eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2009
781

Es begann schon vor 1933 - Anmerkungen zum Versagen der deutschen Universitäten nach 1945

11
2009
Christian von Ferber
Der Dialog über die Arbeitsbedingungen für Professoren an (deutschen) Universitäten in VHN 4/2008 hat den 82-jährigen Soziologieprofessor dazu bewogen, den Mail-Wechsel mit einem ausführlichen Brief zu ergänzen. Darin greift er auf seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Ordinarius und als Inhaber wichtiger Positionen im Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb zurück und ordnet die im Mail-Wechsel beklagten Probleme in historische Zusammenhänge ein.
5_078_2009_001_0058
VHN, 78. Jg., S. 58 - 64 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 58 Es begann schon vor 1933 - Anmerkungen zum Versagen der deutschen Universitäten nach 1945 Ein Beitrag zum Mail-Wechsel über Arbeitsbedingungen für Professoren Christian von Ferber Düsseldorf n Der Dialog über die Arbeitsbedingungen für Professoren an (deutschen) Universitäten in VHN 4/ 2008 hat den 82-jährigen Soziologieprofessor dazu bewogen, den Mail-Wechsel mit einem ausführlichen Brief zu ergänzen. Darin greift er auf seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Ordinarius und als Inhaber wichtiger Positionen im Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb zurück und ordnet die im Mail- Wechsel beklagten Probleme in historische Zusammenhänge ein. Dialog + Liebe Frau Beck Bestürzt hat mich Ihre offene und schonungslose Analyse Ihrer Arbeitssituation. Sie spiegelt die Ratlosigkeit, aber auch den Zynismus unserer Hochschulpolitiker wider. Wer Wissenschaftspolitik zum Beruf macht - und das können in einer „totalitären Demokratie“ nur wenige -, der muss in Jahrzehnten planen und denken können. Ich habe noch die Zeit miterlebt, als die Hochschulpolitiker sich geradezu danach drängten, die Macht über eine der letzten von ihnen unabhängigen Institutionen zu übernehmen und mit leeren Versprechungen eine ganze Generation zu täuschen: das Elend von zwei Jahrzehnten immer wieder neuer Hochschulgesetze, das Feilschen um Paritäten und um Prioritäten (die Universität Hamburg wollte Lehre um der Selbstverwaltung willen ausfallen lassen! ), Erhöhung der Studentenzahlen ohne Studienreformen (statt Reformen Palaver in Kommissionen unter Aufsicht der Wissenschaftsministerien), das Einfrieren der Personalschlüssel („Untertunnelung des Studentenberges“) und schließlich der Rückbau von Planstellen und Universitätsfächern. Für mich als Soziologen stellt sich angesichts der offensichtlichen Mängel einer jahrzehntelangen Universitätspolitik die Frage nach den Gründen, die diesen Prozess bedingen. Dafür ist es notwendig, sowohl die zeitgeschichtliche Dimension in den Blick zu nehmen als auch über die Bedeutung der Universität als Institution im Gesellschaftsprozess nachzudenken. „Die Idee der Universität“ hat sich in einem langen Prozess gegenüber Kirche und Obrigkeitsstaat und gegenüber den diesen zugeordneten Denksystemen und Deutungsmustern emanzipiert und als eine unverzichtbare Institution neuzeitlicher Gesellschaften bewährt. Sie entwickelt Methoden zur Erlangung von Gewissheit, und sie erarbeitet Regeln für das Verhältnis der Bürger zueinander und im Verhältnis zu demokratisch legitimierten Regierungen. Der Beitrag der Wissenschaft zum Rechtsstaat und zu den Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie ist wesentlich. Der Rechts- und Verfassungsstaat und die Regeln für eine friedliche Konkurrenz von Interessen, Meinungen und Ideen ist eine epochale Leistung der Rechtswissenschaft. Um den Ergebnissen ihrer methodischen und ordnungspolitischen Arbeit Dauer zu gewährleisten, übernahm die Universität die VHN 1/ 2009 59 Es begann schon vor 1933 Ausbildung von Professionen. Die Professionalisierung immer weiterer Personenkreise ist eines der Markenzeichen der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation. Damit wurde die