Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Behinderung und Öffentlichkeit
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Barbara Bucher-Wachter
Barbara Jeltsch-Schudel
Mittwoch, 6. Februar 2008 Liebe Barbara, noch im alten Jahr haben wir vereinbart, dass wir miteinander das schwierige Thema Behinderung und Öffentlichkeit erörtern wollen. Beide hatten wir vor Weihnachten noch viel zu tun und im Januar ebenfalls, sodass wir die Zeit nach Fasnacht ins Auge fassten. Heute ist Aschermittwoch, und damit gehört die Fasnacht mit ihrem bunten Treiben bereits der Vergangenheit an. Du wohnst in einer Stadt, in der die Fasnacht ausgiebig gefeiert wird, und als Luzernerin beteiligst du dich mit deiner Familie auch daran. Du hast mir erzählt, dass es dir Spaß macht, dich mit deinen Söhnen fasnächtlich zu verkleiden und auf die Strasse zu gehen, teilzunehmen und teilzuhaben an der Ausgelassenheit, am Sich-zur-Schau-Stellen mit euren Kostümen. Dies mag banal klingen, hat aber in eurem Fall eine besondere Note: Dein jüngerer Sohn ist behindert, seine Behinderung ist sichtbar. An Fasnacht sind ja alle auf der Strasse, alle begegnen einander, und mich interessiert, was es für dich bedeutet, in dieser Situation mit Mario hinauszugehen. Ist es ein besonderer Anlass, der sich wesentlich vom alltäglichen Hinausgehen unterscheidet? Wie erlebst du ihn, was bedeutet er dir?
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VHN, 77. Jg., S. 240 - 247 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 240 Dialog Behinderung und Öffentlichkeit Barbara Bucher-Wachter im Dialog mit Barbara Jeltsch-Schudel Mittwoch, 6. Februar 2008 + Liebe Barbara, noch im alten Jahr haben wir vereinbart, dass wir miteinander das schwierige Thema Behinderung und Öffentlichkeit erörtern wollen. Beide hatten wir vor Weihnachten noch viel zu tun und im Januar ebenfalls, sodass wir die Zeit nach Fasnacht ins Auge fassten. Heute ist Aschermittwoch, und damit gehört die Fasnacht mit ihrem bunten Treiben bereits der Vergangenheit an. Du wohnst in einer Stadt, in der die Fasnacht ausgiebig gefeiert wird, und als Luzernerin beteiligst du dich mit deiner Familie auch daran. Du hast mir erzählt, dass es dir Spaß macht, dich mit deinen Söhnen fasnächtlich zu verkleiden und auf die Strasse zu gehen, teilzunehmen und teilzuhaben an der Ausgelassenheit, am Sich-zur-Schau-Stellen mit euren Kostümen. Dies mag banal klingen, hat aber in eurem Fall eine besondere Note: Dein jüngerer Sohn ist behindert, seine Behinderung ist sichtbar. An Fasnacht sind ja alle auf der Strasse, alle begegnen einander, und mich interessiert, was es für dich bedeutet, in dieser Situation mit Mario hinauszugehen. Ist es ein besonderer Anlass, der sich wesentlich vom alltäglichen Hinausgehen unterscheidet? Wie erlebst du ihn, was bedeutet er dir? Wahrscheinlich ist diese Narrenzeit doch recht abgehoben von der übrigen Zeit im Jahr. Im üblichen Alltagstrott: Wie erlebst du, wenn du mit Mario unterwegs bist, Kontakte und Begegnungen mit Außenstehenden, Fremden, Unbekannten? Gibt es Erfahrungen, welche an bestimmte Orte (Strasse, öffentliche Verkehrsmittel, Supermarkt) gebunden sind? Ich stelle dir Fragen über Fragen, weil meine Perspektive und entsprechend meine Erfahrungen als Fachfrau ganz anders sind. Versuche ich unsere je eigenen Situationen im Bezug auf unser Diskussionsthema „Behinderung und Öffentlichkeit“ zu analysieren, so springt ein erster Unterschied unmittelbar ins Auge. Wenn du dich mit Mario irgendwo bewegst, ist das Thema Behinderung immer latent vorhanden, da das Down- Syndrom ja sichtbar ist. Wahrscheinlich