul Moor gelegt, den ich stets so verstanden habe, dass er in seinen Werken auch hervorheben wollte, welche Bedeutung der innere und äußere Halt in der und für die Entwicklung eines Menschen spielt. Deshalb ist mein Bemühen in Hochschule und Schule, dass Lehrende und Lernende in möglichst geringem Ausmaß Situationen der Nicht-Beachtung, des Versagens, der Unterbzw. Überforderung erleben und stattdessen zahlreiche Situationen der Beachtung, des Ernstnehmens, der Wertschätzung und der Herausforderung erfahren. Wird es schwieriger, in den neuen Studienstrukturen des Bachelor-/ Masterstudiums diese Ziele umzusetzen? Als wir in Oldenburg im Jahre 2002 mit den ersten Planungen für eine neue Studienstruktur „B.A./ M.A.“ begannen, hatten wir im Sinn, genau diese Gegensatzeinheit von klarer Orientierung und selbstständigen Erprobungschancen in einer Sonderpädagogik zu verwirklichen, die wir eindeutig „cross-kategorial“ aufbauen wollten, um unsere Studierenden „besser“ auf die Herausforderungen der (sonder-)pädagogischen Arbeitsfelder vorzubereiten. Erst der konkrete Start der neuen Studiengänge und die konkrete Auseinandersetzung mit den Studierenden des neuen Bachelorstudienganges machten uns sensibel für die vielen „Webfehler“ (inhaltliche, strukturelle, methodische) in unserer Planung. Heute sind wir, die Lehrenden, und unsere Studierenden so realistisch, dass wir uns als „Versuchskaninchen“ fühlen in einem Feldversuch. Somit hätte ich Ihnen vor einem Jahr noch sehr pessimistisch auf Ihren Brief und Ihre Frage nach den im Bachelorstudium verloren gehenden Chancen für eine Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung im und durch das Studium geantwortet. Seit Kurzem ändert sich jedoch mein Eindruck, denn aus Fehlern kann man durchaus lernen, und wir werden immer kreativer bei der Weiterentwicklung unserer Studienangebote und -strukturen hin zu einer neuen Balance von „Orientierung geben und Probe handeln ermöglichen“. Ihre Lösungsform, der aktive Austausch mit den Peers, hier mit Gleichgesinnten auf Bundesfachschaftstagen, entspricht einer der für mich entwicklungsförderlichen, da Halt gebenden Vorgehensweisen. Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen zukünftig auch als Lehrer in der Schule, insbesondere aber im Referendariat, gelingt, in Teams zu arbeiten und in Gruppen kollegialer Praxisberatung Rückmeldung, Orientierung und Formen des sich Erprobens zu finden. Ich hoffe, Sie können nun Ihrerseits etwas mit meinen Überlegungen anfangen, und freue mich schon jetzt auf ihre Antwort. Mit besten Grüßen Manfred Wittrock München, 20. Juni 2007 + Lieber Herr Professor Wittrock, eine einfache, schlanke Antwort haben Sie mir wirklich nicht gegeben, und so habe ich lange über Ihre Zeilen nachgedacht. Lässt sich mein Bildung und Ausbildung im Sonderpädagogikstudium VHN 1/ 2008 64 Anliegen in den Gegensatzeinheiten „Probe handeln“ und „Orientierung erhalten“ ausdrücken? Wenn, wie Sie schreiben, die Struktur des Studienangebotes beides anbieten und verbinden muss, so frage ich Sie, wie diese Pole nun wirklich im Studium verbunden sind. Und ich frage weiter: Vertreten nur Sie die Grundhaltung der humanistischen Psychologie, oder drückt sie sich in der Maxime universitärer Bildungsbestrebungen aus? Aber dann müsste die Universität auf studentische Mündigkeit aufbauen und sich selbst entwickelnde und sich in Freiheit bildende Studentinnen und Studenten erwarten. Tut sie das wirklich? Im Hinblick auf eine universitäre Kontrolle scheint mir die Absicht, Orientierung zu geben, zu stark im Vordergrund zu stehen, um dem Bild eines sich durch seine eigenen Kräfte entfaltenden Menschen gerecht zu werden. „Probe handeln“ darf sich eben nicht ausschließlich auf verpflichtende Praktika beziehen, welche im besten Fall durch zwei Semesterwochenstunden in der Universität begleitet werden. Oder anders ausgedrückt: „Probe handeln“ beschreibt doch mehr als den Ansatz des situativen Lernens und sollte bei Studierenden in der Selbsttätigkeit ihres eigenen Verstandes gründen. Damit will ich nicht sagen, Praxisverknüpfung und handlungstheoretische Ausbildung wären hierfür unwichtig. Und natürlich - hier haben Sie Recht - formen sie auch einen Teil der Persönlichkeit. Aber erst eine darüber hinausreichende Bildung ermöglicht Studierenden, die erhaltene Orientierung in der Form zu erproben, dass sie zu einer eigenen kritisch reflektierten Position finden. Dass Sie auch neue