eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Dialog: Integration - Fragen und Antworten

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2008
Urs Haeberlin
Oliver Kranz
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Haeberlin In meiner Ausbildung zum Schulischen Heilpädagogen wurde in der Lernbehindertenpädagogik Ihr Name oft erwähnt. Ich arbeite an einer Sonderschule und unterrichte Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Derzeit ist die Forderung nach einer Normalisierung bzw. Integration von Lernbehinderten in die Regelschule hoch. Unsere Schule möchte sich in den Liechtensteinischen Landeszeitungen vorstellen, da unsere Institution am 5. Oktober 2007 40 Jahre jung wird. Die Klassen, die Lernbehinderte unterrichten, möchten unter anderem den folgenden Abschnitt in ihren Bericht einbauen. Stimmen die unten aufgeführten Aussagen, die sich auf ihre Studie stützen:
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VHN, 77. Jg., S. 142 - 147 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 142 Integration - Fragen und Antworten Ein Mail-Wechsel zwischen zwei Personen, die sich vorher nicht gekannt haben Urs Haeberlin Oliver Kranz Dialog Mail gesendet am 25. September 2007, 07: 27  Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Haeberlin In meiner Ausbildung zum Schulischen Heilpädagogen wurde in der Lernbehindertenpädagogik Ihr Name oft erwähnt. Ich arbeite an einer Sonderschule und unterrichte Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Derzeit ist die Forderung nach einer Normalisierung bzw. Integration von Lernbehinderten in die Regelschule hoch. Unsere Schule möchte sich in den Liechtensteinischen Landeszeitungen vorstellen, da unsere Institution am 5. Oktober 2007 40 Jahre jung wird. Die Klassen, die Lernbehinderte unterrichten, möchten unter anderem den folgenden Abschnitt in ihren Bericht einbauen. Stimmen die unten aufgeführten Aussagen, die sich auf ihre Studie stützen: „Derzeit ist die Forderung nach einer Normalisierung (gleiche Schule für alle) ein heiß diskutiertes Thema. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass integrierte Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten in den Regelschulen eher zu den unbeliebten und abgelehnten Schülern zählen. Zudem schätzen sie sich selbst weniger gut sozial in die Klasse integriert ein. In die Regelschule integrierte Schüler schätzen ihre eigenen Fähigkeiten negativer ein als ihre Mitschüler und als Lernbehinderte in Sonderklassen. Die Gefahr einer Misserfolgsorientierung ist daher hoch. Auch die Einschätzung bezüglich Wohlbefinden ist in der Regelschule negativer als in Sonderschulen“ (vgl. Haeberlin 1999). Für Ihre kurze Antwort danke ich Ihnen jetzt schon und grüsse Sie freundlichst Oliver Kranz Mail gesendet am 26. September 2007, 08: 53  Sehr geehrter Herr Kranz Da ich nicht weiß, wo Sie die Ausbildung gemacht haben (Bern, Fribourg, Zürich? ), interessiert mich doch auch noch, ob unsere Forschung in den Ausbildungsunterlagen mit diesem Text so zusammengefasst ist und - falls ja - wer die Ausbildungsunterlage abgegeben hat. So tendenziös eindimensional haben wir unsere Forschungen sicher nie publiziert. Und ich hoffe, dass es an unseren Ausbildungsstätten keine Dozenten gibt, welche dies tun. Dozenten sind ja keine Politiker, die sich Forschungsergebnisse für die Medien oft in eine bestimmte Richtung zusammenstutzen, sondern sollten auf für Wissenschaftler verbindliche Regeln der wissenschaftlichen Redlichkeit verpflichtet sein. - Falls sich der Text auf Dokumente stützt, die von einem Dozenten in der Ausbildung abgegeben worden sind, bitte ich Sie um eine Kopie der entsprechenden Seiten dieser abgegebenen Unterlagen, damit ich den Dozenten bitten kann, Forschungsliteratur genauer zu lesen und die