ist die Wahrnehmung der Personen, welche euch begegnen, auch unterschiedlich: Die einen nehmen Mario wahr als ein Kind, das fröhlich ist oder weint (was auch immer), und andere sehen zuerst seine Merkmale des Down-Syndroms und beschränken sich darauf. Wie erlebst du dies, und wie gehst du damit um? Wenn ich mit mir unbekannten Personen, z. B. auf einer Zugfahrt, das Thema Behinderung aufgreifen will, dann muss ich es aktiv einbringen oder mindestens darauf reagieren, wenn davon die Rede ist. Dies ist grundlegend anders als bei dir, weil ich bloß Wörter zur Verfügung habe, welche nie dieselbe emotionale Wirkung erzielen wie das Erleben und Beobachten eines Kindes. Du kannst meine Situation natürlich auch erleben, wenn du ohne Mario unterwegs bist, hast also damit die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen. In diesem ersten Brief sind erst wenige Aspekte unseres Themas angeschnitten. Aber ich wage es nicht, dir noch mehr Fragen zu stellen … Vielmehr schaue ich deinen Antworten mit Spannung entgegen. Herzliche Grüsse Barbara Jeltsch VHN 3/ 2008 241 Behinderung und Öffentlichkeit Samstag, 9. Februar 2008 + Liebe Barbara, ich danke dir für deinen Brief mit den interessanten Themen, die du aufgreifst. Es fällt mir nicht ganz leicht, deine Fragen zu beantworten, da es für mich fast normal geworden ist, ein „nicht normales“ Kind zu haben. Aber ich werde versuchen, unsere Situation zu reflektieren. Ja, ich habe die Fasnachtstage sehr genossen. Mario ist ein richtiger Fasnächtler. Er mag die Musik, die vielen bunt gekleideten Menschen, die originellen Sujets. Ich hatte viel Arbeit in unsere Verkleidung gesteckt. Mario schätzte es sehr, auf unserem Fasnachtswagen zu sitzen und von den anderen Fasnächtlern bewundert zu werden. Die Menschen schauten uns an, und wir freuten uns darüber, dass sie so positiv auf uns und unsere Verkleidung reagierten. Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen an der Fasnacht Mario ganz ohne Hemmungen begegneten und mit ihm sprachen. Wenn ich ihn ja auf diese Art „ausstelle“, ist es auch legitim, dass er angeschaut und angesprochen wird. Was ich an der Fasnacht geradezu suche, nämlich das Angeschaut-Werden, das Auffallen, das Anderssein, das ist für mich im Alltag manchmal belastend. Unsere Familie fällt eben immer auf, manchmal mehr, manchmal weniger. Dabei ist für mich nicht das typische Aussehen ein Problem, sondern Marios Benehmen, das sich von anderen Kindern unterscheidet. Mario ist lauter und ungeschickter als andere Kinder. Sein Verhalten empfinde ich in der Öffentlichkeit immer wieder als Belastung. Mario liebt es, wenn er die Aufmerksamkeit fremder Leute auf sich ziehen kann. Er geht ganz spontan auf andere zu und versucht zu erreichen, dass sie ihn beachten. Dazu ist ihm jedes Mittel recht: Er stellt sich den fremden Menschen in den Weg und sagt: „Stopp“; er fasst die Leute an, indem er an ihren Jacken, Hosen oder Haaren zieht; er ruft den Menschen „Hallo“ zu oder schneidet eine Grimasse und streckt ihnen die Zunge raus. Er liebt es, Fremden seine Spielsachen oder seine Mütze vor die Füße zu werfen und wartet dann darauf, dass sie ihm diese zurückgeben. Mario provoziert bewusst in der Öffentlichkeit und will, dass die Leute ihm Beachtung schenken. Nicht immer geschieht dies auf charmante Art, was uns unangenehm ist. Wir möchten gerne unbeobachtet durch die Stadt spazieren, doch unser Sohn verunmöglicht uns das. Er zwingt uns, mit Menschen in Kontakt zu treten, mit denen wir zu diesem Zeitpunkt gar nichts zu tun haben wollen. Auch beim Einkaufen versteht Mario es, innert kurzer Zeit alle Blicke