Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Die Universalisierung der Ökonomie - Ursachen, Hintergründe und Folgen
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2008
Markus Dederich
Der Beitrag führt in den Begriff der Ökonomisierung ein und unternimmt den Versuch, relevante Ursachen und Hintergründe herauszuarbeiten. Dabei wird Ökonomisierung als der Tendenz nach universales Prinzip verstanden, das nicht nur in vormals nicht ökonomisch bestimmte Lebensbereiche und Systeme eindringt, sondern auch von den Individuen Besitz ergreift und ihr Wahrnehmen, Denken und Handeln überformt. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht eine problemorientierte Skizze der vielfältigen Auswirkungen der Ökonomisierung des Sozialen.
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Fachbeitrag VHN, 77. Jg., S. 288 - 300 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 288 Die Universalisierung der Ökonomie - Ursachen, Hintergründe und Folgen Markus Dederich Technische Universität Dortmund n Zusammenfassung: Der Beitrag führt in den Begriff der Ökonomisierung ein und unternimmt den Versuch, relevante Ursachen und Hintergründe herauszuarbeiten. Dabei wird Ökonomisierung als der Tendenz nach universales Prinzip verstanden, das nicht nur in vormals nicht ökonomisch bestimmte Lebensbereiche und Systeme eindringt, sondern auch von den Individuen Besitz ergreift und ihr Wahrnehmen, Denken und Handeln überformt. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht eine problemorientierte Skizze der vielfältigen Auswirkungen der Ökonomisierung des Sozialen. Schlüsselbegriffe: Ökonomisierung, Neoliberalismus, Globalisierung, Politik The Universalisation of Economy - Causes, Backgrounds and Consequences n Summary: This article introduces the term “economisation” and attempts to outline its causes and backgrounds. Economisation is considered a kind of universal principle that infiltrates formerly noneconomical systems and areas of life. It takes hold of individuals by reshaping their perception, their thinking and acting. The author’s considerations focus on a problem-oriented view of the manifold effects of economisation in social areas. Keywords: Economisation, neo-liberalism, globalisation, politics Seit etwa 1980 kann man in den hoch entwickelten Industrieländern folgenschwere Transformationsprozesse beobachten, die heute unter dem Begriff der Ökonomisierung diskutiert werden. Infolge der damals greifbar werdenden Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums setzte eine Expansion ökonomischen Denkens und Handelns in praktisch alle Lebensbereiche ein. Es gibt eine Vielfalt von Symptomen für diese Entwicklung: die Privatisierung vormals in öffentlicher Hand befindlicher Versorgungsunternehmen und sozialstaatlicher Einrichtungen, die Reorganisation von Institutionen des Gesundheits- und Bildungssystems nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen, der marktförmige Umbau von Kranken-, Sozial- und Rentenversicherungen, die Einführung aus der Wirtschaft importierter Managementformen und Instrumente zur Steigerung von Effizienz und Effektivität in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, die Forcierung des Wettbewerbs zwischen Krankenversicherungen, Schulen, Universitäten, Pflegeheimen und anderen ,Sozialdienstleistern‘, die Operationalisierung und Quantifizierung von Forschungs- und Bildungsbemühungen, die Implementierung sanktionsbewehrter Instrumente der Selbstverpflichtung (,Zielvereinbarungen‘), Kontrolle von Arbeitsprozessen durch Qualitätsmanagement usw. Diese Entwicklung hat zunächst schleichend begonnen, hat aber in den vergangenen zehn Jahren deutlich an Geschwindigkeit und Schärfe gewonnen. Inzwischen hat sich gezeigt, dass sich vor allem das Sozial- und das Gesundheitssystem in einem tiefgehenden Umbruch befinden, dessen langfristige Folgen erst in Umrissen erkennbar sind. 1 Ökonomisierung - Eine Begriffsklärung In einem engeren Sinne bezeichnet Ökonomisierung die Neuordnung von Institutionen oder Organisationen durch Rationalisierung und die VHN 4/ 2008 289 Die Universalisierung der Ökonomie Entwicklung von am Markt orientierten Kosten-Ertrags-Kalkülen. Durch Festlegung von Output-Zielen und Überwachung von Input und Output durch Controlling wird eine Verbesserung der Produkt- oder Dienstleistungsqualität bei gleichzeitiger Senkung der Kosten (vor allem der Lohnkosten) angestrebt. Reformexperten sind damit beschäftigt, Regierungsapparate, Behörden, Organisationen und Wirtschaftsunternehmen zu ‚verschlanken‘. Dies geschieht durch Deregulierung, Einführung neuer Kontrollsysteme, Neustrukturierung von Bearbeitungs-, Kommunikations- und Verwaltungsabläufen, Erhöhung des Wettbewerbs sowie den Abbau von Personal. Diese enge Fassung des Ökonomisierungsbegriffs blendet jedoch wichtige Aspekte aus. Deshalb wird hier ein weiter gefasstes Verständnis zugrunde gelegt. In diesem weiteren Sinn verweist der Begriff Ökonomisierung auf eine Generalisierung des Ökonomischen, seine Ausweitung auch auf jene Lebensbereiche, in denen bislang nicht-ökonomisches Denken und Handeln leitend war, also auch auf die großen Lebensbereiche Soziales, Gesundheit, Kultur und Bildung (vgl. Speck 1999, 80ff ). In manchen theoretischen oder programmatischen Schriften, die das Vorantreiben der Ökonomisierung zum Ziel haben, geht deren Ausweitung so weit, dass der Unterschied zwischen Ökonomie und den nicht-ökonomischen Lebensbereichen gänzlich zum Verschwinden gebracht wird. Demnach umfasst das Ökonomische alle Formen menschlichen Handelns. Mit Pierre Bourdieu lässt sich die Universalisierung des Ökonomischen als neoliberale Konversion, mit Jürgen Habermas als Kolonialisierung der Lebenswelt, mit Theodor W. Adorno als Verabsolutierung des Tauschprinzips und mit Max Weber als hypostasierte Zweckrationalität begreifen. 