Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2009
781
Community Care - Spurensuche, Begriffsklärung und Realisierungsbedingungen eines theoretischen Ansatzes zur Gemeinweseneinbindung erwachsener geistig behinderter Menschen
11
2009
Kai-Uwe Schablon
Eine gelingende Gemeinweseneinbindung geistig behinderter Menschen repräsentiert eine Grundbedingung zur Steigerung der gesellschaftlichen Teilhabe. Der sich seit Jahren vollziehende Wandel von einer institutionellen zu einer individuellen Perspektive bedarf somit einer Ergänzung durch eine sozialräumliche Perspektive, die sich durch das Vorhandensein integrativer (inklusiver) Sozialräume und eine Neuausrichtung der professionellen Unterstützung konkretisiert. Im folgenden Artikel wird ein in der BRD praktizierter, sozialraumorientierter Community-Care-Ansatz theoretisch begründet und in seiner praktischen Relevanz vorgestellt. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Unterstützungsbedürftigkeit geistig behinderter Menschen und der anderen Akteure im so-zialen Nahraum durch professionelle Fachkräfte. Um die theoretischen Bezüge zu verdeutlichen, werden Parallelen zum etablierten Normalisierungsprinzip und zu den Grundannahmen einer gesellschaftsphilosophischen Ausrichtung, dem Kommunitarismus (Bürgergesellschaft) aufgezeigt. Es folgt, als Ergebnis einer Forschungsarbeit (Schablon 2008), eine zusammenfassende Definition des Begriffes „Community-Care“. Abschließend werden Realisierungschancen aufgezeigt und Praxisimpulse benannt.
5_078_2009_001_0034
Fachbeitrag VHN, 78. Jg., S. 34 - 45 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 34 Community Care - Spurensuche, Begriffsklärung und Realisierungsbedingungen eines theoretischen Ansatzes zur Gemeinweseneinbindung erwachsener geistig behinderter Menschen Kai-Uwe Schablon Fachschule für Heilerziehung Hamburg n Zusammenfassung: Eine gelingende Gemeinweseneinbindung geistig behinderter Menschen repräsentiert eine Grundbedingung zur Steigerung der gesellschaftlichen Teilhabe. Der sich seit Jahren vollziehende Wandel von einer institutionellen zu einer individuellen Perspektive bedarf somit einer Ergänzung durch eine sozialräumliche Perspektive, die sich durch das Vorhandensein integrativer (inklusiver) Sozialräume und eine Neuausrichtung der professionellen Unterstützung konkretisiert. Im folgenden Artikel wird ein in der BRD praktizierter, sozialraumorientierter Community-Care-Ansatz theoretisch begründet und in seiner praktischen Relevanz vorgestellt. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Unterstützungsbedürftigkeit geistig behinderter Menschen und der anderen Akteure im sozialen Nahraum durch professionelle Fachkräfte. Um die theoretischen Bezüge zu verdeutlichen, werden Parallelen zum etablierten Normalisierungsprinzip und zu den Grundannahmen einer gesellschaftsphilosophischen Ausrichtung, dem Kommunitarismus (Bürgergesellschaft) aufgezeigt. Es folgt, als Ergebnis einer Forschungsarbeit (Schablon 2008), eine zusammenfassende Definition des Begriffes „Community-Care“. Abschließend werden Realisierungschancen aufgezeigt und Praxisimpulse benannt. Schlüsselbegriffe: Community Care, Gemeinweseneinbindung, Sozialraumorientierung, Heilpädagogische Professionalisierung Community Care - History of Origins, Definition and Implementation of a Theoretical Approach for Community Integration of Mentally Handicapped Adults n Summary: The successful community integration of mentally handicapped persons is a fundamental precondition for the promotion of social participation. The change of perspective from an institutional to an individual approach needs to be supplemented by a social area perspective substantiated by the availability of integrative and inclusive community facilities and a reorganisation of the professional support. In his article the author outlines a social area oriented Community-Care-approach, practised in Germany. He gives reasons for its theoretical foundations and describes its practical relevance. The approach is based on the need for support of mentally handicapped people and other persons concerned within the social premises by certified specialists. To exemplify the theoretical references, the author delineates some analogies to the well established Principle of Normalisation and to the basic assumptions of communitarianism. After a short definition of the term „Community Care“, he submits a few possible ways of implementation and some suggestions for the practice. Keywords: Community Care, community inclusion, social area orientation, professionalisation in special education In der Behindertenhilfe sind in den letzten Jahren deutlich strukturelle und ideologische Veränderungen wahrzunehmen. Seitens der Anbieter professioneller Hilfeleistungen kommt es durch personenbezogene Hilfeplanungen und damit verbundene Leistungsvereinbarungen zu einer Neubewertung der individuellen Lebenssituation, die „… als Wandel von der institutionellen zur personalen Perspektive“ (Beck 2002, 192) bezeichnet werden kann. „Subjektzentrie- VHN 1/ 2009 35 Community Care rung“, „Qualitätssicherung“ oder „Dienstleistungsverhältnis“ sind Schlagworte dieser Veränderungen. Die Träger der Behindertenhilfe sehen sich einem massiven Veränderungsdruck ausgesetzt und reagieren mit Modernisierungsbzw. Dezentralisierungsaktivitäten (vgl. Kraft 2001; Gaedt 2003). Teil dieser Veränderungen sind die Ausweitung ambulanter Wohnformen und erste Versuche, durch ein Persönliches Budget die Autonomie der Nutzer zu stärken. Dies erfordert unter anderem eine Ergänzung der personalen Perspektive durch sozialräumliche Aspekte, in denen die Gemeinde und die Mitbürger stärker in den Fokus der Betrachtung geraten. Die Berücksichtigung der Mitbürger und der Gemeinde als Unterstützungsressource bekommt damit