auf sich zu ziehen. Er protestiert lautstark und wirft sich auf den Boden, wenn ich ihn nicht alles einkaufen lasse, was er gerne möchte. Wir Erwachsenen können noch besser mit solchen Situationen umgehen als Marios 12-jähriger Bruder. Er ist in einem Alter, in dem er keinesfalls auffallen möchte, und schämt sich, wenn Mario die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zieht. Viele Menschen reagieren aber recht gelassen oder ausgesprochen freundlich und VHN 3/ 2008 242 Barbara Bucher-Wachter, Barbara Jeltsch-Schudel verständnisvoll auf Marios Kontaktaufnahme. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass Mario bisher den „Kleinkinder-Bonus“ genoss. Bestimmt werden fremde Personen weniger verständnisvoll reagieren, wenn Mario älter ist. Dann wird nämlich auch der Körperkontakt, den Mario sucht, nicht mehr toleriert. Dieser Tatsache schaue ich mit Unbehagen entgegen. Dass Mario anders aussieht, erleichtert mir oftmals die Situation. Seine Behinderung ist sichtbar, und das schätze ich. Dadurch haben die Leute mehr Verständnis für sein Benehmen. Ich habe auch Kontakt zu Familien mit Kindern, deren geistige Behinderung auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Diese Familien bekommen immer wieder zu hören, ihr Kind sei schlecht erzogen. Ich bin froh, dass fremde Menschen Marios Verhalten aufgrund seines Aussehens richtig einordnen können, indem sie realisieren, dass Mario eine geistige Behinderung hat. Für mich ist es unverständlich, wenn Eltern ihr Kind mit Down-Syndrom einer Operation unterziehen, um seine Behinderung weniger sichtbar zu machen. Als könnte man damit die Behinderung wegoperieren … Einen Menschen mit Down-Syndrom erkennt man ja nicht nur an seinen typischen Gesichtsmerkmalen, sondern ebenso an seiner Kopfform, seiner Körperhaltung, seiner Gangart, seinen Bewegungen, seiner Sprache, seinem Verhalten. Als Mario zur Welt kam, war es für mich das Hauptthema, wie mein Umfeld bzw. die fremden Menschen, denen ich im Alltag begegne, wohl auf Marios „Anderssein“ reagieren würde(n). Ich stellte mir vor, wie sie alle in den Kinderwagen starren würden, mit bösen oder entsetzten Blicken. Ich hatte solche Angst davor, nun für immer „gezeichnet“ zu sein, diesen Makel zu haben. Von nun an würde ich die Mutter eines behinderten Kindes sein. Nicht in erster Linie mehr Frau oder Mutter, sondern „behinderte“ Mutter. Wir würden nun für immer eine „behinderte Familie“ sein. Diese Vorstellung machte mir große Angst. Die Zeit nach der Geburt von Mario war sehr schwierig für mich. Jede Frau, die ein gesundes Kind gebärt, wird bewundert und beneidet, alle gratulieren und freuen sich mit ihr. Wenn man ein behindertes Kind zur Welt bringt, sind die Leute bestürzt, betroffen, zeigen Mitleid. Obwohl sich das Baby äußerlich kaum von anderen Neugeborenen unterscheidet, machen wir Erwachsenen einen großen Unterschied: Ein behindertes Kind gilt in der Gesellschaft als minderwertiges Kind. Es wird nie die Leistungsanforderungen, die an uns sogenannt normale Menschen gestellt werden, erfüllen können. Es wird immer auf Hilfe angewiesen sein. Daher wird es auch nie ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft sein. Die ersten Tage und Wochen nach der Geburt konnte ich unser Baby leider nicht unbeschwert genießen. Das Schwierigste damals war, mit ihm in die Öffentlichkeit zu treten. Immer wieder überlegten wir, wie wir Marios „Anderssein“ thematisieren könnten. Wir entschlossen uns, die Geburtskarte mit einem Brief zu ergänzen, in dem wir über unsere Ängste und Sorgen, aber auch über unsere Freuden und Hoffnungen berichteten. Diese