2 Ökonomisierung, Gouvernementalität und die neoliberale Gesellschaft Ein zentrales Charakteristikum der Ökonomisierung im weiteren Sinn ist, dass sie nicht an den Grenzen des Individuums Halt macht, sondern in ihm verankert und zu einem zentralen Prinzip der Organisation seines Denkens und Handelns wird. Es sind insbesondere die Studien Michel Foucaults zur ‚Gouvernementalität‘, die ein hilfreiches Analyse- und Begriffsinstrumentarium für die Rekonstruktion dieses Prozesses bereitstellen. Foucault hat den Begriff ‚Gouvernementalität‘ 1978 als Analyseinstrument für die komplexen Prozesse des ‚Regierens‘ eingeführt. Der Terminus soll die Verschränkung von gesellschaftlicher und historischer Realität, die sich in Machtstrukturen verdichtet, und individueller Subjektivität fassen. Am Leitfaden dieses Begriffs wollte Foucault gesellschaftliche Institutionen und soziale Beziehungen mit Blick auf Mechanismen der Menschenführung analysieren. Dabei ging es ihm vor allem um die Wechselwirkung von Herrschaftstechniken und Selbsttechniken und die Frage, wie gesellschaftliche und politische Macht nicht nur äußerliche Herrschaftstechniken bleiben, die Zwang auf das Subjekt ausüben, sondern derart in ihm wirksam werden, dass es sich im gewünschten Sinne selber führt. Nach diesem Denkmodell ist Ökonomisierung nicht repressiv zu verstehen und folglich auch keine moderne Variante von Unterdrückung. Im Gegenteil: Ökonomisierung ist eng mit einem bestimmten ‚Bild‘ vom Menschen gekoppelt, sie entwirft und produziert einen spezifischen Typus von Subjektivität. „Regierung im Sinne Foucaults bezieht sich somit nicht in erster Linie auf die Unterdrückung von Subjektivität, sondern vor allem auf ihre ‚(Selbst-) Produktion‘, oder genauer: auf die Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden können“ (Bröckling/ Krasmann/ Lemke 2000, 29). Wie Foucault (2000) betont, sind Gesetze keineswegs das Hauptinstrument der Regierungskunst. Diese operiert vielmehr mit unterschiedlichen Techniken, die letztlich dazu dienen, das Subjekt auf spezifische Weise zu bilden. Dabei sind transitive und reflexive Momente untrennbar miteinander verwoben: Individuen werden VHN 4/ 2008 290 Markus Dederich geführt und lernen dabei, sich selbst auf bestimmte Weise zu führen. Effekt der Verankerung ökonomischer Prinzipien in den Individuen ist somit eine Selbstführung der Menschen; aus Fremdzwängen werden Selbstzwänge. Denn moderne Individuen werden als Freiheitssubjekte gedacht, die lernen, von ihren Freiheiten einen spezifischen Gebrauch zu machen und in Freiheit eigenverantwortlich zu handeln. Diese freien und rational handelnden Subjekte treffen auf das freie Spiel der Marktkräfte und sehen sich genötigt, sich in dieses Spiel einzubringen und sich in ihm zu behaupten. Das Individuum wird zu einem vorrangig wirtschaftlich und strategisch denkenden Unternehmer in eigener Sache. Menschen ohne Eigeninitiative, Flexibilität, Innovations- und Anpassungsbereitschaft, Mobilität, Dynamik usw. fallen aus dem Kreis freier und rationaler Subjekte heraus. Unter der Hand verwandelt sich „die Freiheit zum Handeln (…) oftmals in einen faktischen Zwang zum Handeln oder eine Entscheidungszumutung. Da die Wahl der Handlungsoption als Ausdruck eines freien Willens erscheint, haben sich die einzelnen die Folgen ihres Handelns selbst zuzuschreiben“ (Bröckling/ Krasmann/ Lemke 2000, 30). Mit dieser Überlegung ist auch der Kern dessen beschrieben, was in der Literatur häufig unter dem Titel ‚Neoliberalismus‘ firmiert. In Anlehnung an Foucault kann Neoliberalismus als spezifische Form politischer Rationalität verstanden werden. Diese zielt auf eine Ökonomisierung des Sozialen im Sinne des Abbaus staatlicher Leistungs- und Sicherungssysteme bei gleichzeitiger Propagierung der Eigenverantwortung der Subjekte, deren selbstregulatorische Kapazitäten durch „Fördern und Fordern“ aufgebaut werden sollen. Neoliberalismus ist nicht allein eine „ideologische Rhetorik“ oder „politökonomische Realität“ (Bröckling/ Krasmann/ Lemke 2000, 8), sondern vor allem „ein politisches Projekt, das darauf zielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als existierend voraussetzt“ (ebd.). Wie sich anhand der neuen Version von Wilhelm Heitmeyers Untersuchung zu den „Deutschen Zuständen“ zeigen lässt, handelt es sich bei solchen Überlegungen keineswegs bloß um Spekulationen kapitalismuskritischer Theoretiker, sondern um empirisch rekonstruierbare Phänomene (vgl. Heitmeyer 2007). Seiner Untersuchung zufolge sind 33,3 % der Deutschen der Ansicht, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen nicht mehr leisten. 