Chancen für die Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung im Bachelorstudium entdecken und ausbauen können, freut mich. Nun aber frage ich mich, ob andere Bundesländer Ihre Erfahrungen nutzen und der Versuch stattfindet, erfolgreiche Studienkonzepte zu implementieren. Gibt es denn wirklich eine Kommunikation zwischen den Universitätsstädten, welche Sie auch schon bei der Einführung des Bachelors in Oldenburg nutzen konnten? Vielmehr scheint mir schon die Kommunikation und Kooperation zwischen den Lehrstühlen an einer Universität erschwert. Und wenn diese unter Sonderpädagogen noch gelingt, fehlt sie spätestens in den einzelnen Fachdidaktiken, deren Inhalte nur selten unter Berücksichtigung sonderpädagogischer Reflexion gelehrt werden. Betrachte ich auf diese Weise nicht nur einzelne Kurse, sondern das Gesamtsystem der Universität, so kann ich mir kaum vorstellen, dass Studierende wirklich wertgeschätzt, beachtet und individuell herausgefordert werden. Natürlich bilden einzelne Dozierende hier eine Ausnahme und betreiben eine Lehre, wie Sie mir die Ihre beschreiben. Doch fordern die Lehrenden dabei wirklich einen kritischen Geist gegenüber ihren eigenen Theorien? Selbst bei Ihnen gehe ich, gemäß einer systemischen Inderdependenz, davon aus, dass Ihre Studierenden viel zu oft eine Musterlösung in Ihren Antworten sehen. Ist es wirklich anders? Wird beispielsweise Ihr Menschenbild der humanistischen Psychologie oft von Studierenden in Frage gestellt, welche die Sonderpädagogik etwa christlich begründet sehen wollen? Wenn wir uns darüber einig sind, dass sich das Sonderpädagogikstudium durch solche Debatten auszeichnen soll, stellt sich - dem systemischen Ansatz entsprechend - die Frage, wie Studierende, aber auch Lehrende ihre Vorstellungen gelungener Bildung nicht nur für sich selbst auf ihrer Ebene verwirklichen, sondern diese in die Struktur des Studiums transportieren können? Lieber Herr Professor Wittrock, Ihre letzte Antwort hat mich inspiriert, weil sie mein gesamtes Anliegen unter ein zentrales Thema gestellt hat. So danke ich Ihnen für Ihren letzten Brief und warte gespannt auf Ihre nächste Antwort. Herzliche Grüße Tobias Tretter Tobias Tretter, Manfred Wittrock VHN 1/ 2008 65 Oldenburg, 30.Juli 2007 + Lieber Herr Tretter, herzlichen Dank für Ihren zweiten Brief und Ihre Gedanken zu meiner Antwort auf Ihre Fragen zur Qualität des Sonderpädagogikstudiums in Zeiten des „Bachelor“. Ich glaube schon, Ihre Bedenken nachvollziehen und verstehen zu können. Zweifellos haben Sie mit den meisten Ihrer Problembeschreibungen wunde Punkte eines sonderpädagogischen Studiums getroffen. Nur: War das Studium vor fünf Jahren wirklich anders, freier, selbstbestimmter als heute? Waren die Angebote der Kolleginnen und Kollegen vernetzter und die Absprachen zwischen den Fächern gelungener? Oder liegt der Unterschied möglicherweise nur darin, dass es vor der Einführung des Bachelor-/ Masterstudiums mehr Möglichkeiten gab, die Vorgaben der jeweiligen Studienordnungen für sich selbst auszulegen? Waren die Studienordnungen wirklich von mehr Selbstbestimmung gekennzeichnet? Mir kommt es - leider - so vor, dass wir von der Studiensituation „relativer Beliebigkeit“ zur Studiensituation „relativer Verschulung“ recht abrupt gewechselt haben, und beide Positionen werden einem eigenverantwortlichen Studium nicht gerecht. Beide Extreme halte ich für vergleichbar unproduktiv für die Herausbildung eines theoretisch fundierten, dem Arbeitsfeld angemessenen professionellen Handelns. Ich stimme Ihnen zu, dass durch die weitgehende „Freiheit“ der Studieninhalte früher gerade Studierende wie Sie, die Sie mehr Selbstverantwortung (= selbst Antworten suchen und finden wollen) für Ihr Studium wünschen, ihren Weg zu diesem Ziel leichter finden konnten als in dem stärker verschulten B.A.