Universität zu einem unverzichtbaren Instrument auch für die Behauptung der Wettbewerbsfähigkeit souveräner Staaten auf volkswirtschaftlichem und militärischem Gebiet. Beides blieb nicht ohne Rückwirkung auf Ziele, Infrastruktur und Ergebniserwartungen universitärer Arbeit. Die Universität wandelte sich und veränderte das Bild und die Deutungsmuster, mit denen die Öffentlichkeit und die Menschen die Universität wahrnehmen. Erste antiwissenschaftliche Strömungen mit breiter Resonanz kamen bereits nach dem Ersten Weltkrieg auf. Seine Schrecken und Hekatomben von Opfern hatten unter den Überlebenden den Glauben an einen linearen Fortschritt von Erkenntnisgewinn, Aufklärung und Humanität zutiefst erschüttert. Die Freiheit von Forschung und Lehre und mit ihr die Autonomie der Universitäten geriet auf die abschüssige Bahn des politischen Relativismus der Werte. Entscheidender als die Wahrnehmung der Risiken des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts war jedoch die Entdeckung des Machtpotenzials durch diejenigen, die Politik als Beruf und diesen als Wegbereiter zur Macht und zur eigenen Machterhaltung verstanden. Für die neue politische Klasse bildete die Universität als Institution ein unverzichtbares, weil bewährtes und wegen seiner Potenzialität vielversprechendes Instrument der Herrschaftssicherung und - wegen der in den Verfassungen verbürgten Freiheit von Forschung und Lehre - gleichzeitig ein Ärgernis. Leninismus, Stalinismus und Nationalsozialismus entwickelten daher in konsequenter Weise ähnliche Methoden, sich diese Institution gefügig zu machen, sie mit Gewalt einzuschüchtern und in einen vergoldeten Käfig zu sperren. Aber es sei festgehalten: Das Verhältnis von Universität und Politik als Beruf ist von Haus aus und nicht erst in Diktaturen durch konkurrierende Geltungsansprüche und auf diese sich gründende Machtansprüche geprägt. Als sich in den 1950er Jahren die Erwartungen auf eine Universitätsreform verstärkten, die auch Antworten auf das Versagen der Universität als Institution unter dem Nationalsozialismus verlangten, prägte Hermann Heimpel (1956) ein Wort, das dann die Runde machte: „Die deutsche Universität ist wie die mittelalterlichen Dome (an diesen stehen auch ständig Baugerüste), sie ist im Kern gesund.“ Gemessen an der historischen, weil dokumentierten Wahrheit war diese Zeitdiagnose nicht nur falsch, sondern bei ehrlicher Selbstprüfung der Zeitzeugen ein Selbstbetrug. Nichtsdestoweniger besänftigte sie den Reformeifer, der auf den Grund des Versagens unter dem Nationalsozialismus gerichtet war. Denn das Versagen selbst und nicht nur seine Folgen sind erklärungsbedürftig, um sich Rechenschaft über die gesellschaftlichen Chancen einer Universitätsreform abzulegen, die diesen Namen auch verdient. Die von Helmuth Plessner herausgegebenen „Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer“ hatten schon 1956 statistisch gesicherte Angaben über den „Emigrationsverlust 1931 - 1938“ gemacht. Danach ergibt sich das folgende Bild: „In Prozent des Bestandes von 1931 sind am stärksten die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Mathematik/ Geographie, Geisteswissenschaften und die Rechtswissenschaft betroffen. Sie verloren über 1 ⁄ 3 (bis zu 41 %) ihrer Ordinarien (ordentliche und außerordentliche Professoren) und Nichtordinarien (außerplanmäßige Professoren und Privatdozenten)“ (Plessner 1956, Bd. 3, 143ff ). Demnach war ein Drittel der durch Habilitation ausgewiesenen Wissenschaftler eliminiert worden! Damalige wissenschaftssoziologische Bewertungen dieses Vorgangs, beispielsweise durch Helmut Schelsky (1959, 36), entzogen sich der Beantwortung der entscheidenden Frage: Warum hat die Universität als Institution sich widerstandslos dem nationalsozialistischen Zugriff preisgegeben? Weil sie - so können wir hypothetisch ergänzen - zu den wissenschaftspolitischen Zielen des Nationalsozialismus keine Alternativen hatte! Der institutionelle Wandel VHN 1/ 2009 60 Christian von Ferber der Universität war bereits vor 1933 eingetreten und hatte die Universitäten widerstandslos den nationalsozialistischen Machthabern ausgeliefert. Er wurde in der Phase nach dem Ende der NS-Diktatur nicht als ein Schlüsselproblem der Erneuerung der Universität erkannt. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Errichtung einer neuen Diktatur im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands verstellten möglicherweise den Blick auf den Entscheidungscharakter der Situation, in der die Fundamente für einen Neubeginn gelegt werden sollten. Das Versagen der deutschen Universitäten gegenüber den Herausforderungen durch die nationalsozialistische Bewegung, die die Universitäten in ihrem Kernbestand als eine international verflochtene Wertegemeinschaft infrage stellte und als eine Organisation provozierte, deren Kollegialität sich auf das Privileg der Selbstergänzung gründete (wir würden dafür heute den Begriff der „corporate identity“ verwenden), wirft zum einen ethische Fragen auf, schließlich wurden nicht nur anerkannte Standards wissenschaftlicher Arbeit, sondern elementare Beamten-, Bürger- und Menschenrechte verletzt (es ist aufschlussreich, dass Schelsky diesen Aspekt des Emigrantenschicksals nicht erwähnt! ). Das Versagen der deutschen Universitäten wirft jedoch zum andern auch ein grundlegendes soziologisches Problem auf. Schließlich tragen die Universitäten eine öffentliche Verantwortung für die Aufrechterhaltung und die Verteidigung der Werte, auf die sie sich als ihre Gründungscharta beziehen. Die Freiheit von Forschung und Lehre und die daraus für jedes Universitätsmitglied sich ableitende Verpflichtung, der Wahrheit zu dienen, wurde geschichtlich in harten Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Ansprüchen der Kirche und des Staates als ein Recht von Verfassungsrang durchgesetzt. Und so lange, wie konkurrierende Ansprüche von den institutionell legitimierten Vertretern der Religion und der Politik, gleich unter welcher Staatsform, geltend gemacht werden, bleibt der Positionsbezug in diesem Wertkonflikt eine Kernfrage der Universität als Organisation und des Selbstverständnisses jedes ihrer Mitglieder. Denn die Werte einer Institution gewinnen und sichern ihren Bestand, d. h. sie erhalten ihre „faktische Geltung“ (im Unterschied zu ihrer „normativen Geltung“, wie Max Weber es in Auseinandersetzung mit Rudolf Stammler formuliert hat) aus der Anerkennung durch die Mitglieder. Werte wie Wahrheit und Freiheit oder wie ihre Verbindung in Freiheit von Forschung und Lehre gelten nur für den, der sie auch will. Doch die Bereitschaft zu einem auf Werte bezogenen Engagement ist nicht allein durch persönliche Motive bestimmt, sondern die individuelle Wertüberzeugung wird durch die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Großgruppen und deren „Mentalitäten“ geprägt (im Sinne von Max Scheler und Theodor Geiger) und unterstützt. Zu diesem Aspekt des Versagens der deutschen Universitäten ist eine soziologische Analyse gefragt. Aus den bereits zitierten „Untersuchungen zur Lage deutscher Hochschullehrer“ von Helmuth Plessner und seinen Mitarbeitern können wir dazu Folgendes entnehmen: Die deutschen Universitäten wurden seit der Aufklärung (Gründung der Universität Göttingen) und seit der Universitätsreform durch Wilhelm von Humboldt sowie in der Epoche ihrer internationalen Führungsrolle (1870 - 1914) bis zum Einbruch des Nationalsozialismus in der faktischen Geltung ihrer institutionellen Werte vornehmlich durch zwei gesellschaftliche Großgruppen und deren Wertüberzeugungen getragen: durch die akademischen Berufe sowie die mittelständischen bis großbürgerlichen Schichten, zu denen vor allem auch viele emanzipierte oder nach Emanzipation strebende jüdische Kreise zählten. Beide Großgruppen identifizierten sich zugleich auch aus ihrer eigenen gesellschaftlichen Lage heraus mit den Werten der Freiheit von Forschung und Lehre, also mit den Methoden der