34,8 % glauben dies in Bezug auf menschliche Fehler, und etwa 40 % meinen, unsere Gesellschaft nehme zu viel Rücksicht auf Versager. Immerhin etwa 25 % der Befragten stimmen der Aussage zu, moralisches Verhalten sei ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Wie Heitmeyer zeigt, werden diese Auffassungen von ausgeprägt aufstiegsorientierten Personen vertreten oder von jenen, die sich beruflich als nicht erfolgreich einstufen und unteren sozialen Lagen zugeordnet werden können. In diesem Sinne bezeichnet Heitmeyer ökonomistisches Denken als die subjektive Verankerung kapitalistischer Logik in der Gesellschaft. Während ökonomische Prinzipien wie Effizienz und Nützlichkeit immer tiefer in das soziale Leben eindringen und im Denken breiter Bevölkerungskreise verankert werden, werden nicht marktgängige Grundsätze wie Empathie und Fürsorglichkeit in den Hintergrund gedrängt. Dies führt, so Heitmeyer, zu einer Bedrohung des inneren Zusammenhalts der Gesellschaft. Es zeigt sich eine deutliche Tendenz, auch soziale Beziehungen einer Gewinnkalkulation zu unterziehen. Wichtig ist nun, dass die neoliberale Strategie nicht nur Individuen betrifft, sondern auch Kollektive bzw. Institutionen, etwa Unternehmen, Universitäten, Behörden usw. Auch diese sehen sich zunehmend dazu gezwungen, sich um der Selbstbehauptung willen in Freiheit marktförmig zu organisieren und auszurichten. Mit Rose kann man zusammenfassend sagen, dass die Ökonomisierung einerseits darauf abzielt, „den moralischen und psychologischen Pflichtenkatalog des Wirtschaftsbürgers in Rich- VHN 4/ 2008 291 Die Universalisierung der Ökonomie tung auf ein selbstinitiiertes Fortkommen umzuwandeln. Zugleich muss die Steuerung verschiedener Apparate, die zuvor am Sozialen orientiert waren, nach den Vorgaben eines speziellen Bildes des Ökonomischen, nach denen des Marktes, umstrukturiert werden“ (Rose 2000, 94). Im folgenden Abschnitt soll in einem gerafften Überblick gezeigt werden, welche aktuellen Entwicklungen die Ökonomisierung begünstigen bzw. vorantreiben. 3 Hintergründe: Globalisierung und Neoliberalismus Wenn von den Ursachen bzw. Hintergründen der Ökonomisierung gesprochen wird, wird häufig die Globalisierung genannt. Hierbei handelt es sich um einen überaus schillernden und widersprüchlichen Begriff, der einmal als Inbegriff von Modernität und zukunftsweisender Entwicklung gilt, dann wieder als politischer Kampfbegriff verwendet wird, der die Ursachen für fast alle Übel unserer Zeit und den Niedergang der Humanität anzeigen soll. In beiden Verwendungsweisen, der affirmativen und der kritischen, steht er für einen folgenreichen Epochenwechsel. Von der Sache her reicht der Prozess der Globalisierung „mindestens bis auf die Entfaltung und Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse im 19. Jahrhundert, darüber hinaus aber schon auf den Beginn der europäischen Expansion und die Ausbildung eines kapitalistischen Weltsystems seit Anfang des 16. Jahrhunderts“ zurück (Görg 2004, 105). Noch weiter setzt Sloterdijk die Globalisierung an. Er umreißt einen Dreiphasenprozess, bei dem er zwischen einer frühen, im 15. Jahrhundert endenden Phase („morphologische Globalisierung“), der „terrestrischen Globalisierung“ zwischen 1492 und 1945 und einer „elektronischen Globalisierung“, die die Gegenwart und nächste Zukunft bestimmt, unterscheidet (vgl. Sloterdijk 2005, 21f ). In einem engen Sinn wird unter Globalisierung in der Regel die weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten und Prozesse verstanden. Einem weiter gefassten Verständnis zufolge meint Globalisierung eine „Intensivierung wissenschaftlich-technischer, ökonomischer, politischer und kultureller Beziehungen (…), welche die Besonderheit aufweisen, nationalstaatliche Grenzen zu überschreiten und - zumindest der Tendenz nach - auch zu überwinden“ (Butterwegge u. a. 2005, 45). Görg bezeichnet die Globalisierung als politisches Projekt, das eine neue Phase der kapitalistischen Entwicklung markiert und zugleich deren Transformation durch eine Verschiebung sozialer Kräfteverhältnisse. Die Transformation betrifft das Verhältnis von Politik bzw. Staat und Ökonomie sowie jenes von Natur und Kultur und strebt eine „Liberalisierung der Waren- und Finanzströme sowie eine Steigerung der internationalen Konkurrenz“ (2004, 107) an. Eine besondere Bedeutung bei der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung kommt nach einhelliger Auffassung den neuen Kommunikations- und Informationstechnologien zu, auch wenn diese mitunter allzu einseitig fokussiert werden, so etwa bei Sloterdijk (2005). Die ideologische Begründung der Globalisierung liefert der Neoliberalismus. Hierbei handelt es sich um eine politisch-ökonomische Denkrichtung, die letztlich der Formel folgt: Weniger Staat - mehr Markt. Bourdieu zufolge vollzieht sich die Verwirklichung der neoliberalen Utopie „im Rahmen einer transformatorischen (…), destruktiven Arbeit, die mit allen politischen Mitteln (…) versucht, sämtliche kollektiven Strukturen in Frage zu stellen, die der Logik des reinen Marktes irgendwelche Steine in den Weg legen können“ (1998, 110f ). Charakteristisch für den Neoliberalismus sind folgende Prozesse: Die - häufig durch nationale Interessen gesteuerte und forcierte - Internationalisierung der Güterproduktion und des Handels, die Liberalisierung der Finanzmärkte und der möglichst freie Fluss der Kapitalströme, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsverhältnisse, die Deregulierung staatlicher Schutzbestimmungen im Sozialbereich VHN 4/ 2008 292 Markus Dederich bis hin zur Ausdünnung und zum Abbau des Wohlfahrtsstaates, schließlich die Privatisierung und Individualisierung von gesellschaftlichen und sozialen Risiken sowie der Daseinsvorsorge. Dieses Spektrum zeigt, dass sich der Neoliberalismus von einer Wirtschaftstheorie hin zu einer politischen Philosophie und Zivilreligion entwickelt hat, die weite Teile des gesellschaftlichen und individuellen Lebens durchdringt und zu verändern beginnt. Die Deregulierung ist eine wesentliche Komponente in diesem Prozess. Waren die staatlich eingreifende Regulierung der Wirtschaft und der Aufbau des Wohlfahrtssystems der Einsicht geschuldet gewesen, dass eine ungehemmte Wirtschaft die ohnehin bereits vorhandenen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verstärkten, also