eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Sozialraumorientierte Schulentwicklung - Begründungen, Einwände und Anregungen

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2009
Joachim Schroeder
Aus einer raumsoziologischen Perspektive lässt sich erklären, weshalb es für die Schule als Institution so schwierig ist, sich inhaltlich und organisatorisch auf die lebensweltlichen Verhältnisse der Schülerinnen und Schüler zu beziehen. Dennoch wird die Behauptung vertreten, dass es unabdingbar ist, in die Schulentwicklung konsequent die gegebenen sozialräumlichen Bedingungen einzubeziehen. Der schulpädagogische Blick ist somit nicht nur auf die Ressourcenausstattung der Heranwachsenden und ihres familiären Umfeldes zu richten, sondern es werden auch die sozialräumlichen Ressourcen überprüft, ob diese denn ausreichend und geeignet sind, die Entwicklung und Entfaltung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. An verschiedenen Beispielen werden abschließend Möglichkeiten einer raumtheoretisch begründeten Schulentwicklung aufgezeigt.
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Fachbeitrag VHN, 78. Jg., S. 114 - 124 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 114 Sozialraumorientierte Schulentwicklung - Begründungen, Einwände und Anregungen Joachim Schroeder Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main n Zusammenfassung: Aus einer raumsoziologischen Perspektive lässt sich erklären, weshalb es für die Schule als Institution so schwierig ist, sich inhaltlich und organisatorisch auf die lebensweltlichen Verhältnisse der Schülerinnen und Schüler zu beziehen. Dennoch wird die Behauptung vertreten, dass es unabdingbar ist, in die Schulentwicklung konsequent die gegebenen sozialräumlichen Bedingungen einzubeziehen. Der schulpädagogische Blick ist somit nicht nur auf die Ressourcenausstattung der Heranwachsenden und ihres familiären Umfeldes zu richten, sondern es werden auch die sozialräumlichen Ressourcen überprüft, ob diese denn ausreichend und geeignet sind, die Entwicklung und Entfaltung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. An verschiedenen Beispielen werden abschließend Möglichkeiten einer raumtheoretisch begründeten Schulentwicklung aufgezeigt. Schlüsselbegriffe: Absoluter und relativer Raum, subjektiver und institutioneller Sozialraum, lebensweltorientierte Schulentwicklung Social Space Orientation in School Development - Reasons, Objections and Suggestions n Summary: A social space based view on the institution ‘school’ can explain the difficulties to gear contents and organisation to the life circumstances of the pupils. Only a certain distance from the life conditions of the students can guarantee the freedom of comprehensive education and equal opportunities for all children. And yet the author holds the view, that a systematic inclusion of the students’ life conditions is inevitable. To his mind, school pedagogy not only has to consider the individual resources of the children and adolescents und their familial environment. School education also has to validate the resources of the pupils’ social space with regard to adequacy and appropriateness in order to ensure a successful development and thriving of the students. By means of various examples the author finally delineates the possibilities of a school development based on social space orientation. Keywords: Absolute and relative space, subjective and institutional social space, social space oriented school development 1 Subjektiver und institutioneller Sozialraum Wie jeder gesellschaftlichen Institution, so muss auch der Schule daran gelegen sein, sich gegenüber ihrem sozialen Umfeld abzugrenzen. Denn diese schulische Distanzierung zu den konkreten lebensweltlichen Verhältnissen schafft überhaupt erst den ‚Freiraum‘, um den demokratischen Anspruch zu verwirklichen, flächendeckend Bildung für alle zu ermöglichen und allen gleiche Bedingungen der Bildung zu sichern. Im ‚Schonraum‘ Schule wird, allen biografischen Widrigkeiten zum Trotz, Lernen möglich, hier sollen und hier dürfen alle Kinder und Jugendlichen ‚gleich‘ sein - anders als im gesellschaftlichen Leben (Mack/ Schroeder 2005). Schule und Sozialraum bilden somit zuvörderst ein Gegensatzpaar, und deshalb bedarf es fundierter theoretischer Reflexionen sowie aktiver praktischer Bemühungen, wenn Bildungseinrichtungen mit ihren sozialen Umwelten verknüpft werden sollen. Den Gründen für dieses zwiespältige Verhältnis der Schulpädagogik zum Sozialraum lässt sich unter anderem durch eine raumtheo- VHN 2/ 2009 115 Sozialraumorientierte Schulentwicklung retische Analyse auf die Spur kommen. Dann zeigt sich nämlich, dass das institutionell geprägte Raumverständnis der Schule nur wenig mit den individuellen Raumerfahrungen von Kindern und Jugendlichen korrespondiert, zumal wenn diese in benachteiligenden und behindernden lebensweltlichen Verhältnissen aufwachsen und bestehen müssen. Somit möchte ich zunächst aus einer raumtheoretischen Perspektive einige Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Sozialraumorientierung für die Entwicklung des Bildungswesens entfalten. Es soll die These begründet werden, dass sich für eine integrative sozialräumliche Schulentwicklung dann Chancen eröffnen, wenn sich diese auf den offenen, relationalen Handlungsraum der Subjekte bezieht; ein Problem allerdings ist, dass sich Bildungseinrichtungen an einem geschlossenen, territorialen Flächenraum orientieren müssen. 