Wahrheitsfindung und der öffentlichen Sicherung der Geltung der als „wahr“ oder „evident“, aber auch als „gerecht“ erkannten Gewissheit sowie ihrer öffentlichen Verbreitung. Die Arbeit, die diesen Werten VHN 1/ 2009 61 Es begann schon vor 1933 diente, musste unabhängig, frei von Einflüssen anderer Deutungsansprüche, geschehen können. Die Unabhängigkeit des Wissenserwerbs und des als richtig bzw. als gerecht erkannten Handelns galt für die akademischen Berufe (in Fachfragen keiner fachfremden Weisung unterworfen zu werden - akademische Berufe als „freie“ Berufe unabhängig von ihrer Stellung im Erwerbsprozess). Sie galt als ethischer Wert im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne für das unternehmerische Handeln (Schumpeter 1950). Bei dieser Symbiose universitärer und schichtenbezogener Werte waren sich jedoch alle Beteiligten und Betroffenen der Tatsache bewusst, dass die normative Geltung der von ihnen vertretenen Werte von anderen gesellschaftlich einflussreichen Gruppen zumindest in dem beanspruchten Umfang bestritten wurde. Denn die Freiheit von Forschung und Lehre und die auf dieses Recht sich gründende gesellschaftliche Unabhängigkeit von Universitätslehrern und wissenschaftlichen Berufen besaß eine faktische Geltung nur in dem Umfang, wie sie von konkurrierenden gesellschaftlichen Institutionen sowie der von diesen beeinflussten Meinungen nicht bestritten wurde bzw. wie sie von den die Universität tragenden gesellschaftlichen Schichten auch im außeruniversitären Kontext erfolgreich verteidigt werden konnte. Die deutsche Universität war in der Zeit zwischen 1750 und 1932 eine Einrichtung, die von akademischen und bürgerlichen Kreisen aus ihrer eigenen gesellschaftlichen Lage heraus getragen wurde. Neben der Selbstrekrutierung aus den „gelehrten“ bzw. den „akademischen Berufen“ kamen die habilitierten Universitätslehrer aus wirtschaftlich selbstständigen Familien, während der Anteil aus den Kreisen der Angestellten und Arbeiter gering blieb. Die Selbstrekrutierung ging (nach den Angaben aus der Hochschullehrerkartei der Plessnerschen Untersuchungen) zwischen dem ersten Erhebungsjahr (1864) bis 1931 von 2/ 3 auf die Hälfte zurück. In der gleichen Zeit stieg der Anteil der wirtschaftlich Selbstständigen von 25 auf 38 % an. Die durch Habilitation ausgelesenen und in einem kollegialen Akt selbstbestimmter Gremien als Mitglieder der Universität anerkannten Universitätslehrer kamen somit zu 90 % aus akademischen Familien und aus dem Besitzbürgertum (Plessner 1956, Bd. 3, 163ff ). Die Habilitation wurde auch als „Nostrifikation“ bezeichnet, weil sie den „Privatdozenten“ zur selbstständigen Lehre und Forschung in einer Fakultät berechtigte. Die Zeit zwischen der Habilitation und der Berufung auf eine beamtete Professur musste jedoch in großem Umfang aus dem Privatvermögen und den Hörergeldern bestritten werden. (Die Fama weiß zu berichten, dass der Dekan der Philosophischen Fakultät die Privatdozenten zu den Gräbern der verhungerten bzw. an Tbc verstorbenen Kollegen führte! ) Die Besoldung der Professoren berücksichtigte die Einnahmen aus den Hörergeldern der Studenten, diese konnten z. T. z. B. an Universitäten in den Landeshauptstädten ein Mehrfaches des Gehalts betragen. In diesem Sinne waren die Universitäten bis 1914 auch eine „plutokratische Einrichtung“. (Ich selbst habe 1946 bis 1952 noch bei Professoren studiert, die sich an diese Situation aus persönlicher Betroffenheit erinnerten! ) Die Wertegemeinschaft der Universität mit den gesellschaftlichen Großgruppen der Akademiker sowie der mittelständischen und großbürgerlichen Schichten hatte sich zwischen 1870 und 1914 zu einer kulturellen und ökonomischen Symbiose entwickelt. Diese Verbindung geriet nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in eine Dauerkrise. Beide, die Universität als Institution und die sie tragenden gesellschaftlichen Großgruppen und Schichten, wurden durch die Folgen des Ersten Weltkrieges abrupt