Forschungsergebnisse in Zukunft in ihrer Ganzheit darzustellen, die eben - wie alles in der gesellschaftlichen Wirklichkeit - widersprüchlich und ganz und gar nicht eindimensional ist. In Widersprüchen denken zu lernen, war immer eines meiner Anliegen in der Ausbildung von Studierenden, die - wie die meisten Menschen - von ihrer bisherigen schulischen Ver-bildung den Wunsch nach Eindeutigkeit haben, die man schwarz auf weiß hat und für Prüfungen auswendig lernen kann. Mein Bildungsanliegen passt leider auch immer weni- VHN 2/ 2008 143 Integration - Fragen und Antworten ger in das Umfeld der zunehmend die schulische Ver-bildung fortsetzenden Hochschullandschaft, jetzt besonders gefördert durch den bildungsfeindlichen Bolognaprozess. Ich schaue einmal in meinen vielen früheren kurzen Publikationen nach, wo ich die Forschungsergebnisse möglichst einfach, aber korrekt zusammengefasst habe. Ich bitte Sie um Verständnis für meine Akribie in meiner Rolle als wissenschaftlicher Forscher. Wenn Sie die Eingangsseite meiner Homepage (www.urshaeberlin.ch) anschauen, sehen Sie schnell, dass diese Rolle nicht mein einziges Selbstverständnis ist, sondern dass ich mich wie für den Wert der wissenschaftlichen Korrektheit ebenso für Grundwerte in der heilpädagogischen Praxis und einer für Schwache und Benachteiligte Partei nehmenden Gesellschaft engagiere. Mit freundlichen Grüssen Prof. Dr. Urs Haeberlin Mail gesendet am 26. September 2007, 09: 15  Sehr geehrter Herr Haeberlin Ich tippe ihnen nachfolgend das abgegebene Blatt einmal ab, möchte aber auf keinen Fall, dass ich meinen früheren Dozenten in irgendeine „Misere“ treibe. Er war ein sehr kompetenter Heilpädagoge und Psychologe. In der Lernbehindertenpädagogik ging es um Grundprobleme bei der Integrierung von schulleistungsschwachen Schülerinnen und Schülern in Regelklassen (Integrationsdilemmata). Hier nun die abgetippte Ausbildungsunterlage: Vielleicht sieht es für Sie jetzt ein bisschen anders aus? Besten Dank und viele Grüsse Oliver Kranz Anhang Zur Wirkung von integrierenden und separierenden Schulformen bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern - Wissenschaftliche Befunde (Zusammenfassung) 1. Es steht wissenschaftlich gut abgesichert fest, „dass schulleistungsschwache oder lernbehinderte Kinder in der Regelklasse mit Heilpädagogischer Schülerhilfe größere Lernfortschritte erzielen, als dies in Sonderklassen für Lernbehinderte möglich wäre“ (Bless 1995, 166). 2. „Beim Vergleich der Laufbahnen ehemals schulleistungsschwacher Jugendlicher nach integrativen und separativen Schulformen zeigt sich ein deutlicher Unterschied zugunsten der Integration“ (Riedo 2000, 197). 3. „A priori gegen die Integration sprechen einerseits die allgemein eher ungünstige soziale Akzeptanz, die Behinderte in Regelklassen erfahren, und andererseits das teilweise niedrigere Selbstwertgefühl von Behinderten“ (Bless 1995, 168). Zur Situation von in die Regelschule integrierten Schülerinnen und Schülern mit Lernbehinderungen „1. Integrierte Lernbehinderte gehören häufiger zu den unbeliebten und abgelehnten Schülern als ihre Mitschüler. 2. Integrierte Lernbehinderte schätzen sich selbst weniger gut sozial in die Klasse integriert ein, als sich die Mitschüler einschätzen. 3. Integrierte Lernbehinderte schätzen die eigenen Fähigkeiten negativer ein als ihre Mitschüler und als Lernbehinderte in Sonderklassen. 4. Integrierte Lernbehinderte schätzen ihr Wohlbefinden in der Schule negativer ein als ihre Mitschüler und als Lernbehinderte in Sonderklassen. 5. Integrierte Lernbehinderte machen größere Schulleistungsfortschritte als Lernbehinderte in Sonderklassen. 