einen neuen Stellenwert. Dies liegt zum einen daran, dass die Bürger durch Dezentralisierung und Deinstitutionalisierung immer häufiger mit behinderten Menschen in Kontakt kommen, zum anderen daran, dass sich die Sozialpolitik (Behörde u. Dienstleister) von einem unterstützend mitwirkenden Gemeinwesen letztendlich auch eine finanzielle Entlastung (Personalkostenersparnis) erhofft. Ein seit ca. zehn Jahren diskutiertes Handlungsmodell, das die Gemeinweseneinbindung und die Unterstützung durch die Bürger in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, ist der Community-Care-Ansatz. Dieser bisher insbesondere in der BRD noch weitgehend undefinierte und sehr unterschiedlich ausgelegte Ansatz beschreibt den Prozess der Gemeinweseneinbindung von Menschen in marginalisierten Positionen und benennt die dazu notwendigen Realisierungsfaktoren. In den mit der Zielperspektive „Gemeinweseneinbindung“ verbundenen Veränderungen liegen einerseits viele Chancen für den benannten Personenkreis, „ein Leben so normal wie möglich“ (Thimm u. a. 1985) zu realisieren, andererseits aber auch Gefahren, einzelne Aspekte einer bisher erreichten Lebensqualität (Beck 2001) wieder einzubüßen. Der hier skizzierte Community-Care-Ansatz berücksichtigt auch die Interessen von Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf sowie die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Netzwerkcharakteristik, zur potenziellen Sozialen Unterstützung und zur Lebensqualität geistig behinderter Menschen. Bezogen auf das Miteinander-Leben im Gemeinwesen wurde hier bewusst der Begriff „Care“ verwendet. Der Care-Begriff ist, so Dörner (2001), völlig unübersetzbar ins Deutsche und liegt im Fadenkreuz zwischen Sorge, Fürsorge und Verantwortung. Dörner spricht sich für die ideologische Nähe zum Sorgebegriff aus, der sich für ihn in den Grundprinzipien von Gerechtigkeit und Sorge (vgl. auch Gilligan 1987) konkretisiert. Die „Care-Debatte“ wurde in der BRD besonders in den Pflegewissenschaften unter Berücksichtigung feministischer und religiöser Grundhaltungen geführt und erfuhr dort positive, aber auch negative Konnotationen. Für die gelingende Gemeinwesenarbeit betont Dörner den professionellen Unterstützungsbedarf aller Akteure und sensibilisiert für zwischenmenschliche Haltungs- und Begegnungsfragen wie Umgang mit Verantwortung, Abhängigkeit, Macht, Kompetenz und Vertrauen. Maas (2006,148) weist ergänzend darauf hin, dass durch die Kombination der Begriffe „Community“ und „Care“ auch räumlich zum Ausdruck gebracht wird, wo diese Unterstützung geleistet werden soll. 1 Spurensuche im Ausland und in der BRD Die ersten im Ausland als „Community-Care- Ansatz“ bezeichneten Modelle lassen sich in das Jahr 1983 in Rhode Island, USA, zurückverfolgen (Kahn 2001). Dort fand erstmals ein staatlich finanziertes Training für ehrenamtlich engagierte Bürger statt, das von John und Conny O’Brain (Response System Association) veranstaltet wurde, zu einem Dialog aller Beteiligten führte und die Community-Care- Bewegung in Rhode Island auslöste. Zur glei- VHN 1/ 2009 36 Kai-Uwe Schablon chen Zeit und unter Berücksichtigung der amerikanischen Community-Care-Bewegung gewann das Community-Care-Konzept auch in Großbritannien an Bedeutung (vgl. ausführlich dazu Aselmeier 2003; Tüllmann 2003). Ausgelöst durch mehrere Untersuchungen in den 1980er Jahren wurde 1990 eine Reform im System der Behindertenhilfe realisiert, in der die Gemeinweseneinbindung als Zielsetzung an die Kommunen übertragen wurde. In den 90er Jahren folgten verschiedene Antidiskriminierungs- und Gleichberechtigungsgesetze, die großen Einfluss auf die Lebensbedingungen geistig behinderter Menschen hatten. 1996 wurde das „Persönliche Budget“ eingeführt, das durch die direkte Zahlung an den Hilfeempfänger eine freie Anbieterwahl im Gemeinwesen ermöglichte. Diese Umsetzung wurde durch Regierungsprogramme unterstützt, wobei die Finanzverantwortung immer bei der lokalen Sozialverwaltung lag, sodass erhebliche regionale Unterschiede entstehen konnten. Aufgrund anhaltender Kritik an der Umsetzung in Bezug auf geistig behinderte Menschen (z.B. waren im Herbst 2000 von 3.700 Empfängern eines Persönlichen Budgets nur 216 geistig behindert) wurde auf Initiative der britischen Regierung im Jahr 2001 unter Berücksichtigung der Sichtweise und Einschätzungen von Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Grant/ Ramcharan, 2002, 27) das sogenannte White paper „Valuing People“ veröffentlicht. Hierin forderte die britische Regierung die Träger der Behindertenhilfe dazu auf, die letzten Anstalten zu schließen, gemeinwesenintegrierte Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung flächendeckend auszubauen und einer regionalen Zersplitterung des Hilfesystems vorzubeugen. Zur Implementation und Umsetzung von „Valuing People“ wurden im April 2002 ca. 75 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. In der praktischen Umsetzung wurden die Gemeinden verpflichtet, Care-Pläne zu erarbeiten, die von einem behördlichen Care- Manager evaluiert und überprüft wurden. Die reale Umsetzung dieses Community-Care- Verständnisses wurde jedoch, so Aselmeier (2003), von den Betroffenenverbänden bezüglich der Umsetzung ermittelter Hilfe und der Beteiligung der Betroffenen stark kritisiert. Im Jahr 2002 folgte eine weitere Initiative der britischen Regierung zur Schließung von Anstalten und zum Aufbau eines regionalen Hilfesystems. Das britische Community-Care- Modell wird von deutschen Experten (z. B. Knust-Potter 1998; Tüllmann 2003) mit einer medizinischen und bürokratischen Sichtweise in Verbindung gebracht. Deshalb wird zu einer anderen Begrifflichkeit (z. B. Community Living) geraten. Eine Follow-up-Untersuchung aus dem Jahr 2002 (Tüllmann 2003) dokumentiert jedoch soziologisch bzw. ökonomisch