Entscheidung damals war die richtige für uns. Da wir so offen darüber sprachen, kamen die Verwandten und Bekannten ganz offen auf uns zu. Das erleichterte uns das Hinaustreten in die Gesellschaft. Natürlich gab es auch schmerzhafte Situationen. In unserer Nachbarschaft wohnten Leute, die Berührungsängste hatten und uns auswichen. Eine Bekannte schaute zum Beispiel nie in den Kinderwagen. Das verletzte mich damals sehr. Wenn ich mir überlege, wie fremde Menschen heute auf Mario reagieren, dann habe ich den Eindruck, dass nur eine Minderheit bewusst wegschaut oder Mario entsetzt anstarrt, wie ich mir das damals im Wochenbett vorgestellt hatte. In deinem Brief hast du bereits angesprochen, dass die Gefühle, die fremde Leute uns und unserem behinderten Kind entgegenbringen, wohl von Ablehnung über Verständnis bis hin zu Sympathie oder Mitleid reichen. Erstaunlich viele Menschen begegnen uns mit Wohlwollen. Ich frage mich, ob in unserer katholischen Gegend das Verständnis für Familien VHN 3/ 2008 243 Behinderung und Öffentlichkeit mit einem behinderten Kind größer ist. Viele Menschen sprechen mich auch auf das Thema der „pränatalen Diagnostik“ an und erkundigen sich, ob ich schon vor der Geburt von Marios Behinderung gewusst habe. Wenn ich dann verneine und erkläre, dass wir auf invasive Tests verzichtet hätten, weil wir nicht vor die Wahl gestellt werden wollten, hören wir immer wieder Sätze wie: „Das möchte ich auch nicht. Ich habe auch nicht getestet“ usw. Schwierig ist es, sich gegen das gut gemeinte Mitleid fremder Menschen zu wehren. Wenn wir als Familie eine Ausstellung oder eine Messe besuchen, wird Mario überhäuft mit Geschenken und Preisen. Kann er sich zum Beispiel nicht sofort zwischen zwei Dingen entscheiden, so bekommt er eben beide. Erkläre ich dann, dass Mario sich sehr wohl entscheiden könne, zeigen die Leute wenig Verständnis für meine „Härte“: Ein so armes Kind sollte man doch wenigstens beschenken dürfen… Nun habe ich die Situation unserer Familie aus meiner Sicht geschildert. Dabei wies ich aber noch nicht auf Hilfestellungen und Erleichterungen für den Alltag hin. Vielleicht können wir dieses Thema in unserem nächsten Brief aufgreifen. Zum Schluss dieses Schreibens erlaube ich mir noch eine Bemerkung: Es fällt mir auf, dass Mario in der Öffentlichkeit angeschaut wird. Ich möchte aber nicht jedem Vorbeigehenden unterstellen, dass er dabei negative Gefühle für unser Kind hegt. Es ist schwierig, Blicke zu interpretieren. Dabei kommt mir immer wieder in den Sinn, wie unsere Familie wenige Wochen nach Marios Geburt einen Ausflug in den Zoo gemacht hatte. Als ich am Kiosk Eis kaufte, kam mir ein Vater entgegen mit einem kleinen Jungen, der das Down-Syndrom hatte. Als selbst Betroffene interessierte ich mich natürlich sehr für die beiden. Ich bin überzeugt, dass ich sie mit offenem Mund anstarrte habe. Leider hatte ich nicht den Mut, sie anzusprechen, und so interpretierte der Vater mein Starren wohl ganz falsch. Dieses Ereignis rufe ich mir in Erinnerung, wenn ich spüre, dass Mario angeschaut wird. Ich weiß ja nicht, aus welchem Grund die Leute schauen. Es muss nicht Ablehnung sein … Nun freue ich mich auf deine Antwort mit Fragen, die mich zu weiterem Nachdenken anregen. Liebe Grüsse Barbara Bucher-Wachter Sonntag, 10. Februar 2008 + Liebe Barbara, mit großem Interesse habe ich deinen Brief gelesen. Es beeindruckt mich, wie vielfältig du deine Situation darstellst, mir als einer Außenstehenden Einblicke in deinen Alltag und deine Familie gewährst und Eindrücke über dein Nachdenken darüber vermittelst. Damit thematisierst du ja das Thema