zu einer Zuspitzung der „sozialen Frage“ führten, so verfolgt die Deregulierung die umgekehrte Strategie. Sie forciert die Rücknahme staatlicher Eingriffe in die Mechanismen des Marktes, die eine soziale Abfederung zumindest seiner härtesten Folgen bezwecken. Dabei kaschieren Begriffe wie ‚Liberalisierung‘ und ‚Deregulierung‘ die Tatsache, dass es keineswegs nur um eine Lockerung oder Auflösung wirtschaftshemmender Regelungen geht. Vielmehr wird umgekehrt eine andere Logik implementiert, die den Regeln des Marktes höchste Priorität einräumt. So schreibt Butterwegge: „Durch die systematische Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, deren Restrukturierung nach dem Marktmodell und die Glorifizierung seiner betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und Konkurrenzmechanismen sollen neue Profitquellen erschlossen, aber auch rigidere Ordnungsprinzipien implementiert werden“ (2005, 51). Längst ist aber klar, dass die so verstandene Globalisierung eine tiefe Paradoxie aufweist: Sie wirkt eben nicht in die Richtung, die sie anzuzeigen scheint, nämlich auf eine vernetzte und tendenziell homogene Weltgesellschaft. Vielmehr werden ökonomische Ungleichheiten, also die Gegensätze zwischen Arm und Reich, zum Teil nur verlagert (nicht aber aufgehoben), zum Teil aber auch potenziert. Dies gilt nicht nur bezüglich des historischen Nord-Südgefälles, sondern auch innerhalb von Ländern und Regionen. Die Globalisierung produziert damit ihr eigenes Gegenteil: „Von Nationalismus, Rassismus und kulturell-religiösen Feindbildern über soziale Fragmentierungen und einer massiven Exklusion ganzer Regionen bis hin zu einer verstärkten Konkurrenz der kapitalistischen Zentren und dem Einsatz militärischer Gewalt“ (Görg 2004, 110). Entgegen häufig zu hörender Behauptungen ist Globalisierung nicht inklusiv, sondern exklusiv. Immer noch sind weite Teile der Weltbevölkerung von den neuen Kommunikationstechnologien, den Vernetzungsprozessen, den Warenströmen und den Profiten der Weltwirtschaft abgekoppelt. Die globale Ökonomisierung hat folglich nicht nur Gewinner, sondern auch viele Verlierer. Bei Sloterdijk heißt es hierzu: „Wer Globalisierung sagt, redet also von einem dynamischen und komfort-animierten artifiziellen Kontinent im Weltmeer der Armut, wenngleich die dominierende affirmative Rhetorik gern den Anschein erweckt, das Weltsystem sei seinem Wesen nach all-inklusiv verfasst“ (2005, 306). Die paradoxen Effekte der Globalisierung sind seit einigen Jahren auch in Ländern wie der Bundesrepublik spürbar. Sie haben u. a. zu Massenarbeitslosigkeit, einer Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und neuer Armut geführt, die nicht nur den von der Erwerbsarbeit abgekoppelten Teil der Bevölkerung trifft, sondern auch viele Beschäftigte im Niedriglohnsektor, die sog. ‚working poor‘ (vgl. Kronauer 2002). Es sind insbesondere diese prekären Lebensbedingungen, die zu einer Zunahme der Marginalisierung und Exklusion derjenigen geführt haben, die als ‚nutzlos‘ oder ‚überflüssig‘ bezeichnet werden (vgl. Schroer 2001). 4 Ökonomisierung des Sozialen Im Kontext der Ökonomisierungsdiskussion ist häufig auf die „Gefahr des Verlustes zentraler VHN 4/ 2008 293 Die Universalisierung der Ökonomie sozial-politischer Errungenschaften und sozialethischer Werte“ (Wilken 2002, 57) hingewiesen worden. Wollte man sehr pointiert formulieren, könnte man mit Blick auf die Eingliederung der Individuen in die Gesellschaft von einer Umstellung von Inklusion auf Exklusion sprechen. War ein gewisses Maß an wohlfahrtsstaatlicher Inklusion im 20. Jahrhundert ein Grundpfeiler der Politik der meisten westeuropäischen Staaten, so zeichnet sich gegenwärtig die Tendenz ab, diese Orientierung durch eine eher partikulare, den einzelnen Menschen stärker auf sich zurückwerfende Sozialversorgung zu ersetzen: Es gibt de facto eine erhebliche Lockerung der sozialen Sicherungssysteme, Bildungschancen und -erfolge sind in hohem Maße abhängig von der sozialen Herkunft, arme und bildungsferne Teile der Bevölkerung partizipieren nur eingeschränkt am Gesundheitssystem. Nach Dörner (2003) lässt sich der Prozess der Ökonomisierung des Sozialen auf gesellschaftliche Veränderungen zurückführen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt haben. Zu jener Zeit wurden die Traditionen selbstorganisierten Helfens in der „Sozialgesellschaft“ (54), in der eine Ethik der Sorge um sich unlösbar mit einer Ethik der Sorge für andere Menschen verschränkt war (vgl. auch Schnell 2008), durch den Staat zunehmend ausgetrocknet. Hilfe wurde professionalisiert und deren Organisation und Finanzierung verstaatlicht. So entwickelte sich das Prinzip des Sozialstaates. Hiermit setzte auch eine bis in die 1970er Jahre andauernde Expansion des Gesundheits- und Sozialsystems ein. Hand in Hand mit der Medizin und der Psychologie brachte dieses System in einem stetigen Prozess immer neue Krankheiten, Behinderungen oder psycho-soziale Auffälligkeiten hervor, die als behandlungs- oder rehabilitationsbedürftig angesehen wurden. Seit etwa 1980 jedoch begann sich zu zeigen, dass dieses System nur unter den Bedingungen eines ständigen wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung funktionieren konnte. Da diese Bedingungen seitdem nicht mehr gegeben sind, stieß auch die Finanzierung des stetig wachsenden Bedarfs an Ressourcen des Gesundheits- und Sozialsystems an ihre Grenzen. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, wurden nach und nach Wirtschaftlichkeitskriterien entwickelt. Durch die Anreicherung des Medizin- und Sozialsystems mit Marktelementen wird aus dem Sozialstaat, wie Dörner (2003, 55) schreibt, die Sozialwirtschaft. Gegenüber einer Orientierung am Wohl des Individuums traten gesamtgesellschaftliche Überlegungen und Kriterien immer stärker in den Vordergrund. Diese Entwicklung mündete schließlich in eine tiefe Sinnkrise des Sozialen. In weiten Teilen der Gesellschaft und quer durch die politischen Lager wird das Soziale zwar einerseits als unverzichtbar für unsere Gesellschaft deklariert, die mit ihm verbundenen Kosten jedoch als bedrohliche Belastung der Wirtschaft und Gefährdung ihrer Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten angesehen. Das Soziale erscheint immer weniger als Bereich eigenen Rechts, der für die ethischen Verpflichtungen und die Humanität der Gesellschaft steht und gegen die Zumutungen der Ökonomie verteidigt werden muss. Tatsächlich führt der „Prozess der ‚Durchkapitalisierung‘ der Gesamtgesellschaft“ (Dörner 2007, 40) zu einer „Umwertung vieler bisher fundierender Werte“ (ebd.): „Konsequent werden (…) Kommunalverwaltungen nach Prinzipien der marktorientierten instrumentellen Vernunft und des Managements zunehmend zu Unternehmen, wobei immer zu unterstreichen ist, dass diese Modernisierung auch Gewinne bringt, während andererseits jedoch auch immer etwas verloren geht. Regionen des Vertrauens werden durch Regionen des merkantilen Vertrages ersetzt“ (ebd.) (zum Vorangehenden vgl. auch Speck 1999). Nun bringt die Ökonomisierung keineswegs ausschließlich Nachteile mit sich. So war das System der Behindertenhilfe in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer bürokratischen, schwerfälligen, unflexiblen, VHN 4/ 2008 294 Markus Dederich wenig transparenten und monopolistische Züge aufweisenden Wohlfahrtsindustrie geworden, die - wie alle großen Systeme - einen beträchtlichen Teil ihrer Ressourcen in die Systemerhaltung und Systemausweitung steckte. Da beispielsweise das System der Behindertenhilfe nur in geringem Maße Außenkontrollen ausgesetzt war, wurde unwirtschaftliches Handeln kaum erkannt und schon gar nicht sanktioniert (vgl. Braun 2004). Neben dem „Mangel an Effektivitäts- und Effizienzinteresse bei der verbandlichen Wohlfahrtsproduktion“ (Wilken 1998, 226) erwies sich die „Sozial- und Wohlfahrtsrhetorik“ (ebd.) zunehmend als unglaubwürdig, wurde doch deutlich, dass sie trotz unermüdlicher Wiederholung oft nicht mehr handlungsleitend für die Praxis war. Hinzu kam die Kritik am System, die seit den 1970er Jahren durch behinderte Menschen selbst artikuliert wurde. Dieser Kritik zufolge führen viele Institutionen zu Marginalisierung, Unterdrückung und Fremdbestimmung und arbeiten an den tatsächlichen Bedarfen behinderter und chronisch kranker Menschen vorbei. Insofern schien die Ökonomisierung tatsächlich die Chance zu eröffnen, beispielsweise durch eine stärkere Nachfrageorientierung zu einer positiven Veränderung zu kommen (vgl. Wilken 1998, 227). Ebenso wurde mit dem durch Kontrollen und Evaluation gestützten Qualitätsmanagement die Hoffnung verbunden, trotz des Wirtschaftlichkeitsdrucks Effektivität und Effizienz erhöhen und die Qualität der Hilfe substanziell verbessern zu können. 5 Folgen der Ökonomisierung des Sozialen Die Hoffnungen auf substanzielle Verbesserungen haben sich allerdings bis heute nur sehr bedingt erfüllt. Vieles deutet vielmehr darauf hin, dass der sachlich begründete Innovationsbedarf für eine ökonomistische Umstrukturierung des Sozial- und Gesundheitssystems genutzt wird. Hierfür gibt es eine ganze Reihe von Symptomen und Indizien, die in der Fachliteratur in den vergangenen Jahren herausgearbeitet wurden (im Überblick vgl. Speck 1999, Schäper 2006). Denn die ökonomische Perspektive (die gleichermaßen einen expansiv zu nutzenden Markt wie hinunterzudrosselnde Kosten im Visier hat) lässt sich problemlos an die durchaus bedenkenswerte Kritik an der institutionalisierten Wohlfahrtspflege und den Auswüchsen des Medizinsystems anschließen. In einer Situation, in der die Einnahmen des Staates hinter seinen Ausgaben zurückbleiben, lässt sich die Forderung nach mehr Effizienz (und deren Erreichung durch eine Zunahme von Kontrollen) gut mit dem Postulat der Rentabilität verbinden. Dies geht, wie zahlreiche Kritiker immer wieder betonen, zunehmend auf Kosten einer humanen (pädagogischen, medizinischen, pflegerischen, therapeutischen) Qualität heilender und helfender Berufe. Auf einige der wichtigsten Folgen der Ökonomisierung soll nachfolgend kurz hingewiesen werden. Dabei ist sich der Verfasser durchaus darüber im Klaren, dass diese Ausführungen aufgrund ihres einführenden Charakters sehr allgemein gehalten sind und mit Zuspitzungen arbeiten, die weiterer Ausdifferenzierung und detaillierter Begründung bedürften. Ebenso muss hervorgehoben werden, dass einige der genannten Entwicklungstendenzen auf konstitutive Grundprobleme der Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe hinweisen und diese lediglich stärker hervortreten bzw. in einem neuen Licht erscheinen lassen. Das gilt beispielsweise für das Spannungsverhältnis von System und Lebenswelt oder das durchaus prekäre Verhältnis von Abhängigkeit und Autonomie bzw. Selbst- und Fremdbestimmung, das, wie bereits deutlich wurde, ein recht wichtiger Gegenstand der Ökonomisierungsdebatten ist. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die nachfolgend aufgeführten Punkte eine kritische Stoßrichtung haben und nicht darauf abzielen, Lösungswege aufzuzeigen. VHN 4/ 2008 295 Die Universalisierung der Ökonomie 5.1 Benachteiligung derjenigen, die am teuersten sind Mit der einseitigen Orientierung an volks- und betriebswirtschaftlichen Prinzipien wächst die Wahrscheinlichkeit der Bevorzugung jener Menschen durch das Sozial- und Medizinsystem, die einen geringeren Hilfebedarf haben und bei denen schnellere Folgen zu erwarten sind (vgl. Dörner 2007, 42). Menschen mit schwersten Behinderungen und die größer werdende Zahl chronisch kranker Menschen sind diejenigen, bei denen sich intensive und damit kostspielige Behandlungen bzw. Betreuung in ökonomischer Hinsicht am wenigsten lohnen. Daher gehören sie zu denjenigen, bei denen die Versuche, Kosten zu sparen, besonders verlockend sind. Drei exemplarische Indizien für diese Entwicklung sind die folgenden: Erstens wird seit vielen Jahren von Gesundheitsökonomen, Politikern und Philosophen immer wieder die Frage aufgeworfen, ob sich der hohe Kostenaufwand für schwerstkranke und mehrfachbehinderte Menschen noch lohne und ob es nicht geradezu ein sozialethisches Gebot sei, die in diesem Bereich anfallenden Ausgaben in lukrativere Bereiche umzulenken (vgl. Schernus 2007 a). Zweitens wird gegenwärtig auch zu Zwecken der Kostensenkung ambulant stationäres Wohnen ausgebaut. Trotz der deutlichen Nachfrage dieses Betreuungsangebots für schwerbehinderte Menschen reichen die zur Verfügung stehenden Ressourcen für diesen Personenkreis nicht aus. „Die Kostenreduzierungsfalle führt zur Absenkung von Standards und zur Unterversorgung schwer beeinträchtigter Menschen“ (Bremer 2007, 19f ). Drittens ist in Folge der rasant gestiegenen Ausgaben für die Eingliederungshilfe seit Einführung der Pflegeversicherung im stationären Bereich ein stetiges Ansteigen von Menschen mit geistiger Behinderung in Pflegeeinrichtungen zu verzeichnen. Diese der Entlastung der Sozialhilfeträger dienende Verlagerung führt zu einer erneuten Ausgrenzung dieses Personenkreises und wird durch einen erheblichen Verlust an pädagogischer Qualität erkauft. 5.2 Die Überlagerung sozialer durch ökonomische Qualitätsstandards Zu den deutlichsten Symptomen der Veränderung im Medizin- und Sozialsystem gehören die Entwicklung und die Einführung von Instrumenten des Qualitätsmanagements. Ohne Zweifel können diese Instrumente hilfreich sein, medizinische oder helfende Handlungen transparenter zu machen, deren Qualität anhand von umschriebenen Kriterien zu erfassen, den Ressourceneinsatz zu optimieren und zu besseren (pädagogisch, medizinisch, pflegerisch oder therapeutisch definierten) Ergebnissen zu kommen. Jedoch führen die Bestrebungen, medizinische, pädagogische, sozialarbeiterische und rehabilitative Arbeit einer Qualitätskontrolle zuzuführen und Qualitätssicherung und -entwicklung zu ermöglichen, zumindest der Tendenz nach über Objektivierungs- und Quantifizierungsversuche einerseits zu einer Standardisierung von Unterstützungs- und Betreuungsleistungen, andererseits zu einer Ausblendung all jener Aspekte, die sich einer Objektivierung und Standardisierung entziehen. Dies hat mehrere Konsequenzen. Erstens bilden die Objektivierungs- und Quantifizierungsversuche hervorragende Anknüpfungspunkte für Ökonomisierungsbestrebungen. Durch die stetige Vermengung ökonomischer und philosophisch-anthropologischer Qualitätsbegriffe (vgl. Schernus 2007 b) wird das Qualitätsmanagement zum Einfallstor für die Versuche, Ressourcen zu sparen und Kosten einzudämmen. Zweitens ist die Einführung solcher Systeme mit einer Zunahme bürokratischer Kontrollen verbunden, die die Effektivität und Effizienz der ergriffenen Maßnahmen überprüfen sollen, tatsächlich aber zu einem (im Zweifelsfall auch juristisch relevanten) Dokumentationszwang führen. Die durch diesen Zwang gebundene Zeit steht nicht mehr für die eigentliche pädagogische, therapeutische, pflegerische Arbeit zur Verfügung. Drittens werden kranke oder unterstützungsbedürftige Menschen durch Maßnahmen wie die Einführung von Fallpau- VHN 4/ 2008 296 Markus Dederich schalen, Disease-Management-Programmen oder „Diagnosis-Related-Groups“ bei gleichzeitiger Ausblendung personaler, biografie- oder kontextspezifischer Besonderheiten homogenisiert. Philosophisch gesprochen: Während das Besondere nur noch als Spezialfall des Allgemeinen gilt, gerät das Singuläre völlig aus dem Blick. Viertens werden all jene Aspekte, die sich nicht quantifizieren und standardisieren lassen, irrelevant, etwa das persönliche, dialogische Beziehungsgeschehen, dem in pädagogischen und therapeutischen Arbeitsfeldern ebenso eine zentrale Bedeutung zukommt wie in der ‚sprechenden Medizin‘. Folgerichtig kommt es beispielsweise zu einem Verlust an Zuwendungszeit durch Ärzte und Betreuende auf der Beziehungsebene und zu einem Vorrang formaler Korrektheit gegenüber den Anliegen der Patienten bzw. Betreuten. 5.3 Kunden und Dienstleister Ein weiteres Anzeichen für die Ökonomisierung des Sozialen ist die Infiltration der Sprache mit Termini aus der Ökonomie. Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist der Begriff des Kunden (vgl. Beck 1999). Auch wenn zugestanden werden kann, dass diese Begrifflichkeit der Emanzipation der Klientel gegenüber paternalistischen Überlegenheits- und Herrschaftsansprüchen der Systeme und der Professionellen zugute kommen soll, ist ihre ökonomische Konnotation unübersehbar und hoch problematisch. Krankheiten, Behinderungen und psychosoziale Probleme haben immer auch ein Moment von Widerfahrnis, sind in dieser Hinsicht also nicht selbst gewählt, sondern stoßen den Menschen zu und werden von diesen erlitten. Das neoliberale Subjektkonzept jedoch blendet Abhängigkeit, Verletzbarkeit und Angewiesenheit ebenso aus wie das fundamentalethische Motiv einer nicht auf Reziprozität beruhenden Sorge für den anderen Menschen. Der Begriff des ‚Kunden‘ ist auch insofern irreführend, als beispielsweise Menschen mit Behinderungen oder psychisch Kranke in der Regel nicht freiwillig mit entsprechenden Institutionen in Kontakt kommen. Schließlich ist der Begriff auch deshalb verfehlt, weil es ein zentrales Anliegen der Wirtschaft ist, Kunden an Unternehmen, Produkte oder Dienstleistungen zu binden. Demgegenüber müsste das Ziel der Behindertenhilfe und Sozialen Arbeit immer sein, die Lage hilfebedürftiger Menschen so weit zu verbessern, dass sie möglichst weitgehend unabhängig von Hilfe werden (vgl. Braun 2004, 35f ). Ebenso problematisch ist die Rede von Professionellen bzw. Organisationen als ‚Dienstleistern‘. Denn Professionelle erbringen nicht einfach Dienstleistungen, sondern sie stehen in einer Beziehung zu den Menschen, die ihnen in ihrem Krank- oder Behindertsein, in ihrer körperlichen, psychischen oder sozialen Not, in ihrer Verletzbarkeit oder Abhängigkeit gegenübertreten. Hier ist eine zentrale Dimension von Qualität angesprochen, die sich kaum definieren und sicherlich nicht quantifizieren lässt. Entsprechend stellt Matthiessen (2005) fest: „Freilich sind mitmenschliche Anteilnahme und Empathie, diagnostische Treffsicherheit, therapeutische Phantasie und professionell qualifiziertes Urteilsvermögen - aller gegenwärtigen Merkantilisierungsmanie zum Trotz - keine marktkompatiblen ökonomischen Größen. Ihre finanzielle Honorierung spielt nicht die Rolle eines Gegenwertes, sondern stets nur diejenige ihrer Ermöglichung. Dies gilt auch für das Gut Gesundheit, das eben nicht ein gesundheitstechnologisch herstellbares Produkt ist, das auf dem Feld vermarktungsfähiger ökonomischer Güter beheimatet ist“ (96). 5.4 Verschlechterte Arbeitsbedingungen Die Ökonomisierung mitsamt ihren gesamtgesellschaftlichen und politischen Hintergründen bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Professionen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem. Zu den Indizien für diese Entwicklung gehören der häufig beklagte Mangel an qualifiziertem Personal, die Zunahme von Verwal- VHN 4/ 2008 297 Die Universalisierung der Ökonomie tungs- und Dokumentationsarbeiten und der Mangel an Zeit für die Kommunikation zwischen den Professionellen und ihrer Klientel. Wie Kersting (2007) in Bezug auf die Pflege auf der Basis einer empirischen Untersuchung herausarbeitet, sehen sich Professionelle unter den Bedingungen der Ökonomisierung zwei gegenläufigen Anforderungen ausgesetzt, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind, „die Anpassung an die Prinzipien einer an wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Gesellschaft und ihren Institutionen und damit an die Funktionslogik der institutionalisierten Pflege und zugleich die Forderung nach moralischem Handeln in dem Sinne, dass das normative Postulat (die Orientierung am individuellen Patienten und seinen Bedürfnissen) verwirklicht werden soll“ (Kersting 2007, 241). Auch hierbei handelt es sich um ein konstitutives Grundproblem helfender Berufe. Dieses wird nicht durch die Ökonomisierung erzeugt, wohl aber verschärft. Aus der Spannung zwischen normativen Ansprüchen und Funktionalität resultiert ein unauflösbarer Widerspruch, den praktisch alle Professionellen durch diverse Desensibilisierungsstrategien bewältigen. Diese laufen im Kern darauf hinaus, sich selbst gegenüber den Kälte verursachenden Strukturen und Arbeitsbedingungen ‚kalt‘ zu machen. Damit indessen, so Kersting, „stabilisieren sie das, womit sie sich zu schützen suchen“ (259f ). 5.5 Professionelle als Agenten der Ökonomisierung Der Konflikt zwischen individual- oder sozialmoralischen Ansprüchen einerseits und ökonomischer Funktionalität andererseits hat aber noch eine weitere Konsequenz. Das moralisch getönte Selbstbild der Behindertenhilfe, aber auch vieler im Bildungsbereich Tätiger ist durch die Vorstellung bestimmt, ein bildungsbzw. sozialpolitisches Mandat zu haben, nämlich das Mandat, individuelle Entwicklungs- und Bildungsprozesse mit dem Ziel eines gelingenden Lebens und gesellschaftlicher Teilhabe anzustoßen, zu gestalten und zu begleiten. Zugleich aber hat das Sozial-, Medizin- und Bildungssystem einen gesellschaftlichen, durch die Politik mit rechtlichen Rahmungen versehenen Auftrag. Dieser Auftrag besteht etwa in der Behindertenhilfe und der sozialen Arbeit letztlich darin, die Lebensführung der eigenen Klientel so zu beeinflussen, dass eine möglichst günstige Passung zu gegebenen gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum gelingt. Diesen Auftrag (der für viele in einem Widerspruch zu ihrer Grundhaltung steht, dass es einen Vorrang des individuellen vor dem gesellschaftlichen Wohl geben muss) haben die Professionellen unter den oben erläuterten Bedingungen der Ökonomisierung zu erfüllen. Dabei laufen sie aber Gefahr, zu einer Instanz der Gouvernementalität zu werden, also ihre eigene Klientel zu einer spezifischen Selbstführung zu führen. Anders gesagt: Unter den Bedingungen der Ökonomisierung tritt die Herrschaftsfunktion helfender Systeme deutlicher als zuvor zutage. Denn die individuellen Problemlagen und anvisierten Problemlösungen müssen nicht nur mit Blick auf die verfügbaren personalen, situativen und kontextuellen Ressourcen, Kompetenzen usw. bearbeitet werden, sondern auch daraufhin, ob sie sich im Rahmen normativ zulässiger Formen individueller Lebensführung bewegen. Solange an gesellschaftlichen Erwartungen und Normen orientierte Handlungsvollzüge und Interventionen individuell abgestimmt und auch modifiziert werden können, besteht immerhin die