betrachtet erstaunliche Erfolge. So konnte die ambulante Betreuungsform um 46 %, die Verfügbarkeit von unabhängigen Unterstützern um 350 % und die Größe der sozialen Netzwerke um 55 % erhöht werden. Als bedeutsamste Determinanten dieser Veränderungen wurden die Personalentwicklung und die gezielte Gemeinwesenarbeit benannt. Eine größere fachliche Diskussion um den Begriff „Community Care“ in der Behindertenpädagogik lässt sich in der BRD auf den internationalen Kongress der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg im Oktober 2000 zurückführen. Diesem Kongress war ein europäisches Projekt „Bürger uneingeschränkt und unbehindert“ (1998 - 1999) zwischen der niederländischen Stiftung Prisma, der belgischen Stiftung Kinsbergen und der Ev. Stiftung Alsterdorf vorausgegangen. Als primäres Ziel der professionellen Behindertenhilfe wurde die Anerkennung und Teilhabemöglichkeit des behinderten Menschen als Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten formuliert. Die Aufgabe der professionellen Fachkraft sollte, so die Teilnehmer des Kongresses, zukünftig darin bestehen, Brücken innerhalb der vorhandenen Strukturen zu bauen und Begegnungen zu ermöglichen. Community Care lokalisiert den Kristallisationspunkt der Hilfen und ihre Organisation VHN 1/ 2009 37 Community Care außerhalb institutioneller Strukturen und traditioneller Einrichtungen. Die stationäre Behindertenhilfe sollte bei der Realisierung von Community Care eine nachrangige Rolle einnehmen (Ev. Stiftung Alsterdorf 1999). Bereits während des europäischen Kongresses wurde deutlich, dass im Kontext der in der BRD umgesetzten Behindertenpädagogik die Gemeinweseneinbindung geistig behinderter Menschen als pädagogische oder sogar als gesellschaftliche Zielsetzung im Vergleich zu anderen sozialen Arbeitskontexten (Jugendarbeit, Stadtteilarbeit, Arbeit mit Migranten usw.) bisher eher vernachlässigt worden war. Lediglich im Kontext des Normalisierungsprinzips waren bereits im Jahr 1968 erste konzeptionelle Ausrichtungen benannt worden, die speziell eine Gemeinweseneinbindung geistig behinderter Menschen berücksichtigen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass heute das Normalisierungsprinzip als ein Basisansatz des Community-Care-Konzeptes bezeichnet wird (vgl. Knust-Potter 1997; Lindmeier 2002). Beim Blick über den Tellerrand sieht man jedoch, dass andere Bereiche der Sozialen Arbeit sozialraumorientierte Zielsetzungen bereits seit den 1980er Jahren umsetzten. Zu nennen wären hier: der Bereich der Gemeinwesenarbeit (Oelschlägel, Hinte u. a.), die Gemeindepsychologie (Keupp) oder die Sozialpsychiatrie (Dörner u. a.). Für den Bereich der Behindertenhilfe formulierte zwar Bächthold bereits 1985 Grundlegungen einer gemeindenahen Behindertenpädagogik, die aber kaum zur Kenntnis genommen wurden. In der konkreten Umsetzung lassen sich zurzeit in der BRD mehrere Modelle aufzeigen, die nach den Kriterien eines hier zugrunde gelegten Community-Care-Verständnis arbeiten. Zu nennen wären z. B. die sozialraumorientierte Arbeit des Rauhen Hauses und der Ev. Stiftung Alsterdorf (beide Hamburg), die Arbeit des Behindertenreferates in Essen (Aktion Menschenstadt) oder der auf dem De-Institutionalisierungsprojekt aufbauende Ansatz von Dörner (1998). 2 Spurensuche im Theorie- und Konzeptbereich Im Folgenden soll skizziert werden, dass die hier beschriebene Community-Care-Auffassung eine logische Weiterführung etablierter Handlungsmodelle und sozialpolitischer Ausrichtungen darstellt. Dies soll exemplarisch anhand des Normalisierungsprinzips und des gesellschaftsphilosophischen Modells des Kommunitarismus dargestellt werden. Vom Normalisierungsprinzip geht in der Behindertenhilfe der BRD eine unumstrittene theoretische Inspiration der „Community- Care-Bewegung“ aus. Die Geschichte und die pädagogische Reichweite des Normalisierungsprinzips wurden bereits vielfältig dokumentiert (z. B. Wolfensberger 1973; Thimm 1978, 1985, 1992, 2005; Nirje 1982, 1994; Beck 1994; Beck u. a. 1996; Knust-Potter 1998) und können im Rahmen dieser Veröffentlichung nicht aufgezeigt werden. Die Ausrichtung der Behindertenhilfe nach den Grundsätzen des Normalisierungsprinzips führte dazu, dass es „… als Reformkonzept wie keine andere Zielformulierung das System der Hilfen und Lebensbedingungen für behinderte Menschen verändert hat …“ (Beck u. a. 1996, 20). Die im Normalisierungsprinzip enthaltenen Leitprinzipien beziehen sich auf das pädagogische Handeln, aber auch auf die Sozial- und Bildungspolitik sowie die administrativen Behörden und die Anbieter von Hilfen. Sie beeinflussen in der Konkretisierung das gesamte System der Hilfen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Analysen bestehender Veröffentlichungen zum Normalisierungsprinzip (z. B. Thimm 2005; Schablon 2008) zeigen auf, dass die häufig in der Fachliteratur vorgenommene Reduktion auf die acht Bereiche der Lebenswelten (z. B. bei Nirje 1982) nur einen kleinen Teilaspekt der sehr umfangreichen und weit gefächerten Normalisierungsbewegung abbildet. In dem von Thimm (2001) vorgestellten Modell „Leben in Nachbarschaften“ werden kommunitaristische Denkansätze und Aspekte aus der Gemein- VHN 1/ 2009 38 Kai-Uwe Schablon depsychologie sowie der lebensweltorientierten Sozialarbeit zu einem Implementationsmodell verdichtet, das weite Übereinstimmungen zum hier vorgestellten Theorieansatz beinhaltet. Ein Unterschied zwischen dem hier skizzierten Community-Care-Ansatz und dem Normalisierungsprinzip liegt jedoch in der Bewertung des informellen Netzwerkes. Während die Unterstützung im Community-Care-Ansatz auf drei Unterstützungsebenen basiert (zunächst unterstützt das primäre Netzwerk, dann reguläre öffentliche Einrichtungen bzw. Dienstleister, und erst in letzter Instanz erfolgt die Unterstützung