Behinderung und Öffentlichkeit gleich auf mehreren Ebenen: Auf der konkreten Ebene schilderst du, was du mit Mario erlebst, wie er sich verhält und wie die Leute auf ihn reagieren, was ja durchaus facettenreich ist - an der Fasnacht anders als während des restlichen Jahres. Auf einer reflexiven Ebene denkst du darüber nach, was diese Erlebnisse in dir auslösen und welche Gefühle sie wecken. Du thematisierst aber auch dein eigenes Handeln, und dies nicht nur in Bezug auf Situationen mit Mario, sondern auch von dir selber. Besonders die Zoo-Szene, die du so eindrücklich beschreibst, gehört dazu. Es scheint mir aber noch eine dritte Ebene zu geben: Unsere Briefe werden veröffentlicht, und somit trittst du nochmals auf eine weitere Weise an die Öffentlichkeit. Das heißt, dass du Leserinnen und Leser, wozu auch Personen gehören, die dir völlig fremd sind, an deinen Beschreibungen und Reflexionen teilhaben lässt. Gerade dies ist ein Thema, welches mich sehr beschäftigt. Wie - so frage ich mich - kann in den Medien, also Gefäßen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, das Thema Behinderung so thematisiert werden, dass weder VHN 3/ 2008 244 Barbara Bucher-Wachter, Barbara Jeltsch-Schudel der Eindruck entsteht, Behinderung sei nur etwas furchtbar Belastendes, noch die Vorstellung geweckt wird, Behinderung sei völlig normal. Denn jede der beiden Auffassungen führt im Extremfall zu äußerst problematischen Konsequenzen: Wird Behinderung nur mit Leid gleichgesetzt, so müsste sie in letzter Konsequenz ausgemerzt werden (Überlegungen, welche in allen Zeiten zu finden sind); wird Behinderung dagegen als „normal“ angesehen, so kann dies zu einer Verweigerung jeglicher Unterstützung führen. Deine Beschreibungen dagegen geben eine breite Palette wieder, Belastungen, Sorgen und Ängste genauso wie Freuden, gute Erfahrungen und Unterstützung. Sie vermitteln einen vielfältigen und reichen Einblick in deine Situation, welcher keine plakativen Kurzschlüsse zulässt. Diesen Reichtum der Sonnen- und Schattenseiten weiterzugeben, erscheint mir manchmal sehr schwierig, eine Art Balance-Akt eigentlich. Ich denke dabei an eine Erfahrung, welche ich kürzlich gemacht habe. Eine Wochenzeitung wollte einen Beitrag über Down- Syndrom veröffentlichen. Die Journalistin führte ein sehr ausführliches Gespräch mit mir, in dem ich ihr gerade dies, nämlich die verschiedenen Facetten, näherbringen wollte. Sie besuchte außerdem zwei Familien mit Kindern mit Down-Syndrom und führte auch Gespräche mit den beiden Müttern. Uns allen gegenüber wirkte sie sehr interessiert. Die Leseproben, jeweils nur kurze Ausschnitte, die wir danach erhielten, waren nicht bloß enttäuschend, sondern für die beiden Mütter auch verletzend. Die Informationen, welche die Journalistin eingeholt hatte, waren teilweise verfälscht und teilweise in einer reißerischen Art und Weise dargestellt. Wir sahen uns alle drei veranlasst, unsere Mitwirkung umgehend zurückzuziehen. Die Journalistin reagierte verärgert darauf und schrieb uns, wir müssten uns nicht wundern, wenn man über Down-Syndrom nur noch in Fachzeitschriften berichten würde. Ich habe dir dies so ausführlich geschildert, weil mir deutlich geworden ist, wie schwierig PR-Arbeit ist. Authentizität ist gefragt, weil damit bei den Konsumenten (den Leserinnen und Lesern) Emotionen geweckt werden. Emotionen werden aber auch frei bei denen, welche die Authentizität gewährleisten, indem sie Einblick nehmen lassen in ihre persönliche Situation. Es gebührt ihnen großer Respekt dafür, dass sie bereit sind, Dinge über sich preiszugeben, welche sie selber unmittelbar