einem strukturellen Wandel unterworfen. Der Vermögensverfall, die Kürzung der Einnahmen aus den Hörergeldern und der Anstieg der Studentenzahlen machten hintergründige Verwerfungen im Verhältnis von Universitätsstruktur und den sie tragenden gesellschaftlichen Großgruppen offenkundig. Schon im Jahrzehnt vor dem Kriege hatte sich die Lage der habilitierten Interessenten im Hinblick auf eine beamtete VHN 1/ 2009 62 Christian von Ferber Professur zu einem ungelösten Problem der Personalstruktur verdichtet und zur Bildung von Interessenverbänden geführt (Schmeiser 1994). Die bereits vor dem Ersten Weltkrieg in sich widersprüchliche und ungerechte Lage der Privat-Dozenten und außerplanmäßigen Professoren des sogenannten „wissenschaftlichen Nachwuchses“ (weil aus diesem Personenkreis die ordentlichen Professoren berufen wurden) verschlechterte sich in den 1920er Jahren zusehends, wie die Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer zeigen. Das Habilitationsalter stieg in der Zeit zwischen 1910 - 1930 im Vergleich zu dem der Zeit davor (1890 - 1909) je nach Fakultät um 2,2 bis 4,8 Jahre, das Erstberufungsalter in fünf von sieben Fakultäten um 1,9 bis 4,2 Jahre. Eine beamtete Position als Hochschullehrer wurde erst im Alter zwischen 37,5 und 44,7 Jahren erreicht. Die Entscheidung für den Beruf des Universitätslehrers erwies sich damit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmend als „akademischer Hazard“ (Schmeiser 1994), die Lage der Wissenschaftler in der Zeit ihrer Qualifizierung für eine Professur wurde zu einem immer wieder vertagten Kernproblem der Universität. Von seiner Lösung hingen nämlich die Gestaltung der Lehre und ihre Anpassung an den Wandel der akademischen Berufe sowie die Ausleseprozesse für die Schlüsselpositionen der universitären Forschung ab. Die Organisation der Lehre wurde nur zeitlich durch die Fakultäten abgestimmt, sie blieb im Wesentlichen dem individuellen Lehrangebot der planmäßigen Professoren sowie der Privatdozenten und außerplanmäßigen Professoren überlassen. Diese Organisation wurde den Bedürfnissen der vor allem in den Jahren 1928 - 1932 stark ansteigenden Anzahl der Studenten nicht gerecht. Neben den studentischen Korporationen gewannen politische Organisationen wie der Nationalsozialistische Studentenbund zunehmend an Einfluss (Wegener 1996, 64ff ). Zwar können mit meinen zeitgeschichtlichen und soziologischen Hinweisen die progromartigen Vorgänge nicht erklärt werden, in denen die Universitäten sich 1933 der nationalsozialistischen Bewegung anheimgaben oder anschlossen. Sie erlauben jedoch drei Schlussfolgerungen, welche die Ausgangsfrage, ob die Universitäten als Institution in dem Sinne reformiert werden können, wie wir derzeit im politischen Sprachgebrauch über Reformen reden, einer Beantwortung näher führen: 1. Die deutsche Universität war bereits vor 1933 nicht mehr „im Kern gesund“, sondern „litt an einem chronisch-degenerativen Prozess“ verschleppter Reformen der Personalstruktur und deren Ausleseprozessen sowie der Organisation universitärer Lehre in Bezug auf die Ausbildung akademischer Berufe. 2. Die Idee der Universität als Institution, die Freiheit von Forschung und Lehre, war in einem kontingenten Prozess entstanden und wurde im Wesentlichen von zwei gesellschaftlichen Großgruppen gegen Widerstand durchgesetzt und zu ihrer Zeit erfolgreich getragen. Diese Großgruppen waren jedoch in sich selber nicht konfliktfrei geschichtet und dem gesellschaftlichen und politischen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts unterworfen. Die Wertegemeinschaft von Universität, wissenschaftlichen bzw. akademischen Berufen und bürgerlichem Mittelstand bzw. Großbürgertum löste sich spätestens in den 1920er Jahren auf. Sie konnte der Fundierung der Idee der Universität in einer sich entwickelnden postindustriellen Arbeitnehmergesellschaft, die sich für die Verwirklichung der Chancengleichheit engagiert, nicht gerecht werden. Wer Freiheit von Forschung und Lehre als den Identität stiftenden Wert der Universität anerkennt, muss sich aber der Tatsache stellen, dass dieser Wert nur für den gilt, der ihn verwirklichen will und sich für seine Geltung öffentlich engagiert. Er steht vor der Aufgabe, einen gesellschaftlichen Wert, der unter Konkurrenz sich behaupten muss, zu implementieren. 