durch professionelle Anbieter), setzt die Unterstützung im Kontext des Normalisierungsgedankens mehrdimensional an und ist eingebettet in einen „… Prozess der Umsetzung [eines; K. S.] gesellschaftspolitischen oder bildungspolitischen Reformprogrammes“ (Thimm 2001, 357). Eine Normalisierung von Lebensbedingungen und Lebensqualität wird nach einer Konzeptbildung in vorhandenen Rechtsstrukturen verankert, dann in Modellversuchen erprobt und in kommunale Strukturen eingebunden. Ein Unterstützernetzwerk sollte im Verständnis des Normalisierungsprinzips aus professionellen Unterstützern bestehen, die eine „universalistische Orientierung“ haben und deren Handeln öffentlich legitimiert ist, und aus Unterstützern, die sich aus einer persönlichen Sozialbeziehung begründen, soziologisch gesehen eine „partikularistische Orientierung“ (Thimm 1991, 146) haben und deren Unterstützung eher subjektiv begründet ist. Des Weiteren müssen sozialpolitische Voraussetzungen geschaffen werden, die die Implementation verschiedener Unterstützungsebenen absichern (vgl. Thimm 1992, 285; Thimm 2001, 357). Die im Community Care idealisierte Unterstützungshierarchie lässt den Community- Care-Ansatz im Kontext erwachsener geistig behinderter Menschen zu einer Art Realphantasie werden, da die primären Netzwerke erwachsener geistig behinderter Menschen ein soziologisch untersuchtes Problemfeld darstellen (v. Ferber 1983; Schiller 1987; Windisch u. a. 1991; Robertson/ Emerson 2001; Thimm/ Wachtel 2002). Dies liegt zum einen an der Struktur und Größe des Netzwerkes und zum anderen an den Bruchbzw. Schnittstellen, die sich in den Beziehungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen bzw. Laien und Professionellen bilden (v. Ferber 1983, 257; Beck 1994, 269). Die Problematik professioneller Unterstützung wird in beiden Ansätzen thematisiert, wobei die Vertreter des Normalisierungsprinzips eine differenzierte Sicht auf alle Arten von Unterstützungsleistungen, die Community- Care-Vertreter hingegen eine vorrangig auf den sozialen Nahraum und nur sekundär auf professionelle Hilfen ausgerichtete Unterstützungsleistung fordern. Im Normalisierungsprinzip wird die personale Orientierung besonders hervorgehoben. Die Akzeptanz und die Teilhabe des behinderten Menschen als „normaler“ gleichberechtigter Bürger, der in Entscheidungsprozesse maßgeblich eingebunden sein muss, sowie die Berücksichtigung seiner Subjektlogik sind theorieübergreifende Basiselemente, die in allen Schattierungen des Normalisierungsprinzips zum Tragen kommen. Ein Leben so normal wie möglich bedeutet dann, die Person als Individuum, als eigenständig handelndes Subjekt zu betrachten, die Kontingenz von Normen anzuerkennen und die hierzu benötigten symmetrischen Kommunikationsstrukturen als Basis identitätsfördernder Prozesse aufzubauen (vgl. Beck 1996, 38). Ein weiterer bedeutsamer Aspekt in beiden Konzeptionen ist der Bereich der Selbsthilfe (Beck 2000, 2001). Selbsthilfe im Kontext geistig behinderter Menschen beruht jedoch meistens auf externer Unterstützung bzw. Kooperation. Aufgrund der eingeschränkten Selbsthilfefähigkeit entstand die sogenannte „alte Selbsthilfebewegung“, in der engagierte Einzelpersonen, Vereine und Kirchen vor einer sozialstaatlichen Sicherung sich um Menschen in marginalisierten Positionen kümmerten. Beck VHN 1/ 2009 39 Community Care (2000) weist darauf hin, dass Hilfe nicht zur Hilflosigkeit führen darf. Die Beziehung zwischen Nutzer und Unterstützer sollte durch Respekt und Offenheit gekennzeichnet sein und dem Nutzer ein Höchstmaß an Partizipation ermöglichen. Hierzu ist es unumgänglich, die subjektiven Wünsche und das individuelle Veränderungstempo des Nutzers ernst zu nehmen und durch professionelle Unterstützung einen objektiven Lebensstandard zu realisieren. Eltern, Freunde, Freiwilligenhelfer und Laienhelfer sind ein wichtiger Teil des Hilfesystems und in Bezug auf ihre subjektive Positionierung und die durch sie ermöglichte Integration für den Nutzer besonders bedeutsam. Wenn man berücksichtigt, dass ein Großteil der erwachsenen geistig behinderten Menschen oft nur über reduzierte Netzwerke verfügen kann, ist gerade für eine gelingende Gemeinweseneinbindung die Förderung sozialer Beziehungen (Netzwerke) von zentraler Bedeutung (vgl. Beck 1994, 264). Der Begriff Kommunitarismus steht für eine in den 1980er Jahren in den USA entstandene gesellschaftsphilosophische Strömung, welche die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft betont und sich gegen übersteigerten Individualismus und Egoismus ausspricht. In Deutschland wurden die basis-demokratischen Impulse des Kommunitarismus erst in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, ausgelöst durch verschiedene Krisen in Politik- und Wirtschaftsprozessen, parteiübergreifend rezipiert. Historisch lassen sich die Wurzeln des Kommunitarismus in England finden. Von dort aus ist er über den Atlantik nach Nordamerika gewandert, um dann zunächst wieder über England nach Europa zurückzukehren. In den USA entstand 1990 u. a. durch Etzionis (1999) öffentlichkeitswirksames Engagement so etwas wie eine kommunitaristische Bewegung, die durch ein Netz von Multiplikatoren, durch prominente Referenten, durch Konferenzen, durch intermediale Vernetzungen und durch Rundbriefe schnell eine landesübergreifende Popularität erlangte. Ziel des Kommunitarismus ist eine Bürgergesellschaft, an welcher der von Verantwortung geprägte Bürger u. a. in Form seiner Identitätsbildung partizipiert. Die kommunitaristische Bewegung stützt sich auf das Prinzip der Subsidiarität, wonach Institutionen generell erst dann Aufgaben übernehmen, wenn untergeordnete Gemeinschaften damit überfordert sind. Zur Umsetzung baut der Kommunitarismus zum einen auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft, die