6. Die Integration von Lernbehinderten hat keine negativen Auswirkungen auf die Regelschüler“ (Haeberlin u. a. 1999, 331). Mail gesendet am 26. September 2007, 10: 12  Sehr geehrter Herr Kranz Die Unterlage ist in dieser Form durchaus korrekt, die Ambivalenz der Forschung enthalten. Forschung führt immer nur durch Kritik der Forschung (eigene und andere) weiter. Deshalb die folgende Anmerkung: Unsere (Haupt-)Untersuchung ist inzwischen bereits etwa 20 Jahre alt. Seither haben sich die Schullandschaft und die Schülergruppe, die leider immer noch „Lernbehinderte“ genannt wird, stark verändert. Waren früher in diese Klassen in der VHN 2/ 2008 144 Urs Haeberlin, Oliver Kranz Schweiz vorwiegend Arbeiterkinder eingewiesen worden, sind es heute hauptsächlich Kinder aus Immigrantenfamilien. Diese Klassen waren und sind somit vorwiegend Klassen für gesellschaftlich Benachteiligte, was mit dem Begriff „behindert“ kaschiert und als Merkmal an das Individuum gebunden wird. Schweizer Kinder laufen immer „weniger Gefahr“, in eine Sonderklasse für Lernbehinderte eingewiesen zu werden. Aber trotz zunehmender Zahl an sog. „integrierten Lernbehinderten“ nimmt die Anzahl an Sonderklassen für Lernbehinderte nicht ab, sondern eher noch zu. Das heißt im Klartext: Wie in andern Ländern (z.B. Deutschland, USA), in welchen nebeneinander „Sonderklassen“ und „Integrative Regelklassen“ bestehen, ist eine neue große Gruppe von sog. „Lernbehinderten“ entstanden, die vor der sog. „Integration“ gar nicht als „Lernbehinderte“ diagnostiziert worden wären, das sind eben die „integrierten Lernbehinderten“. - Ich persönlich lehne inzwischen die Ausdehnung des Begriffs „Behinderung“ auf die sog. „Lernbehinderten“ radikal ab, habe diesen Begriff schon vor 20 Jahren nur ungern im Titel unseres ersten Buches aus Verkaufsgründen verwendet. Dass der Begriff „behindert“ inzwischen auf bald jede Form von kaum weltbewegenden Schulschwächen ausgedehnt ist, kann höchstens den Menschen mit Behinderungen im eigentlichen Sinne des Wortes schaden. Weltbewegend ist vielmehr die wieder zunehmend abnehmende Akzeptanz von „Leistungsschwachen“. Und die Bereitschaft von („Regel“-)Lehrern, Schüler mit Schulschwierigkeiten in ihrer Klasse zu akzeptieren und deren Förderung als ihre selbstverständliche Aufgabe als Pädagogen zu sehen, nimmt mit dem pervertierten Verständnis von der Integrationsvision zunehmen ab. Nun merke ich, dass ich mich zu sehr ereifere - so dass meine andere begonnene Arbeit unerledigt im Computer wartet. Als gleichsam abrundenden Teil meiner zwanzigjährigen Forschung zu Integration und Separation haben wir am 1. September nochmals ein dreijähriges Nationalfondsprojekt begonnen (Beschreibung unter: http: / / www.urshaeberlin.ch/ PDF-Doku mente/ NF%20Haeb%20Eck.pdf ). Mit freundlichen Grüssen Prof. Dr. Urs Haeberlin Mail gesendet am 27. September 2007, 09: 36  Sehr geehrter Herr Haeberlin Vielen herzlichen Dank für Ihre ausführlichen Worte. Die Begriffsbezeichnung „behindert“ ist wirklich ein Problem. Doch diese Bezeichnung wird in unserer Gesellschaft, die so auf Leistung, Karriere und Wohlstand aus ist, nie gänzlich verschwinden. Ich denke auch, dass irgendeine andere Begriffsbezeichnung die Etikettierung nie verschwinden lässt. Wenn ich heute die integrierten Kinder anschaue, frage ich mich, ob sie auch wirklich integriert sind. Auf den ersten Blick sieht man alles so positiv. Oft werden aber gerade diese Kinder vom Schulischen Heilpädagogen in einem anderen Zimmer einzeln betreut, und eine neue Separation wird durch die Integration geschaffen. Ich war früher auch als Primarlehrer tätig. Jetzt würde ich in der Primarschule ganz anders unterrichten und die Kinder mit besonderem Förderbedarf [die besonderen Kinder : -)] so akzeptieren und hinnehmen, wie sie sind. Doch zurück zu meiner Frage: Die integrierten lernbehinderten Schüler zählen aber auch nach 20 Jahren immer noch zu den unbeliebten, abgelehnten Schülern, und sie schätzen