Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Professionalität und Non-Professionalität in der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung
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Martin Th. Hahn
Professionalität und Non-Professionalität im Rückblick Betrachten wir die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung unter historischem Aspekt, so stellen wir fest, dass bei der Absicherung ihrer physischen Existenz und der Unterstützung der Realisierung ihrer Lebensqualität in der Vergangenheit in unterschiedlichen Zeiträumen „Profis“ und „Laien“ („Non-Profis“) in unterschiedlichen Anteilen, aber immer in Wechselwirkung zueinander auf diese Lebenswirklichkeit einwirkten. Einwirkungsart, -qualität, -intensität und Einwirkungsgröße hingen ab von gesellschaftlichen Einstellungen, direkt gelebter Solidarität, von wissenschaftlichem Erkenntnisstand und materiellen Ressourcen. Viele Beispiele könnten belegen, dass es schon immer einen Bedarf an Non-Professionalität (Laien, Ehrenamtliche, nicht speziell Qualifizierte) und einen Bedarf an Professionalität (Spezialisten, „Sonderpädagogen“) gegeben hat. Und weitere Beispiele könnten belegen, dass es Wechsel in der Bewertung der „Non-Profis“ gegeben hat. So führten Erkenntniszugewinne dazu, dass die Eltern („Laien“) zum verlängerten Arm der Spezialisten wurden und nach deren Anweisungen das Kind zu „behandeln“ hatten, ehe sie sich – dank der systemischen Betrachtungsweise – als anerkannte „Experten“ in die Lebenswirklichkeit ihres Kindes einbringen konnten. Die beiden Einflussgrößen „Professionalität“ und „Non-Professionalität“ ergänzten sich im Idealfall gegenseitig bei der Verfolgung des Ziels der optimalen Realisierung von Zuständen des Wohlbefindens im Leben von Menschen mit Behinderung.
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237 VHN, 77. Jg., S. 237 - 239 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Trend Professionalität und Non-Professionalität in der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung 1 Martin Th. Hahn Professionalität und Non-Professionalität im Rückblick Betrachten wir die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung unter historischem Aspekt, so stellen wir fest, dass bei der Absicherung ihrer physischen Existenz und der Unterstützung der Realisierung ihrer Lebensqualität in der Vergangenheit in unterschiedlichen Zeiträumen „Profis“ und „Laien“ („Non-Profis“) in unterschiedlichen Anteilen, aber immer in Wechselwirkung zueinander auf diese Lebenswirklichkeit einwirkten. Einwirkungsart, -qualität, -intensität und Einwirkungsgröße hingen ab von gesellschaftlichen Einstellungen, direkt gelebter Solidarität, von wissenschaftlichem Erkenntnisstand und materiellen Ressourcen. Viele Beispiele könnten belegen, dass es schon immer einen Bedarf an Non-Professionalität (Laien, Ehrenamtliche, nicht speziell Qualifizierte) und einen Bedarf an Professionalität (Spezialisten, „Sonderpädagogen“) gegeben hat. Und weitere Beispiele könnten belegen, dass es Wechsel in der Bewertung der „Non-Profis“ gegeben hat. So führten Erkenntniszugewinne dazu, dass die Eltern („Laien“) zum verlängerten Arm der Spezialisten wurden und nach deren Anweisungen das Kind zu „behandeln“ hatten, ehe sie sich - dank der systemischen Betrachtungsweise - als anerkannte „Experten“ in die Lebenswirklichkeit ihres Kindes einbringen konnten. Die beiden Einflussgrößen „Professionalität“ und „Non-Professionalität“ ergänzten sich im Idealfall gegenseitig bei der Verfolgung des Ziels der optimalen Realisierung von Zuständen des Wohlbefindens im Leben von Menschen mit Behinderung. Die beiden Einflussgrößen