durch einen „moralischen Dialog“ ihre Leitbilder definiert, und setzt zum anderen zur praktischen Umsetzung auf die Stärkung eines „dritten Sektors“ (Nichtregierungsorganisationen, Verbände, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und alle Formen von Vereinen). Politisch wird das Ziel der „guten Gesellschaft“ durch den in bürgerlicher und staatlicher Reziprozität erarbeiteten „Dritten Weg“ zwischen Etatismus und Neoliberalismus realisiert. Zusammenfassend betrachtet lässt sich festhalten, dass der Kommunitarismus der Idee der Bürgergesellschaft und dem Leitbild einer Gemeinweseneinbindung (Community Care) zunächst sehr nah kommt. Aus dem Kommunitarismus lassen sich konkrete Ideen ableiten (Öffentlichkeitsaufklärung in der Schule, Nutzung öffentlicher Gebäude durch alle usw.), die zum Teil bereits in einzelnen Kommunen realisiert worden sind. Der Kommunitarismus stützt die Annahme der Community-Care- Modelle, dass die Bürger ein großes Unterstützungspotenzial darstellen und dieses auch einsetzen würden. Was würde eine kommunitaristische Bürgergesellschaft für geistig behinderte Menschen bedeuten? Für den professionellen Unterstützer stellt der Kommunitarismus die hohe Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Freiwilligen Helfern und mit den Mitbürgern heraus. Das Zusammenarbeiten von behinderten Menschen, professionellen Unterstützern, Familie, Freiwilligen Helfern und den Mitbürgern sowie die Verortung von Kontakten in Vereinen und Selbsthilfegruppen sind im Kommunitarismus und im VHN 1/ 2009 40 Kai-Uwe Schablon Community-Care-Ansatz unumgängliche Aspekte zur Gemeinweseneinbindung. Eine weitere bedeutsame Realisierungschance liegt in der veränderten Grundhaltung der professionellen Unterstützer gegenüber dem geistig behinderten Menschen. Pädagogische Interventionen müssten auf ihren demokratischen, partizipierenden und gemeinwesenbezogenen Charakter hin überprüft werden und eine deutliche Priorität gegenüber institutionellen Zielen bekommen. Bis auf wenige Ausnahmen müsste sich die Beziehung zwischen professionellem Unterstützer und geistig behindertem Menschen in Richtung Assistenz (Weber 2002) verändern. Der Kommunitarismus versteht sich als ein Brückenkonzept zwischen der alten und der neuen Sozialdemokratie. Im „Dritten Weg“ wird der politische Handlungsraum abgesteckt. Die äußeren Grenzen werden als diskreditierende oder erschöpfende Extreme markiert, und im Zentrum bleibt die alternative neue Option. Der „Dritte Weg“ besteht, so Giddens (1999, 38), sozusagen in der Ausgewogenheit zwischen einer „… verkrusteten Wohlfahrtsbürokratie“, die mit staatlichen Lösungen sozialer Probleme einhergeht, und einer neoliberalen Lösung, in der sich jeder um seine eigenen Problemlösungen kümmern muss. In der kommunitaristischen Praxis des „Dritten Weges“ kommt dem so genannten Ehrenamt eine besondere Bedeutung zu. Die Möglichkeiten reichen vom vertrauten sozialen Ehrenamt über ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen, vom Engagement in Selbsthilfegruppen bis hin zur politischen Bürgerbeteiligung, z. B. in Stadtplanungsgruppen. Der Staat ist hier gefordert, die ehrenamtlichen Tätigkeiten zu koordinieren und zu vernetzen, sie in das politische System einzubinden, ihnen eigenverantwortliche lokale Lösungen lokaler Problemsituationen zu übertragen, eine gleichwertige Zusammenarbeit zwischen bürgerlich organisierten Gruppen und staatlichen Einrichtungen zu ermöglichen, das neue (primär am Gemeinwohl orientierte) und das alte (häufig an individuelle Interessen gebundene) Ehrenamt miteinander zu verbinden. Hier zeigen sich Parallelen zu den Forderungen, die in der Behindertenpädagogik beim Thema „Einbindung von sozial engagierten Bürgern“ aufgezeigt werden (vgl. Thimm/ Wachtel 2002; Sluzalek-Drabent 2005). Auch die (Mit-)Gestaltung der eigenen Netzwerke und des Gemeinwesens repräsentiert im Kommunitarismus eine Grundvoraussetzung für die Realisierung einer Bürgergesellschaft. Die Bürger sind zur Mitgestaltung des Gemeinwesens verpflichtet, damit sie andererseits auch die Rechte des Gemeinwesens für sich in Anspruch nehmen können. Die Mitgestaltung sollte durch reziproke Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft gefördert werden. Alle Bürger benötigen hierzu gleichberechtigte Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten. Die Beteiligung von Menschen in marginalisierten Positionen wird ggf. durch das lokale Gemeinwesen mithilfe professioneller Stützstrategien, z. B. in Form von technischen Geräten oder einem individuellen Finanzausgleich, gefördert. Mitgestaltung konkretisiert sich im Kommunitarismus durch den „moralischen Dialog“. Mithilfe dieses theoretischen Konstruktes soll durch Abwägung verschiedener Ideen eine Entscheidung für die gesellschaftlich betrachtet sinnvollste Idee gefunden werden. Als konkrete Idee zur Aktivierung der Mitarbeit nennt Barber (1994) beispielsweise die Einrichtung und attraktive Gestaltung öffentlicher Plätze und Gebäude, die zur Begegnung, Gestaltung, zum Austausch und zur Identifikation einladen sollen. Außerdem schlägt er vor, Bürger eines Quartiers regelmäßig mittels Infopost an alle Haushalte über soziale Vorhaben und Möglichkeiten des Mitwirkens zu informieren. Als Bedingungen für eine Bürgergesellschaft lassen sich aus der Bezugstheorie auf der Ebene des geistig behinderten Menschen als Bürger folgende problematische, aber zugleich auch anregende Aspekte festhalten: (1) Im Kommunitarismus haben konservative Werte einen hohen Stellenwert. Dieser Aspekt vermittelt den Eindruck, dass von dem geistig behinderten Bürger ein hoher Grad an gesellschaft- VHN 1/ 2009 41 Community Care licher Konformität erwartet wird. Positiv interpretiert könnte man darunter ein durch das „Dazugehörenwollen“ ausgelöstes Normalitätsstreben verstehen, dass vielen geistig behinderten Menschen als Motiv zur Modifikation von institutionalisiertem oder erwartetem Rollenverhalten dienen könnte. (2) Die im Kommunitarismus betonte Akzeptanz der eigenen Meinung von Minderheiten ist zu hinterfragen, wenn diese Personen überhaupt kein Interesse am Gemeinwesen zeigen (z. B. bei autistischen Menschen) oder ein rein individuelles Interesse (z. B. autoaggressives Verhalten) präsentieren. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Kommunitarismus interessante Anregungen zur Steigerung der Teilhabe bietet. Die Zielsetzung, dem Staat primär die Rolle des Ermöglichers von Bürgerentscheidungen zuzuweisen, der möglichst viele Entscheidungen an die kommunale Ebene abgibt, würde die Realisierung individueller sozialräumlicher Lösungen vereinfachen. Die lokale Gemeinschaft ist im Verständnis des Kommunitarismus dafür verantwortlich, dass jeder Bürger die Unterstützung bekommt, die er für sein soziales und politisches Engagement benötigt. Das radikale Akzeptieren eines jeden Bürgers als in seiner lokalen Gemeinschaft gleichberechtigt, unabhängig von seinem Unterstützungsbedarf, stellt einen konstruktiven Impuls für die Behindertenhilfe dar. Hier wird die Richtung der Hilfe teilweise umgedreht: Anstatt der Frage nach dem benötigten Unterstützungsbedarf eines Nutzers steht eher die Frage nach seiner „Teilhabemöglichkeit“ (Dörner 2007) im Fokus der professionellen Fachkraft. Wie kann sie die Gemeinschaft dazu bewegen, dem behinderten Menschen Chancen einzuräumen, sich für seinen Sozialraum zu engagieren? Wie kann es dem geistig behinderten Menschen gelingen, etwas für seinen Sozialraum zu tun? Aus einer Umsetzung dieser anspruchsvollen und bisher ungewohnten Aufgabe würden sich für geistig behinderte Menschen neue Chancen ergeben, politisch aktiv zu werden und an der Gestaltung des Gemeinwesens aktiv teilzuhaben. Problematisch am Kommunitarismus erscheinen drei Aspekte. Zum einen ist dies der Dogmatismus der sehr festgelegten traditionellen Erwartungen an die Bürger bezüglich der Ehe, der Familie und der Bildung. Hier besteht die Gefahr, dass aus Rechten und Pflichten später aufgrund von Mehrheitsbeschlüssen resultierende Gesetze hervorgehen, welche die Belange von Menschen in marginalisierten Positionen nicht berücksichtigen. Ein zweites Problem liegt darin, dass die Umsetzung der kommunitaristischen Idee ein hohes soziales Engagement in der Bevölkerung voraussetzt. Die gerade vom Kommunitarismus kritisierten gesellschaftlichen Tendenzen müssten sich zur Realisierung einer Bürgergesellschaft radikal verändern. Insbesondere wenn der Impuls von der Basis ausgehen soll, scheinen hier die notwendigen Ressourcen nicht im benötigten Umfang vorhanden zu sein. Ein drittes Problemfeld liegt in den Methoden, die im Kommunitarismus für die Realisierung einer Bürgergesellschaft benannt werden. Das skizzierte Handwerkszeug des Kommunitarismus wie der moralische Dialog, die erwartete starke Demokratie oder der Dritte Weg stellen eher theoretische Problemlösungsmethoden dar, deren praktische Relevanz nicht abzusehen ist. Die Betrachtung des behindertenpädagogischen Handlungsmodells (Normalisierungsprinzips) und der gesellschaftsphilosophischen Ausrichtung (Kommunitarismus) verdeutlicht, dass eine Sozialraumorientierung strukturelle und handlungsbezogene Aspekte berücksichtigen muss. 3 Definition: Community Care Unter Berücksichtigung der benannten Praxismodelle und der Erfahrungen aus den Theorie- und Handlungsansätzen (Kommunitarismus, Normalisierungsprinzip, Gemeinwesenarbeit, Gemeindepsychologie und Sozialpsychiatrie) lässt sich für die BRD folgende Definition für den Begriff „Community Care“ formulieren: VHN 1/ 2009 42 Kai-Uwe Schablon „Der theoretisch als philosophisch-politisches Leitbild, aber auch praktisch als Handlungsmodell und als Theorie mittlerer Reichweite benutzbare Begriff ‚Community Care‘ beschreibt primär den Wechselbezug einer Vielfaltsgemeinschaft innerhalb einer Quartiersnachbarschaft. Menschen (mit geistiger Behinderung) leben in der örtlichen Gesellschaft, wohnen, arbeiten und erholen sich dort und bekommen dabei von der örtlichen Gesellschaft die benötigte Unterstützung. Veränderungen erfolgen hierbei im Sinne einer ‚Grassroot-Bewegung‘, was sich unter anderem durch einen politischen Einfluss aller Akteure ausdrückt. Community Care benötigt eine Subsidiarität staatlichen Handelns, die aber gleichzeitig die Lebensqualität absichert und integrative Kristallisationspunkte ermöglicht. Community Care beinhaltet eine Reduktion bzw. Auflösung großer Institutionen und ein durch Interdependenzen gekennzeichnetes Leben in der Gemeinde. Seitens der Bürger und der professionellen Mitarbeiter bedarf es dazu der Implementation einer Ethik der Achtsamkeit, der Anerkennung und der Gerechtigkeit gegenüber Menschen in marginalisierten Positionen“ (Schablon 2008). Durch die Verdichtung und wissenschaftliche Analyse vorliegender Veröffentlichungen und der theoretischen Ableitung der Begriffe „Community“ und „Care“ und durch die in der Definition benannten Standards kann der hier skizzierte Community-Care-Ansatz unserer Einschätzung nach als „Theorie mittlerer Reichweite“ (Merton 1969) bezeichnet werden. 