berühren. Denn wenn sie dies tun, kann mehr als nur Information weitergegeben werden. Ihre Erfahrungen und Emotionen können die Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen beeinflussen - und dies ist wichtig, wenn behinderte Menschen als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft betrachtet werden sollen. Du erzählst davon in deinem Brief, wenn du deine Situation nach Marios Geburt schilderst. Damals hattest du verschiedene Ängste in Bezug auf Marios Zukunft. Sind diese bei dir heute noch dieselben oder haben sie sich verändert? Gegen Schluss des Briefes erwähnst du, dass du dich über Hilfestellungen und Erleichterungen im Alltag noch nicht geäußert hast. Könnte es sein, dass gerade diese Unterstützung für dich einiges relativiert hat für die Gegenwart genauso wie für einen Blick in die Zukunft? Noch ist zwar die Frage nach einer Wohnsituation außerhalb des Elternhauses bei Mario nicht spruchreif, aber sie wird in ein paar Jahren gestellt werden müssen. Im Zusammenhang mit den sozialpolitischen Veränderungen, die auf uns alle zukommen - gerade auch mit dem Neuen Finanzausgleich (NFA) -, wird es wohl notwendig sein, als Betroffene und als Fachpersonen mit der Öffentlichkeit und mit den politischen Entscheidungsträgern in Kontakt zu stehen. Denn es geht ja darum, dass adäquate Angebote erhalten und verbessert werden können. Wie könnten oder sollten deiner Meinung nach unsere Bemühungen dafür aussehen? … Du siehst, dass ich unterstelle, dass es nur gemeinsame Bemühungen sein können; Alleingänge scheinen mir wenig sinnvoll zu sein. VHN 3/ 2008 245 Behinderung und Öffentlichkeit Ja, liebe Barbara, wieder stelle ich dir eine Menge Fragen. Vielleicht sind sie gar nicht wirklich zu beantworten, gerade weil es ja kaum je so einfache Zusammenhänge gibt, dass man leichtfüßig etwas als gut und etwas als schlecht bewerten kann. Auf deinen nächsten Brief warte ich voller Interesse. Liebe Grüsse Barbara Jeltsch Donnerstag, 14. Februar + Liebe Barbara, in deiner ausführlichen Antwort auf meinen Brief hast du erneut spannende Aspekte rund ums Thema Behinderung und Öffentlichkeit aufgegriffen, zu denen ich mich gerne äußern will. Deiner These, dass ich als Mutter mein Kind mit seiner Behinderung weder nur als Bereicherung noch nur als Belastung empfinde, kann ich vollumfänglich zustimmen. Mario ist in erster Linie ein Kind. Er fordert mich heraus, aber ich erlebe auch sehr viel Freude mit ihm. Beide Seiten gehören doch zum Mensch-Sein. Wie man diese zwei Seiten in den Medien angemessen thematisieren kann, finde ich eine schwer zu beantwortende Frage. Deine Erfahrungen zeigen ja, wie sehr die Berichterstattung eben mit dem Bild zusammenhängt, das die Journalistin bzw. der Journalist von einem Menschen mit Behinderung hat. Ausschlaggebend ist außerdem, aus welcher Motivation heraus diese Person das Thema Behinderung aufgreift. Sie zensuriert und stellt Aspekte in den Vordergrund, die ihr wichtig erscheinen. Ich würde es begrüßen, wenn immer wieder Beiträge über behinderte Menschen und über Familien mit behinderten Kindern publiziert werden, gerade auch in Zeitungen und Zeitschriften, die von einer breiten Bevölkerungsschicht gelesen werden. Trotz schlechter Erfahrungen sollten wir immer wieder anstreben, dass Berichte von Betroffenen in den Medien erscheinen, die aber - wie in eurem Fall - notfalls korrigiert oder zurückgezogen werden. Ich bin der Meinung, Kinder bzw. Menschen mit Behinderungen sollten mehr sichtbar sein. Ich würde mir wünschen, dass sie ebenso von Plakatwänden herunterlachen oder Titelseiten schmücken wie andere Menschen und Kinder