-Studium heute. Nur war das „alte“ relativ beliebige Studium wirklich die Chance für den allergrößten Teil der Studierenden? Was ich von Studierenden gehört bzw. erlebt habe, lässt in mir große Zweifel zurück. Aus Ihren Briefen lese ich, dass Sie einen „dritten“ Weg zwischen Beliebigkeit und Verschulung suchen, einen Weg zwischen akademischer Berieselung mit Wissensbeständen und praxisorientierter Lehrzeit. Sie wünschen sich ein Studium und Studienangebot, das Ihnen hinreichende Chancen für die Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung, für die Gewinnung kritisch reflektierter Positionen bietet. Und eben da bin ich etwas optimistischer als Sie. Ich baue schon ein wenig darauf, dass durch „Projekte forschenden Lernens“ im dritten Jahr des Bachelorstudiums bzw. durch das eigene „Forschungsprojekt“ im Masterstudium, das in die Masterarbeit mündet, Studierende wie Sie Ihre Chance zum selbstbestimmten Lernen sehen und diese auch nutzen. Entscheidend wird es sein, wie weit es uns Lehrenden gelingt, im ersten Semester hinreichend Orientierung zu geben und die Chance zur eigenen Form aufzuzeigen und dann diese Projekte forschenden Lernens so zu begleiten, dass die jeweiligen Studierenden das angemessene Maß bzw. die Form an Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Das wird nicht leicht werden, aber ich gebe nicht gern gleich beim Start auf. Ihre gesamten Zweifel nehme ich sehr ernst, und nahezu alle von Ihnen aufgezeigten Probleme, die Sie in Ihrem zweiten Brief entfaltet haben, bestehen tatsächlich. Ich sehe eben nur nicht, dass das Bachelorstudium dafür verantwortlich gemacht werden kann, denn die Vor- und Nachteile des „klassischen Lehramtsstudiums“ und des „neuen B.A./ M.A.-Studiums“ halten sich für mich die Waage. Verantwortlich sind vielmehr die Bildungspolitiker, die Ministerialen und besonders die Hochschullehrenden, die aus der Idee des europäischen Bachelor-/ Masterstudiums die heutigen Studienordnungen gemacht haben. Wir Hochschullehrenden müssen also zusammen mit den Studierenden weiter daran arbeiten, die neuen sonderpädagogischen Studiengänge so zu optimieren, dass Selbstbildungsprozesse und die Herausbildung einer professionellen Handlungskompetenz ermöglicht und stimuliert werden. Bildung und Ausbildung im Sonderpädagogikstudium VHN 1/ 2008 66 Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich die möglichen Fehler bei der Neukonstruktion von Studiengängen schon sehe und sie nicht bagatellisieren möchte. Wir (Lehrende und Studierende) sind ihnen jedoch nicht hilflos ausgeliefert, sondern wir können uns austauschen, diskutieren, planen und verändern. Mit besten Grüßen Ihr Manfred Wittrock München, 5. August 2007 + Lieber Herr Professor Wittrock, abschließend darf ich Ihnen nicht nur für Ihre letzte Antwort, sondern für den gesamten Dialog danken. In ihm finde ich genau die Art von Kommunikation - eine Atmosphäre des kritischen Denkens - wieder, wie ich sie mir im Studium wünsche. So möchte ich zum Abschluss drei Gedanken herausgreifen: Während ich im Studiengang des Bachelors vor allem die Gefahren und negativen Seiten wahrnehme, sehen Sie zu Recht auch die Chancen, die sowohl in der Einführung als auch in seiner Entwicklung liegen. Somit wird sich das neue Studiensystem auch erst in einigen Jahren gerecht beurteilen lassen. Dann darf es aber nicht nur daran gemessen werden, welche Lernfortschritte der größte Teil der Studierenden macht, sondern ob es auch die einzelnen Studenten und Studentinnen in ihrer Persönlichkeit und Selbstentfaltung so fördern kann, wie Sie es beschrieben haben. Außerdem sollte neben den vielen erkannten Problemen (ganz unabhängig von Bachelor und Master) auch all das gesehen werden, was zum Gelingen des Sonderpädagogikstudiums beiträgt. Hier muss bei Lehrenden und Lernenden die Übernahme von Verantwortung im Vordergrund stehen, welche sich konkret durch ein Miteinander in der Universität und ein aktives Bemühen im Studium ausdrückt. Ich bin davon überzeugt, dass nur so die von Ihnen betonten zahlreichen Situationen der Beachtung, des Ernstnehmens, der Wertschätzung und der Herausforderung gelingen und das richtige, individuelle Maß zwischen Selbsttätigkeit und Halt gebender Struktur gefunden werden kann. Schließlich möchte ich den Optimismus aus Ihrem letzten Brief noch einmal aufgreifen. Natürlich ist auch das Erkennen von Problemen ein wichtiger Schritt. Wer dann aber vor Missständen resigniert, statt bessere Ideen zu entwickeln, wer Probleme vergrößert, statt sich um ihre Behebung aktiv zu bemühen, wird das Sonderpädagogikstudium kaum positiv gestalten können. So möchte ich unseren Dialog mit der Betonung eben dieses Mutes und dieser Zuversicht abschließen. Mit herzlichem Dank und allerbesten Grüßen Tobias Tretter Tobias Tretter Georgenstraße 2 D-80799 München E-Mail: tobias.tretter@gmx.net Prof. Dr. Manfred Wittrock Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Sonderpädagogik Postfach 2503 D-26111 Oldenburg E-Mail: manfred.wittrock@uni-oldenburg.de Tobias Tretter, Manfred Wittrock