4 Realisierungsbedingungen und Praxisimpulse Welche konkreten Bedingungen werden zur Steigerung der Teilhabe am Gemeinwesen benötigt? Zunächst ist das Bereitstellen und Implementieren von Kommunikations- und Durchsetzungsmöglichkeiten zu nennen. Das Mitteilen der eigenen Vorstellungen und ein Wissen darüber, ob und wie diese Wünsche zu realisieren sind, hat eine hohe Bedeutung für die individuelle Zufriedenheit, von der eine Motivation und identitätsstiftende Kraft ausgeht, die eine Notwendigkeit für anstehende Veränderungen darstellt. Außerdem erhöhen das Vorhandensein einer Vertrauensperson und ein Netzwerk, von dem soziale Unterstützung geleistet wird, die vom geistig behinderten Menschen auch als solche erlebt wird, die Chance einer gelingenden Gemeinweseneinbindung. Eine sinnstiftende Tätigkeit (Arbeit) und die Möglichkeit, „etwas zurückzugeben“ (Interdependenzen), haben positive Auswirkungen auf die Identitätsbildung, das Wohlbefinden und die individuelle Lebensqualität des geistig behinderten Menschen. Der professionelle Mitarbeiter benötigt spezielle Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote, denn hier werden fachliche Weichen für ein verändertes Verständnis von Hilfe im Sinne von Assistenz und Selbstbestimmung gestellt. Bedarf besteht an einem Netzwerk beruflicher Weiterbildung und der Möglichkeit, Zeit zur Nutzung dieser Bildungsangebote zur Verfügung gestellt zu bekommen. Im Kontext von Community Care müssen die Bedeutung einer hohen Professionalität der Mitarbeitenden, aber auch die Wichtigkeit von deren arbeitsvertraglicher Absicherung reflektiert werden. Hierzu bedarf es einer Umstrukturierung der sozialen Einrichtungen und einer Veränderung der Zielgruppen. Die Bürger benötigen für ihre „neue Aufgabe“ (Dörner 1998) zunächst noch verlässliche professionelle Unterstützung. Um dem behinderten Mitbürger überhaupt unter „normalisierten Bedingungen“ begegnen zu können, bedarf es bestimmter Chancenstrukturen, z. B. in Form von interessanten integrativen Angeboten, einer quantitativ „normalen“ Durchmischung von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf im Wohnquartier und einer Kontaktadresse, die als „Notrufmöglichkeit“ allen Akteuren im Feld als zuverlässiger Ansprechpartner und Anlaufstelle dient. Durch eine veränderte Sichtweise muss den Bürgern die Chan- VHN 1/ 2009 43 Community Care ce gegeben werden, den geistig behinderten Menschen in einer breiten Rollenvielfalt und nicht nur als traditionellen Hilfeempfänger kennenlernen zu können. Deshalb ist ein gleichberechtigtes Einbeziehen geistig behinderter Menschen in für sie relevante Entscheidungsprozesse unabdingbar. Damit geistig behinderte Menschen in ihrer Rolle als Bürger ernst genommen werden, müssen Interdependenzen im Sinne von gegenseitigen Abhängigkeiten realisiert werden, durch die die gesellschaftliche Rolle des geistig behinderten Menschen aufgewertet bzw. normalisiert wird. In der Praxis könnte dies durch an gesellschaftlich akzeptierte Machtstrukturen gekoppelte Positionen realisiert werden. Während sich in der Assistenz und Unterstützung geistig behinderter Menschen der bereits 1999 geforderte Wandel „Vom Betreuer zum Begleiter“ (Hähner u. a. 2003) weitgehend vollzogen hat, ist es jetzt an der Zeit, im Rahmen einer gemeinwesen- und sozialraumorientierten Einbindung einen zweiten sozialräumlichen Wandel „Von der Wohnung in die Gemeinde“ zu realisieren. Literatur Aselmeier, L. (2003): Supported Living. Offene Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung in Großbritannien. In: Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen (Hrsg.): ZPE-Schriftenreihe Nr. 14. Siegen Barber, B. (1994): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen. Berlin Bächthold, A. (1990): Gemeindenahe Hilfe für Behinderte. Ein Spannungsfeld zwischen System und Lebenswelt. In: Speck, O.; Martin, K.-R. (Hrsg.): Sonderpädagogik und Sozialarbeit. Handbuch der Sonderpädagogik, Band 10. Berlin: Marhold, 87 - 106 Beck, I. (1994): Neuorientierung in der Organisation pädagogisch-sozialer Dienstleistungen für behinderte Menschen: Zielperspektiven und Bewertungsfragen. Frankfurt/ M.: Peter Lang Beck, I. (2000): Zum Verhältnis von professioneller Hilfe und Selbsthilfe - Chancen und Grenzen einer professionellen Neuorientierung. In: Verein für Behindertenhilfe (Hrsg.): Vom Betreuer zur Assistenz? Professionelles Handeln unter der Leitlinie der Selbstbestimmung. Tagungsbericht. Hamburg, 116 - 128 Beck, I. (2001): Lebensqualität/ Wohnen/ Normalisierung/ Qualitätsentwicklung und -beurteilung/ Selbsthilfe. 5 Artikel auf verschiedenen Seiten. In: Antor, G.; Bleidick, U. (Hrsg.): Behindertenpädagogik - ein Grundriss in Schlüsselbegriffen. Stuttgart: Kohlhammer Beck, I. (2002): Bedürfnisse, Bedarf, Hilfebedarf und -planung: Aspekte der Differenzierung und fachliche Begründung. In: Grewing, H. (Hrsg.): Heilpädagogische Organisationen professionalisieren: Hilfeplanung und Controlling. Freiburg: Lambertus, 32 - 61 Beck, I (2003): Lebenslagen im Erwachsenenalter angesichts behindernder Bedingungen. In: Leonhardt, A. (Hrsg.): Grundfragen der Sonderpädagogik. Weinheim: Beltz, 848 - 874 Beck, I.; Düe, W.; Wieland, H. (Hrsg.) (1996): Normalisierung: Behindertenpädagogische und sozialpolitische Perspektiven eines Reformkonzeptes. Heidelberg: EditionS Dörner, K. (Hrsg.) (1998): Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie. Neumünster: Paranus Dörner, K. (2001): Das Ende der Veranstaltung. In: Evangelische Stiftung Alsterdorf (Hrsg.): Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Dokumentation des Kongresses Community Care vom 23. bis 25. Oktober 2000, 44 - 47 Dörner, K. (2007): Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neue Hilfesysteme. 4. Aufl. Neumünster: Paranus Etzioni, A. (1999): Die Entdeckung des Gemeinwesens: Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus. Frankfurt/ M.: Fischer Evangelische Stiftung Alsterdorf (1999): Bürger - uneingeschränkt und unbehindert. Das europäische Projekt Community Care. Eine Zusammenfassung des Original-Berichtes zum EU- Projekt. Hamburg Ferber, Chr. v. (1983): Soziale Netzwerke - ein neuer Name für eine alte Sache? In: Geistige Behinderung 4, 251 - 259 Gaedt, Ch. (2003): Verschwinden der Verantwortung. In: Behindertenpädagogik 1/ 2, 74 - 88 VHN 1/ 2009 44 Kai-Uwe Schablon Giddens, A. (1999): Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Gilligan, C. (1987): Moral Orientation and Moral Development. In: Kittay, E. (Hrsg.): Women and Moral Theory. New Jersey, 19 - 33 Grant, G.; Ramcharan, P. (2002): Researching Valuing People. In: Tizard Learning Disability Review 7, 27 - 33 Hähner, U. u. a. (Hrsg.) (2003): Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. 