3. Reformen der Universität, die die gesellschaftliche Fundierung ihrer Wertorientierung aus welchen Gründen auch immer ausklammern, gehen an der Sache vorbei. VHN 1/ 2009 63 Es begann schon vor 1933 Die beiden erst genannten Schlussfolgerungen habe ich in dem Umfang zu begründen versucht, wie es in diesem Rahmen möglich ist. Zu der dritten Schlussfolgerung möchte ich einige Gesichtspunkte als Zeitzeuge in der Absicht anführen, die hier entwickelte Position zu verdeutlichen: a. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erfolgte die Erneuerung der Universitäten in der Bundesrepublik aus einer personellen Lage heraus, die in mehrfacher Hinsicht geschwächt war: durch den Emigrationsverlust; durch die mangelnde Bereitschaft der Universitäten und Fakultäten, emigrierte Kollegen zurückzugewinnen (Wegener 1996, 259ff ); durch die verspätet einsetzende Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Auf diese Weise gingen den Universitäten die ohnehin durch den Krieg dezimierten Jahrgänge verloren. Sie wurden dann in den 1960er Jahren die schärfsten Kritiker der Universität. b. Die institutionelle Erneuerung der Universität lag überwiegend in den Händen einer Generation, die mit ihren „Reform“ideen, -wünschen oder -träumen schon einmal politisch gescheitert war und sich vielleicht aus diesem Grunde grundsätzlichen Fragen verweigerte. c. Das Jahr 1968, das den „Muff aus 1.000 Jahren“ aus den Talaren wegpusten wollte, setzte die Ideen zu einer Studienreform nicht um, wie sie z. B. Ralph Dahrendorf mit den Kurzstudiengängen in die Diskussion eingebracht hatte. Diese hätten sowohl für die rasch anwachsende Zahl der Studenten ein effizientes Lehrangebot geschaffen wie auch die längst fällige Neuordnung der Personalstruktur vorangebracht. Daher blieb es den Wissenschaftsministerien der Bundesländer und schließlich dem „Bologna Prozess“ überlassen, das Studium in einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft effizienter zu gestalten. d. Die Demokratisierung der Universitäten, wie sie durch das Hochschulgesetz des Landes Niedersachsen ausgelöst wurde (mehr als 150 Hochschullehrer aus drei niedersächsischen Hochschulen hatten das Bundesverfassungsgericht angerufen), löste einen über zwei Jahrzehnte sich stets neu belebenden Prozess aus, der die inneruniversitären Entscheidungen mit immer wieder neuen und bis ins einzelne reichenden Bestimmungen überzog. Der Grundgedanke, die inneruniversitären Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse nach dem Vorbild der Gemeinden zu ordnen - so erläuterte wenigstens Peter von Oertzen, Professor für die Wissenschaft von der Politik und dann Wissenschaftsminister des Landes Niedersachsen seine Reformidee -, musste bereits an den gänzlich verschiedenen Rahmenbedingungen von Universitäts- und Gemeindedemokratie scheitern. Leider hat m. W. kein Wissenschaftsministerium eine Beratungsfirma beauftragt, die Effizienz dieses Modells zu evaluieren. Jeder, der diese Zeit in verantwortlicher Position miterlebt hat, verfügt über einen Schatz geradezu absurder Ereignisse, die auf dem Hintergrund mangelnder politischer Erfahrung, aber auch der Berücksichtigung elementarer soziologischer Kenntnisse der handelnden Personen erwartbar waren - aber toleriert wurden! e. Wenn die universitären Gremien als Regelsetzer für „gute wissenschaftliche Forschungspraxis und akademische Lehre“ ausfallen, weil sie sich in politisierte administrative Vorgänge verstrickt sehen, liegt es nahe, die scientific community der wissenschaftlichen Fachgesellschaften für dieses Geschäft zu ermutigen (z. B. Stegemann-Boehl 1994; von Ferber 