in der gegenwärtigen Situation Einerseits rückten Weiterentwicklungen in den Humanwissenschaften, insbesondere der Medizin, Psychologie und Pädagogik, die Bedeutung des Spezialistentums in den Vordergrund (u. a. medizinisch-therapeutische Maßnahmen, Spezialpädagogik in Sondereinrichtungen, Entwicklungs- und Lernpsychologie). Andererseits fand gleichzeitig das „Normalisierungsprinzip“ mehr und mehr Beachtung in der Lebenswirklichkeit (Schlagwort: „Normalisierung“, nicht „Sonderung“), unterstützt auch von anthropologischen und soziologischen Erkenntnissen. Daraus entstanden - vor allem auf der Theorie- Ebene und der Ebene der Institutionen - spannungsgeladene Diskussionen, weil der Einfluss der Professionalität bedroht schien (heiß diskutiert: die schulische Integration). Mit zwei Beispielen sei die gegenwärtige Situation angedeutet: Bei der Dezentralisierung der Wohnsituation für Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung stieß man auf ein großes Defizit an Professionalität bei der medizinisch-therapeutischen Versorgung: Niedergelassene Ärzte konnten nichts anfangen mit Menschen mit einer geistigen Behinderung, in Krankenhäusern stand man hilflos den zu betreuenden Patienten gegenüber, es gab keinen Zahnarzt, der sich auf die Behandlung eines Menschen mit Problemverhalten einlassen wollte usw. - In diesen Situationen artikuliert sich nach wie vor ein Bedarf an Spezialistentum (trotz weitgehend realisierter „Normalisierung“). Dies gilt ebenso VHN 3/ 2008 238 Martin Th. Hahn für „Integrationsklassen“ an allgemeinen Schulen, wo ein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ über dort tätige „Sonderpädagogen“ oder „Stützlehrer“ abgedeckt wird. Daneben besteht bei der Dezentralisierung der Wohnsituation für den o. g. Personenkreis ein großer Bedarf an ehrenamtlich tätigen Menschen. Der Leiter eines Projektes für dezentrales Wohnen mit kleinen Einheiten auf dem Dorf - auch für Menschen mit schwerer Behinderung - stellt fest: „Ohne ehrenamtliche Helfer aus der Dorfbevölkerung geht das nicht.“ - Wir wissen auch, dass Angebote im Bereich von Freizeit, Reisen oder Erwachsenenbildung ohne ehrenamtliche „Helfer“ nicht möglich wären. Die Beispiele belegen, dass nach wie vor beide Variablen ihre Existenzberechtigung besitzen und dass es Lösungen geben kann, beiden ihren nach aktuellem Erkenntnisstand möglichen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit zu gewährleisten. Die dritte Variable Die dezentrale Wohnsituation von Menschen mit Behinderung (Verbleib in der Familie, Besuch öffentlicher Bildungseinrichtungen, Wechsel in eine außerfamiliäre Wohnsituation, z. B. ins Wohnheim, der Besuch einer Werkstatt, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben/ SGB IX) vergrößert zwangsläufig rein quantitativ den Anteil der „Non-Professionalität“ in der Lebenswirklichkeit gegenüber der Professionalität. Eingebettet in diesen Veränderungsprozess verlaufen Empowermentprozesse der Menschen mit Behinderung. Sie finden Freiheitsräume für Selbstbestimmung, die sie verantwortlich ausfüllen können. Ihre Schul- und Erwachsenenbildung sowie das alltägliche Leben in der „Normsituation“ befähigt sie dazu. Sie entdecken und bemächtigten sich eigener Kräfte, mit denen sie sich selbst - auch mit Unterstützung anderer - in die Gestaltung ihrer Lebenswirklichkeit einbringen können. Diese ist nun nicht mehr nur dem Kräftespiel von Professionalität und Non-Professionalität ausgesetzt, sondern wird mehr und mehr von einer dritten Variable geprägt: dem Menschen mit Behinderung, der seine Bedürfnisse selbst artikuliert, in seine Lebenswirklichkeit einbringt und dort - ggf. mit Unterstützern - realisiert. Er begehrt gegen Fremdbestimmung auf, gleich, woher sie kommt (Beispiele: selbstständiges Wohnen, Sexualität und partnerschaftliches Zusammenleben, persönliches Budget). Veränderungen Es geht um ein neues Verständnis von „Professionalität“, jenseits von erwerbbaren Ausbildungsqualifikationen, dem ein Menschenbild zugrunde liegt, das besagt, dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, über die selbstbestimmte Realisierung von Bedürfnissen in der Gemeinschaft anderer Menschen zu Zuständen des Wohlbefindens in seinem Leben zu gelangen. Profis und Non-Profis haben dabei eine Begleiter- und Unterstützerfunktion. Sie müssen die dritte Variable als Realität anerkennen und den ihr anthropologisch zustehenden Raum freigeben. Sie müssen erkennen, dass ihr Einwirkungsziel auf die Lebenswirklichkeit - die Realisierung von Zuständen des Wohlbefindens im Leben von Menschen mit Behinderung - nicht im Gegensatz zur dritten Variable steht, und dass es notwendig ist, im Einklang mit ihr die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung aus deren Sicht zu begreifen, deren Bedürfnisse wahrzunehmen und ihre Handlungen als subjektiv sinnvoll verstehen zu lernen. Profis und Non-Profis unterscheiden sich bezüglich dieser Aufgabenstellungen nicht. Sie können ihr aber nur gerecht werden, wenn sie sich im Zusammenleben einem diskursiven Dialog mit Menschen mit Behinderung nicht entziehen. Dies bedeutet aber, dass sie kommunikative Fähigkeiten ausbilden und Zeit und Raum dafür zur Verfügung stellen müssen - auch bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung. VHN 3/ 2008 239 Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung Trend: diskursive Kommunikationsprozesse Die in der Vergangenheit deutlich erkennbaren Unterschiede zwischen professionellem und non-professionellem Einfluss auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung werden sich verwischen zugunsten eines Modells der gemeinsamen Begleitung und Unterstützung der Verwirklichung von Bedürfnissen in der Gemeinschaft anderer Menschen, ohne dass dabei der qualifizierte Spezialist als Unterstützer ausgeschlossen wird. Grundlage eines solchen Einflusses sind diskursive Kommunikationsprozesse, deren Ausdehnung durch eine dezentralisierte Wohn- und Lebenssituation zwar begünstigt wird, die aber als permanente Aufgabenstellung im Zusammenleben vor uns steht. Sie artikuliert sich in Assistenzhandlungen bei der Pflege, bei Empowermentprozessen, in der Erziehung, bei der Vermittlung von Grenzen, im alltäglichen familiären und außerfamiliären Zusammenleben, bei der Arbeit und in der Freizeit, in Beiräten von Einrichtungen, im Vereinsleben, im Ernstnehmen von Selbsthilfeorganisationen, in Familie und Wohnheim, im Unterricht der Schule, in der Kirchengemeinde, bei öffentlichen Veranstaltungen aller Art, bei Begegnungen im Supermarkt, in öffentlichen Verkehrsmitteln … Wenn wir Zustände des Wohlbefindens im Leben von Menschen mit - auch schwerer - Behinderung ermöglichen wollen, müssen wir diskursive Kommunikationsprozesse ermöglichen. Sie sind wesenhafte Bestandteile von Inklusion, Integration und Teilhabe. Anmerkung 1 Den folgenden Ausführungen liegen Erfahrungen und Einblicke in die Lebenswirklichkeit von Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung zugrunde. Es wird angenommen, dass die darauf fußenden grundsätzlichen Aussagen auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit anderen Behinderungen der unterschiedlichsten Schweregrade übertragbar sind. Dr. Martin Th. Hahn Universitätsprofessor i. R. Humboldt-Universität zu Berlin Hochbergstraße 1 D-772501 Gammertingen E-Mail: Martin-Th.Hahn@t-online.de