auch, und zwar nicht nur dann, wenn es sich ums Thema „Behinderung“ dreht. Erscheint eine Reportage über einen behinderten Menschen, so geht es meistens nicht in erster Linie um ihn als Menschen mit seinen Bedürfnissen und Emotionen, sondern sein Handicap steht im Vordergrund. Das hast du ja bereits in deinem ersten Brief angesprochen. Es gibt wohl wirklich keine einfachen Rezepte, um zu erreichen, dass Behinderte hauptsächlich als Menschen wahrgenommen werden. Als ein gelungenes Beispiel möchte ich den Film „Cyrill“ von Stefan Jäger nennen. Cyrill, ein junger Mann mit Down-Syndrom, interviewte in diesem Film verschiedene prominente Schweizerinnen und Schweizer. Dabei ging es vordergründig überhaupt nicht ums Thema „Behinderung“. Auch Theatergruppen wie zum Beispiel HORA leisten in dieser Hinsicht sehr wertvolle Arbeit. Wir sind uns ja einig, dass wir Menschen mit einer Behinderung nicht verstecken wollen, sondern sie zeigen und überall teilhaben lassen, wo es nur geht. Verstecken hat ja mit Scham zu tun. Wenn wir Eltern uns unserer Kinder wegen schämen, dann werden wir die Öffentlichkeit meiden. Wichtig aber ist, dass wir in der Öffentlichkeit präsent sind und den Leuten vermitteln, dass eben Mensch-Sein viele Facetten hat und nicht mit so genannter Normalität gleichzusetzen ist. In den ersten, schwierigen Tagen nach Marios Geburt hatte ich tatsächlich Angst davor, dass ich nun ein Kind geboren hatte, für das ich mich vielleicht schämen müsse und auf das ich nie stolz sein könne. Aber heute weiß ich: Ich hatte mich getäuscht! Ich bin heute ebenso stolz auf Mario wie auf unseren älteren Sohn. Dasselbe beobachte ich auch VHN 3/ 2008 246 Barbara Bucher-Wachter, Barbara Jeltsch-Schudel bei meinem Mann. Die Gefühle für unsere doch so unterschiedlichen Kinder sind die gleichen, nur der Maßstab, an dem wir die beiden messen, ist verschieden. Am Schluss meines ersten Briefes habe ich versprochen, dass ich mich über Erleichterungen im Alltag mit einem behinderten Kind äußern werde. Ich erachte es als sehr wichtig, dass wir Eltern ein gestärktes Selbstwertgefühl haben. Als Mutter spüre ich da einen großen Unterschied: Wenn ich mich selbst wohl fühle in meiner Haut und meinen Alltag gut bewältigen kann, vermittle ich ein positives Bild einer Familie mit einem behinderten Kind in der Gesellschaft. Viele Menschen um mich herum reagieren entsprechend positiv auf mich und mein Kind. Außerdem bin ich weniger verletzbar, zum Beispiel aufgrund eines Blickes oder einer Bemerkung. Wenn ich mich als Mutter aber überfordert und am Ende meiner Kräfte fühle, reagiere ich viel ungeduldiger. Marios Antwort kommt dann sehr prompt: Er trotzt, und es ist viel anstrengender, ihn zu betreuen. Dadurch falle ich in der Öffentlichkeit mehr auf, was mir in einer solchen Situation unangenehm ist. Daher steht für mich die Frage im Vordergrund: Wie kann die Gesellschaft mich so weit unterstützen, dass ich als Mutter bzw. wir als Familie mit unserem Kind nicht überfordert sind und unseren Alltag gut meistern können. Dazu braucht es eine Reihe von Entlastungsangeboten, die frei wählbar sein sollten. Wenn wir als Eltern uns immer wieder auch als Mann und Frau fühlen können, haben wir mehr Kraft für unsere Rolle als Eltern. Viele Bekannte können es sich nicht vorstellen, ein Kind zu haben, das sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird. Für mich legte sich im Laufe der Zeit das Unbehagen, das ich empfand, wenn ich an Marios Zukunft dachte. Ich weiß, dass unser Kind nicht zwingend nur auf unsere Hilfe angewiesen sein wird. Wir als Familie sollen und dürfen fremde Hilfe annehmen, die