ihr Wohlbefinden und ihre Akzeptanz in der Klasse schlechter ein als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler? Die Gesellschaft hat sich leider noch nicht verändert. Unter all diesen Umständen hat ein geschützter Rahmen, also eine Sonderschule, in meinen Augen immer noch seine Berechtigung. Unterrichte ich doch Schülerinnen und Schüler, die einst in der Regelklasse ständig ausgelacht, überfordert und in ihrem Selbstwertge- VHN 2/ 2008 145 Integration - Fragen und Antworten fühl verletzt wurden. Der „Schonraum“ hilft ihnen, sich wieder zu stärken. Zudem werden sie professionell begleitet, gefördert und gefordert. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es ganz anders wäre und eine „inklusive“ Schule funktionieren würde. Mit besten Grüssen aus dem Ländle Oliver Kranz Mail gesendet am 27. September 2007, 22: 04  Sehr geehrter Herr Kranz Natürlich bleibt das auch weiterhin so in unseren Schulen, dass Kinder mit bestimmten Merkmalen wie schwache Leistungen, Herkunft aus gesellschaftlich wenig geachteten Familien, Namen, die auf -ic enden usw. in den Klassen oft kaum Anerkennung haben und sozial als Außenseiter behandelt werden. Nur geschieht dies in den Schulklassen auch dann, wenn einige Kinder als „lernbehindert“ in die Sonderklasse überwiesen worden sind; dann sind einfach wieder andere Kinder die Schwächsten in der Klasse, die von den andern ausgelacht werden. - Aber das Hoffnungsvolle ist, dass es doch immer wieder auch Lehrer und Lehrerinnen gibt, die es verstehen, in ihrer Klasse die Hackordnung zu mildern und ein Klima der Toleranz zu schaffen. Da ich selbst sechs Jahre überzeugter Sonderklassenlehrer war, hänge ich auch immer noch an der Idee des Schonraums. Und meine damaligen Schüler haben mir bei einem Klassenabend als 40-jährige Erwachsene bestätigt, dass sie außerordentlich gerne zu mir in die Schule gekommen sind und das Klima in der Sonderklasse als sehr schön empfunden haben. Aber - und das ist ein wichtiges „aber“ - alle haben mir gesagt, als ich von den neuen Tendenzen zur Integration erzählte, dass sie rückblickend doch sehr gerne in eine „normale“ Klasse gegangen wären … als Sonderklässler sei man eben doch das ganze Leben lang gezeichnet. Solange wir die Sonderklassen haben, sollten wir zumindest alle Möglichkeiten nutzen, die Sonderschüler und die Regelschüler miteinander in Kontakt zu bringen, genau so auch die Sonderklassenlehrer und die Regelklassenlehrer, z. B. auf gemeinsamen Ausflügen, bei gemeinsamer Arbeit im Schülergarten, in gemeinsamen Klassenlagern usw. Soziale Integration ist nicht durch Entscheide der Politiker organisierbar, sondern sie ist eine Frage der Haltung von uns Pädagogen. Und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse sind Momentaufnahmen, die Realitäten ans Licht bringen können, die es nicht einfach zu akzeptieren, sondern zu verändern und zu beeinflussen gilt. Bei dieser Sicht wäre ich sehr enttäuscht, wenn sich im sozialen Klima unserer Schulklassen in den zwanzig Jahren nichts verändert haben sollte. Soziale Strukturen sind ja keine naturwissenschaftlichen Tatsachen, die so bleiben, wie sie einmal sind. Natürlich ist mir klar, dass ich Sie verunsichere, obschon Sie von mir eigentlich nichts anderes als Sicherheit bezüglich der Aussagen über unsere Forschung haben wollten. Wenn schon - dann müssten Sie die Aussagen sicherlich auch mit dem Ergebnis ergänzen, dass wir mit unseren Forschungen eben auch gezeigt hatten, dass vergleichbar schwache Schüler in den Sonderklassen in den Fächern Sprache und Rechnen weniger Fortschritte machen als in Regelklassen. Damit kommt man dann schnell ins Grübeln: Warum ist der geschützte Rahmen eine weniger erfolgreiche Lernumgebung als die ungeschützte heterogene Regelklasse? Ich wünsche Ihnen weiterhin viel pädagogisches Engagement für benachteiligte Kinder und grüsse freundlich Prof. Dr. Urs Haeberlin Mail gesendet am 1. Oktober 2007, 12: 59  Sehr geehrter Herr Haeberlin Spannend wäre einfach zu sehen, ob die Leistungen in Mathe und Deutsch viel höher sind als in VHN 2/ 2008 146 Urs Haeberlin, Oliver Kranz der Sonderschule. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ein Schüler oder eine Schülerin mit besonderen Bildungsbedürfnissen in der Regelschule „viel“ größere Fortschritte erzielen soll als in der Sonderklasse. Wenn alle anderen Punkte gegen eine Integration sprechen (Akzeptanz, Selbstwertgefühl,…) frage ich mich, ob die besseren Leistungen in Mathe und Deutsch so wichtig sind. Jedes Jahr verbringt meine Klasse eine Lagerwoche mit Regelschülern in den „Liechtensteiner Alpen“. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass solche gemeinsamen Tätigkeiten für alle Beteiligten wichtig sind - sonst würde ich dies ja nicht machen. Können Sie sich auch vorstellen, geistig oder schwer geistig behinderte Kinder in Regelschulen zu unterrichten? Mit den besten Grüssen aus dem FL Oliver Kranz Mail gesendet am 1. Oktober 2007, 14: 42  Sehr geehrter Herr Kranz Aus der Forschung wissen wir allerdings auch, dass das Selbstwertgefühl von Sonderschülern nicht von Dauer ist; je näher das Ende der obligatorischen Schulzeit rückt, umso stärker wendet sich nämlich das Selbstwertgefühl wieder ins Negative. Das ist auch verständlich, weil der Schüler zunehmend mit den beruflichen Aussichten konfrontiert wird. Ich bin völlig Ihrer Meinung, dass man den Schulleistungen in den Hauptfächern Rechnen und Sprache zu viel Gewicht gibt. Aber ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Auftrags an die Volksschulen besteht nun einmal darin, dies zu vermitteln. Und es ist natürlich schon irritierend, wenn wir festgestellt haben, dass vergleichbar schwache Schüler in diesen Kulturtechniken in Sonderklassen nicht besser, ja, sogar weniger erfolgreich gefördert werden, als dies in Regelklassen der Fall ist - und zwar auch bei „stiller Integration“, d. h. ohne zusätzliche sonderpädagogische Förderung. Teilweise geht es wohl bei diesem Ergebnis um die Einflüsse einer heterogenen Bezugsgruppe. Zum andern Teil kann auch vermutet werden, dass Sonderklassenlehrer der Förderung in den Kulturtechniken weniger Gewicht geben als der emotionalen und sozialen Erziehung. Unsere beunruhigenden Ergebnisse sollten meines Erachtens von den Sonderklassenlehrern als Appell genommen werden, der Förderung von mathematischen und sprachlichen Leistungen mehr Beachtung zu schenken. Noch wichtiger ist natürlich, dass den Sonderschullehrern in der Ausbildung gute Grundlagen zur effizienten Förderung in Mathematik und Sprache vermittelt werden. Sonderschullehrer müssten ja in wirksamer Didaktik am allerbesten von allen Lehrern ausgebildet sein. Guten Mathematik- und Sprachunterricht zu machen, heißt ja noch lange nicht, dabei die Ganzheitlichkeit unserer Schüler zu vernachlässigen und auf Projektunterricht, Wochenpläne, Gruppenarbeit, Schul- und Klassenfeiern und andere wichtige reformpädagogische Elemente zu verzichten. Ihre Frage, ob ich mir vorstellen könne, dass alle Kinder bis hin zu schwer geistig behinderten Schülerinnen und Schülern in der Regelklassen unterrichtet werden können, bejahe ich zumindest für Kindergarten und Primarschule spontan. Natürlich nicht im pervertierten Integrationsmodell mit den „Köfferli-Pädagogen“, die von Schulzimmer zu Schulzimmer oder von Schulhaus zu Schulhaus wandern und ein oder zwei Stunden pro Woche ähnlich wie Logopädinnen mit einem Kind eine halbe Stunde „Therapie“ machen. Die Akzeptanz von Kindern mit einer - nach Alltagsverständnis - „echten“ Behinderung ist sowohl bei den „Regelschul“-Kindern wie bei den Eltern der „Nicht-Behinderten“ in der Regel bedeutend größer als die Akzeptanz von Kindern aus Ausländerfamilien und aus gesellschaftlich verachteten Familien. Wir haben dies in einem von uns initiierten Versuch in einem Freiburger Schulhaus sehr eindrücklich beobachten können. Natürlich braucht ein solches Schulhaus ausreichend heilpädagogische Ressourcen, Schulische Heilpädagoginnen, die VHN 2/ 2008 147 Integration - Fragen und Antworten aber nicht unbedingt auf eine Sonderklasse konzentriert sein müssen, sondern die sich als Teil des gesamten Lehrerteams des Schulhauses verstehen und je nach Bedarf, der sich in den Teambesprechungen ergibt, den andern Klassen unterstützend zur Seite stehen. Wir haben allerdings auch beobachtet, dass in den oberen Klassen (Sek I) bei den nicht-behinderten Jugendlichen das Bedürfnis immer größer wird, sich ihre Peer-Group so auszuwählen, dass meistens keine Jugendlichen mit geistiger Behinderung darin Platz finden. Es gilt dann, für die geistig Behinderten Lebensräume zu finden, in welchen sie in möglichst geringer Abhängigkeit und in Offenheit zur Gemeinschaft aller Menschen lernen und leben können. Mit freundlichen Grüssen Prof. Dr. Urs Haeberlin Mail gesendet am 2. Oktober 2007, 07: 40  Guten Morgen Herr Haeberlin Ehrlich gesagt, bin ich sehr stolz, mit Ihnen in E-Mail-Kontakt zu stehen. Ihr Name wurde in meiner Ausbildung zum Schulischen Heilpädagogen an der PHZ Luzern oft erwähnt. Da bei uns die Integrationswelle auch anzieht, werde ich in absehbarer Zeit von der Sonderschule (Heilpädagogisches Zentrum) in die Regelschule wechseln müssen und hoffe, dass ich kein „Köfferli-Pädagoge“ werde. Bei uns in Liechtenstein wurde vor vielen Jahren mit der Abschaffung der Hilfsschule ein EGU-Unterricht (Ergänzungsunterricht) eingeführt. Jedes Schulhaus erhält ein Kontingent von Ergänzungsstunden. Konkret sieht dies so aus, dass die Anzahl Schülerinnen und Schüler von der 2. bis 5. Klasse mit dem Faktor 0.33 multipliziert wird. Die Schulleitung kann dann in Absprache mit dem Team diese Förderstunden auf die jeweiligen Klassen aufteilen, wobei darauf geachtet wird, dass jede Klasse mindestens drei Lektionen heilpädagogische Unterstützung von einem schulischen Heilpädagogen erhält. Bei Integrationskindern kann die Unterstützung auf bis zu zehn Lektionen pro Kind ausgebaut werden. Diese zusätzlichen Lektionen werden vom Gesamtkontingent nicht abgebucht. Die Voraussetzungen sind also recht „feudal“. Trotzdem muss bei den Regelklassenlehrpersonen noch ein Umdenken stattfinden. Sie fühlen sich bei der Integration von Leistungsschwachen oft sehr unter Druck gesetzt und meinen, sie müssen nun auch dieser Schülergruppe den kompletten Lernstoff „eintrichtern“. Vielleicht erwarten auch die Eltern zu viel, und dies setzt die Lehrpersonen unter zusätzlichen Druck. Mal sehen, wie sich die Weichen für meine weitere Berufswelt stellen. Ehrlich gesagt, verlange ich von meinen Schülerinnen und Schülern in der Sonderschule sehr viel. Ich fördere die Fächer Mathematik und Deutsch stark. Da ich die ersten fünf Jahre meiner Lehrertätigkeit als Primarlehrer bestritt, ging ich mit demselben Schwung und Elan an meine Arbeit in der Sonderschule, machte Diktate, Grammatik, Lesetraining, … Sie können sich nicht vorstellen, wie teils Kinder mit einer leichten geistigen Behinderung nun in der Rechtschreibung sattelfest sind. Ich wünsche Ihnen alles Gute und bedanke mich recht herzlich für diesen äußerst interessanten und spannenden E-Mail-Wechsel. Mit freundlichen Grüssen Oliver Kranz Schulischer Heilpädagoge Prof. Dr. Urs Haeberlin Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ Schweiz Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg Oliver Kranz Heilpädagogisches Zentrum des Fürstentums Liechtenstein Bildgass 1 FL-9494 Schaan E-Mail: Kranz.Oliver@schulen.li