2002). Allerdings ist gegenüber diesen Vorschlägen Skepsis angezeigt. Wissenschaftliche Fachgesellschaften bilden sich zwar in ausreichender Anzahl. Sie sehen jedoch ihre Aufgabe vornehmlich darin, Workshops und Kongresse zu veranstalten, und sind zu schwach, Regeln für gute wis- VHN 1/ 2009 64 Christian von Ferber senschaftliche Praxis und universitäre Lehre zu formulieren, vor allem aber sie im Konfliktfall durchzusetzen (auch hierfür gibt es inzwischen Beispiele des Versagens). Summa summarum finde ich es sehr mutig und wichtig, dass Sie Ihren Briefwechsel publiziert haben, und ich wünsche Ihnen viele gleich gesinnte Leser, die vielleicht dazu beitragen können (gutta cavat lapidem non vi sed saepe cadendo), den Teufelskreis universitärer Reformen zu durchbrechen. In diesem Sinne grüßt Sie und Ihre Mitstreiter sehr herzlich Christian O. von Ferber Literatur Heimpel, Hermann (1956): Probleme und Problematik der Hochschulreform. Schriften des Hochschulverbandes 8. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Plessner, Helmuth (Hrsg.) (1956): Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer. 3 Bände. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Bd. 3: von Ferber, Christian: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864 - 1954 Schelsky, Helmut (1959): Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Düsseldorf-Köln: Eugen Diederichs Schmeiser, Martin (1994): Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870 - 1920. Stuttgart: Klett-Cotta Schumpeter, Joseph A. (1950): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 2., erw. Aufl. Bern: A. Francke Stegemann-Boehl, Stefanie (1994): Fehlverhalten von Forschern. Eine Untersuchung am Beispiel der medizinischen Forschung im Rechtsvergleich USA - Deutschland. Stuttgart: Enke von Ferber, Christian (2002): Wettbewerb und Priorisierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung - eine ethische Herausforderung für Gesundheitswissenschaft/ Public Health. In: Brand, Angela u. a. (2002): Individuelle Gesundheit versus Public Health. Münster/ Hamburg/ London: LIT Verlag AG, 29 - 47. Wegener, Cornelia (1996): „Wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921 - 1962. Wien: Böhlau, 299ff Einige Angaben über Christian von Ferber: Geboren 1926 in Schwerin. Studium der Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universität Göttingen. Ab 1962 bis zur Emeritierung 1991 als Professor tätig an den Universitäten Hannover (TU und MHH), Bielefeld, Düsseldorf und Köln. Arbeitsgebiete Allgemeine Soziologie, Empirische Sozialforschung in den Schwerpunkten Arbeits-, Bildungs- und Medizinische Soziologie. Er verfügt über reiche Erfahrungen mit „Wissenschaftsmanagement“: als Dekan in Hannover und Bielefeld, als Mitglied des Gründungsausschusses für Bielefeld, als Vorsitzender der Studienkommission für die Vorklinik und für die Einrichtung des Public Health Studienganges in Düsseldorf sowie als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Präventivmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie. Von Ferber gelangte schon 1998 im Beitrag „Interdisziplinarität und Praxisorientierung - nur eine Utopie? “ (In: Bolte, Karl Martin; Neidhardt, Friedhelm [Hrsg.]: Soziologie als Beruf. Baden-Baden: NOMOS, 109-129) zu folgendem Fazit zur Lage der deutschen Universität: „Die Situation, die sich mir wiederkehrend in den entsprechenden Kommissionen auf Fakultäts- und Universitätsebene dargestellt hat, war für mich ein Anschauungsunterricht zu dem Bonmot von Simon, dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates: ‚Die deutsche Universität ist nicht mehr im Kern gesund‘ - der ‚Glaube an die Gesundheit im Kern‘ war das Trost- und Hoffnungswort, mit dem man sich nach 1945 zu ersparen gedachte, das Versagen der deutschen Universität unter dem Nationalsozialismus weniger für sich als für die Zukunft aufzuarbeiten - ‚sie ist im Kern vermodert! ‘“ Prof. Dr. Christian von Ferber Auf dem Ufer 7 D-40593 Düsseldorf