uns entlastet. Aber es ist wichtig, dass die Gesellschaft genügend adäquate Hilfs- und Entlastungsangebote zur Verfügung stellt. Ich habe das Glück, dass wir bei unseren Eltern große Unterstützung finden. Dadurch haben sich meine Ängste, mit der Geburt von Mario eine „behinderte Mutter“ bzw. eine „behinderte Familie“ zu werden, weit gehend zerschlagen. Mein Mann und ich wie auch Marios Bruder haben dank tatkräftiger familiärer Unterstützung immer wieder die Möglichkeit, uns auch in anderen Rollen zu erleben und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen. Heute sind wir in der glücklichen Lage zu sagen: Wir sind keine behinderte Familie, sondern eine Familie mit einem behinderten Kind. Für mich ist das ein großer Unterschied! Wichtig ist auch, dass Väter und Mütter von behinderten Kindern keine Schuldgefühle entwickeln. Wer sich dem Partner/ der Partnerin oder dem Kind gegenüber „schuldig“ fühlt, ist eher gefährdet, sich aufzuopfern. Das ist meines Erachtens sehr problematisch. Wer keine Schuldgefühle kennt, kann sich wohl auch besser gegen sein Kind abgrenzen und fühlt sich nicht für alles verantwortlich. Um Eltern vor Schuldgefühlen zu schützen, sind meiner Ansicht nach sachliche Informationen rund um dieses Thema sehr wichtig. Einerseits braucht es Aufklärung auf breiter Ebene, das heißt, dass auch die „normale Bevölkerung“ weiß, dass Behinderung jedem passieren kann. Auf der anderen Seite sind neu betroffene Eltern auf Fachpersonen angewiesen, die sie einfühlsam und kompetent beraten. Hier wäre es sehr zu begrüßen, wenn Ärzte und Pflegefachpersonen in dieser Hinsicht besser ausgebildet würden. Meistens sind sie die ersten Bezugspersonen der Eltern nach der Geburt eines Kindes mit einer Behinderung. Zu den Entlastungsangeboten für Menschen mit Behinderungen zählen auch Wohnmöglichkeiten außerhalb des Elternhauses, wie du sie in deinem Brief angesprochen hast. Natürlich wird Mario in den nächsten Jahren das Elternhaus noch nicht verlassen. Ich werde es aber befürworten, dass Mario als junger Erwachsener ausziehen und in einer Wohnform leben darf, die seinen Bedürfnissen entspricht. VHN 3/ 2008 247 Behinderung und Öffentlichkeit Wir als Eltern würden es sehr begrüßen, wenn der Neue Finanzausgleich tatsächlich zu weniger Separation, dafür zu mehr Integration führte, sei es in Bezug auf die Schule wie auch auf Wohn- und Arbeitsformen für Erwachsene mit einer Behinderung. Wie du bin auch ich der Meinung, dass sich (leider) auf die Schnelle keine Lösungen und Rezepte zum Thema „Behinderung und Öffentlichkeit“ finden lassen. Aber bestimmt lohnt es sich, an diesen Themen dran zu bleiben und immer wieder darüber nachzudenken und zu diskutieren. Es gäbe noch zahlreiche interessante Aspekte rund um dieses Thema, die wir in unserem Briefwechsel gar nicht angeschnitten haben. In meinen beiden Briefen habe ich versucht, meine ganz individuelle Sicht als Mutter von Mario darzustellen und zu reflektieren. Es ist mir bewusst, dass sich die Situation für andere Eltern von Kindern mit einer (anderen) Behinderung ganz unterschiedlich gestalten kann. Aus diesem Grund schätze ich es sehr, wenn möglichst viele Eltern eine Plattform erhalten, um ihre Situation darzulegen. Es ist so wertvoll, wenn es (Fach-)Leute gibt, die hinsehen und hinhören. Ich danke dir für dein Interesse und dein offenes Ohr! Herzlich Barbara Bucher-Wachter Lic. phil. Barbara Bucher-Wachter Sonnefeld 21 CH-6012 Obernau PD Dr. Barbara Jeltsch-Schudel Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ CH Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: barbara.jeltsch@unifr.ch