4., unveränderte Aufl. Marburg: Lebenshilfe Kahn, L. (2001): Bericht aus Rhode-Island/ USA - Entwicklungen der letzten Jahre und die neue Rolle der Mitarbeitenden. In: Evangelische Stiftung Alsterdorf (Hrsg.): Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Dokumentation des Kongresses Community Care vom 23. bis 25. Oktober 2000, 22 - 26 Knust-Potter, E. (1998): Behinderung - Enthinderung. Die Community Living Bewegung gegen Ausgrenzung und Fremdbestimmung. Köln: Klaus Novy Kraft, W. (2001): Institutionelle Hilfe versus persönliche Assistenz. Vortrag auf der Fachtagung „Die Reha - Wohnen und Freizeit“. Berlin, 15. Juni 2001; Internet: www.alsterdorf.de [Abruf am 15.05.2008] Lindmeier, B.; Lindmeier, C. (2001): Supported Living. Ein neues Konzept des Wohnens und Lebens in der Gemeinde für Menschen mit (geistiger) Behinderung. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 24, 39 - 50 Maas, Th. (2006): Community Care in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. In: Theunissen, G.; Schirbort, K. (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitgemäße Wohnformen - Soziale Netze - Unterstützungsangebote. Stuttgart, 141 - 170 Marquard, A.; Runde, P.; Westphal, G. (1993): Psychische Belastungen in helfenden Berufen. Bedingungen - Hintergründe - Auswege. Hamburg: VS Verlag Merton, R. K. (1969): Social Theory and Social Structure. New York: Glencoe Nirje, B. (1982): The normalization principle. In: Flynn, R.; Nitsch, K. (Hrsg.): Normalization, social integration and community services. Baltimore, 31 - 49 Nirje, B. (1994): Das Normalisierungsprinzip - 25 Jahre danach. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 63, 12 - 32 Robertson, E.; Emerson, J. u. a. (2001): Social Networks of People With Mental Retardation in Residential Settings. In: Mental Retardation 3, 201 - 214 Schablon (2008): Community Care: Professionell unterstützte Gemeinwesenarbeit erwachsener geistig behinderter Menschen. Marburg: Lebenshilfe Schiller, B. (1987): Soziale Netzwerke behinderter Menschen. Das Konzept sozialer Hilfe- und Schutzfaktoren im sonderpädagogischen Kontext. Frankfurt/ M.: Peter Lang Sluzalek-Drabent, R. (2005): Berufliches Helfen und freiwilliges soziales Bürgerengagement. Die Beziehung zwischen dem freiwilligen sozialen Bürgerengagement und dem beruflichen Helfen bei der Integration erwachsener Menschen mit Behinderungen. Hamburg: Dr. Kovacˇ Stahr, O. (2002): Community Care - Selbstbestimmte Gemeinde-Arbeit für Menschen mit Behinderung, oder das Schließen von Haushaltslöchern und/ oder neue Sparmaßnahmen in großen Einrichtungen der Behindertenhilfe? Beobachtungen aus der Sicht eines Menschen mit Behinderung. In: Behindertenpädagogik 1, 3 - 14 Thimm, W. (1978) (Hrsg.): Soziologie der Behinderten. 5. Aufl. Neuburgweiler Thimm, W. (1991): Familienentlastende Dienste - ein Beitrag zur Neuorientierung der Behindertenhilfe. In: Geistige Behinderung 2, 146 - 157 Thimm, W. (1992): Normalisierung in der Bundesrepublik. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Geistige Behinderung 4, 283 - 291 Thimm, W. (2001): Lebenswelt Schule. Ein Ort für sozialpädagogische Arbeit? In: Soziale Arbeit 2, 42 - 49 Thimm, W. (2005): Das Normalisierungsprinzip. Ein Lesebuch zu Geschichte und Gegenwart eines Reformkonzepts. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (Hrsg.). Marburg: Lebenshilfe Thimm, W.; Ferber, Chr. von; Schiller, B.; Wedekind, R. (1985 a): Ein Leben so normal wie möglich führen … Zum Normalisierungskonzept in der Bundesrepublik Deutschland und in Dänemark. Große Schriftreihe der Bundesvereinigung VHN 1/ 2009 45 Community Care Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V., Band 11. Marburg: Lebenshilfe Thimm, W. u. a. (1985 b): Soziologische Aspekte von Sehschädigung. In: Rath, W.; Hudelmayer, D. (Hrsg.): Pädagogik der Blinden und Sehbehinderten. Handbuch der Sonderpädagogik, Band 2. Berlin, 535 - 568 Thimm, W.; Wachtel, G. (2002 a): Familien mit behinderten Kindern. Wege der Unterstützung und Impulse zur Weiterentwicklung regionaler Hilfesysteme. Weinheim: Juventa Tüllmann, M. (2003 a): Individuelle Hilfe in Zeiten wachsender Standardisierung? Jahresbericht 2002. Rauhes Haus Hamburg Tüllmann, M. (2003 b): Community Care als Antwort auf katastrophale Zustände in der Behindertenfürsorge in England - als Anstoß von Veränderungsprozessen in Hamburg. Internet: http: / / www.rauheshaus.de/ fach-forum/ veroef fentlichungen/ behindertenhilfe/ communitycare/ community-care-als-antwort-auf-katastro phale-zustaende-in-der-behindertenfuersorgein-england-als-anstoss-von-veraenderungspro zessen-in-hamburg/ [Abruf am 23. 12. 2007] Vorländer, H. (2001): Dritter Weg und Kommunitarismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B16/ 17. Internet: www.2.bpb.de/ publikationen/ NXPOT.html [Abruf am 15. 5. 2008] Weber, E. (2002): Persönliche Assistenz - Assistierende Begleitung. Veränderungsforderungen für die professionelle Betreuung und für Einrichtungen der Behindertenhilfe. Köln/ Düren: DHG Schriften 8 Windisch, M. u. a. (1991): Wohnformen und soziale Netzwerke von Erwachsenen mit geistiger und psychischer Behinderung. In: Neue Praxis 91, 138 - 150 Wolfensberger, W. (1973): The Principle of Normalization in Human Services. Toronto: National Institute of Mental Retardation Dr. Kai-Uwe Schablon Dipl.-Päd./ Dipl.-Soz.päd. Fachschule für Heilerziehung Segelmannstraße 49 D-22297 Hamburg E-Mail: Schablon@aol.com