Chance, das Mandat für die Klientel gegen den gesellschaftlichen Auftrag zu stärken. Wenn aber Interventionen immer stärker reguliert und standardisiert werden, wird der Spielraum für die individuelle Gestaltung immer kleiner. Je höher der Zwang, die betriebswirtschaftliche Rentabilitätsperspektive einzunehmen, umso größer ist die budgetäre Relevanz von Interventionen und umso geringer wird der Spielraum, einen an den individuellen Problemlagen, Bedürfnissen und Ressourcen des einzelnen Menschen orientierten Ansatz durchzuhalten. So sieht sich beispielsweise die VHN 4/ 2008 298 Markus Dederich Soziale Arbeit mit der Frage konfrontiert, wie mit der Klientel umzugehen ist, die sich dem Marktparadigma nicht beugt, die sich unwirtschaftlich verhält, sich durch falsche Lebensführung (Fehlernährung, Schulabsentismus, Drogenkonsum, Delinquenz usw.) selbst in Notlagen bringt usw. Hier tut sich ein intensives Spannungsfeld zwischen ethischen Selbstbeschreibungen helfender Berufe und dem normativen Druck einer ökonomisierten Gesellschaft auf, dem sowohl Menschen in speziellen Problemlagen als auch die Professionellen ausgesetzt sind. Für die Professionellen verdichtet sich diese Situation zu dem Spannungserleben, das im vorangehenden Abschnitt thematisiert wurde. 5.6 Entsolidarisierung Die neoliberal unterfütterte Ökonomisierung konzipiert das Individuum nach dem Modus des homo oeconumicus. Damit wird ein Vorrang des Selbst vor den Anderen postuliert, durch den eine „Orientierung am Anderen und an den Anderen (…) offenbar vergessen“ (Schnell 2008, 41) wird. Wie weiter oben deutlich wurde, basiert die Gouvernementalität im modernen Staat auf einer Selbststeuerung freier und eigenverantwortlicher Subjekte. Hierdurch kommt es, zumindest der Tendenz nach, zu einer gewissen Rückbildung sozialer Verpflichtungen und einer ethisch motivierten Sorge für den Anderen, die unabhängig von ökonomischem oder sozialem Nutzenkalkül besteht. Wenn Ressourcen knapp sind (bzw. die Menschen von deren Knappheit überzeugt sind), kann es zu Verteilungskämpfen kommen, die insbesondere jene benachteiligen, die nicht die Macht und keine ausreichende gesellschaftliche Lobby haben, sich in diesem Kampf zu behaupten. Auch diese Entwicklung wird durch die Forschung Heitmeyers (2007) gut dokumentiert. Symptomatisch für diese Entwicklung ist, wie Antor bereits 1998 festgestellt hat, „die penetrant geäußerte Empfehlung, geistige Behinderung, wenn sie diagnostisch vorhersehbar war, von einer Solidaritätspflicht der Versichertengemeinschaft auszuschließen“ (Antor 1998, 42). Es besteht somit die Gefahr, dass die Politik sozialstaatliche Leistungen an den zu erwartenden produktiven, ökonomisch messbaren Beitrag zur Gesellschaft oder an Lebensqualitätskriterien bindet. „Verteilungskonflikte angesichts knapper z. B. medizinischer Ressourcen ließen sich dann so lösen, dass man das Wohlergehen von Menschen gegeneinander aufrechnet: etwa das eines nichtbehinderten gegen das eines behinderten Kindes, oder das eines Kindes gegen das eines älteren Menschen“ (Antor 1998, 42). 6 Schlussbemerkung Aufgrund der gebotenen Kürze konnte die Ökonomisierung des Sozialen vorab nur in Grundzügen umrissen und anhand weniger Beispiele veranschaulicht werden. Diese Beispiele aber zeigen sehr deutlich, dass die Ökonomisierung die Systemebene betrifft und Organisationen einem erheblichen Veränderungsdruck aussetzt, dass sie erhebliche Auswirkungen für Professionelle hat und schließlich insbesondere arme, chronisch kranke und schwer behinderte Menschen mit ganzer Härte trifft. Insgesamt stellt die Ökonomisierung eine große Herausforderung für das Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem dar. Zumindest innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik steht eine politische Reflexion und Kritik der Entwicklung bisher noch am Anfang, wenn auch die Probleme der Ökonomisierung bereits seit Längerem bekannt sind und diskutiert werden (vgl. Jantzen u. a. 1999; Speck 1999). Gleiches gilt für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven. Immerhin gibt es beispielsweise von Speck (1999) und Dörner (2007) Anregungen, wenngleich diese auch durchaus kritisch gesehen und kontrovers diskutiert werden können. Darüber hinaus scheint es zwingend erforderlich zu sein, die Entwicklung einer genaueren empirischen Forschung zu den konkreten Auswirkungen und Folgen der Ökonomisierung in Institutio- VHN 4/ 2008 299 Die Universalisierung der Ökonomie nen der Behindertenhilfe zu unterziehen, die Analyse und Kritik der Probleme zu verfeinern und die Heil- und Sonderpädagogik stärker als bisher politisch auszurichten. Literatur Antor, Georg (1998): Selbsthilfe in der Sozialpolitik für Behinderte: zwischen Bedrohung und Verheißung. In: Sonderpädagogik 28 Beck, Iris (1999): Der ‚Kunde‘, die Qualität und der ‚Wettbewerb‘: Zum Begriffschaos in der Qualitätsdebatte. In: Jantzen, Wolfgang; Lanwer-Koppelin, Willehad; Schulz, Kristina (Hrsg.): Qualitätssicherung und Deinstitutionalisierung. Berlin Bourdieu, Pierre (1998): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion. Konstanz Braun, Hans (2004): Wirtschaftlichkeit und Qualitätssicherung in sozialen Diensten. 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In: Greving, Heinrich; Gröschke, Dieter (Hrsg.): Das Sisyphos-Prinzip - Gesellschaftsanalytische und sozialpolitische Reflexionen in der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn Prof. Dr. Markus Dederich Technische Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Emil-Figge-Straße 59 D-44221 Dortmund E-Mail: markus.dederich@uni-dortmund.de