2 Der ‚absolute Raum‘ der Schule Als pädagogische Institution ist die Schule traditionell auf sich selbst bezogen. In den Grenzen (externer) bildungspolitischer und schulrechtlicher Vorgaben und Ressourcenzuweisungen sind es vorwiegend interne Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse der Akteure, die dem konkreten Schulkonzept seine Konturen geben. Das pädagogische Team legt fest, ob man sich für die Weiterentwicklung des Unterrichts- und Schulkonzepts auf den Sozialraum beziehen möchte und wie sich gegebenenfalls die Verknüpfung mit dem Quartier, Stadtteil oder auch der ländlichen Region gestalten könnte, denen die jeweiligen Schulen zugehören. Dieser ‚institutionelle‘ Blick der Schule auf den Sozialraum ist somit zwangsläufig recht statisch und klar begrenzt; er folgt der Logik eines absolutistischen Raumverständnisses, das ortsbezogen und territorial ist (vgl. Löw 2001, 7 - 68). Raum und Institution werden in dieser Sichtweise einander gleichgesetzt, d. h. der soziale Raum findet seine Begrenzung in einem definierten Territorium. Dieser bürokratischpolitisch verfasste Sozialraum ist durch institutionelle und normative Regulationssysteme geordnet sowie mittels administrativer bzw. juristischer Planungsrichtlinien strukturiert. Auch die Schulentwicklung vollzieht sich in solchen institutionellen sozialen Räumen, die durch bildungspolitisch bestimmte Grenzen definiert sind, zum Beispiel durch die Zugehörigkeit zu einem Schulamtsbezirk. Solche ‚statischen‘ Grenzziehungen, in denen soziale Räume durch schulpolitisches Verwaltungshandeln gleichsam ‚territorialisiert‘ werden, prägen den ‚Raumblick‘ der Schulen ganz erheblich. Die Institution Schule begreift sich zudem noch immer als der archimedische Punkt, von dem aus und auf den bezogen pädagogische Konzepte oder bildungspolitische Forderungen konzipiert werden. Sie versteht sich als Mittelpunkt eines (statischen) Bildungssystems, nicht jedoch als Bestandteil eines (dynamischen) Bildungsraumes, in dem die Schule eine wichtige Koordinierungs- und Steuerungsfunktion innehat, in dem diese aber nicht mehr über das Bildungsmonopol verfügt (Braun 2005). Mit der zunehmenden Bedeutung, die dem außerschulischen Bildungssektor zukommt, entstehen neue Verwerfungen in den Aneignungsmöglichkeiten dieser nicht-schulischen Formen von Bildung, einer Ungleichheit, der vor allem jene ausgeliefert sind, die die Bildungsangebote ihrer Lebensumgebung nur aus einer untergeordneten oder randständigen Position heraus nutzen können oder deren Lebensumgebung einfach arm an derlei Angeboten ist (Guerra 1997). Es herrscht jedoch weiterhin die Auffassung vor, dass die Grenzen von Bildungsräumen durch das Schulsystem markiert werden, nicht jedoch das Ergebnis einer konsequenten Verzahnung und Vernetzung formaler, non-formaler und informeller Lernorte und Bildungsangebote sind. Diese institutionelle Selbstbezogenheit erschwert die Öffnung von Schulen ungemein. Nicht zuletzt sind die Schulen in ihrer Sozialraumorientierung begrenzt von den institu- VHN 2/ 2009 116 Joachim Schroeder tionell definierten Räumen der Sozial- und Wohnungsbaubehörden, der Jugend- und Gesundheitsämter, der Arbeitsagenturen und Kulturverwaltungen usw. Deren jeweilige ‚Territorien‘ sind bekanntlich nicht minder statisch, und sie sind zumeist nicht kongruent. Eine sozialräumliche, integrative Schulentwicklung stößt ständig auf solche Begrenzungen, die aufgrund von definierten Zuständigkeiten bzw. der Notwendigkeit von Ressourcensteuerung entstehen und oftmals zu konfliktiven Aushandlungsprozessen bzw. widerstreitenden Interessen führen, die dann mühsam an ‚Runden Tischen‘ und in ‚Arbeitsgruppen‘ wieder zusammengeführt werden müssen. All dies trägt dazu bei, dass die durch einzelne Schulen und Schulverbünde konstituierten lokalen Schulsysteme als territorialisierte Bildungsräume begriffen werden müssen; es sind in sich geschlossene ‚Container- Räume‘, die in ihrem Innern durchaus dynamisch sein können, deren wesentliches Merkmal jedoch ist, dass sie in ihren Außengrenzen sehr statisch sind. 3 Der ‚relative Raum‘ der Kinder und Jugendlichen Die Sozialräume, in denen sich die Schülerinnen und Schüler bewegen, sind dagegen individualisiert und flexibel; es sind vielgestaltige Handlungsräume, für die deshalb ein offener und subjektorientierter Raumbegriff angemessen ist. Im Anschluss an das Lebensweltkonzept von Berger/ Luckmann (1980) ist der Subjektraum als „eigensinniger“ und komplex verflochtener individueller Erfahrungsraum zu sehen; es ist „die Wirklichkeit, die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft erscheint“ (ebd., 21). Die grundlegende Annahme ist, dass sich die räumlichen Grenzen des Individuums durch die in Handlungen sich aufbauenden sinnhaften Strukturen konstituieren. Die Lebenswelt sei um das „Hier“ des Körpers und um das „Jetzt“ der Gegenwart herum angeordnet, wenngleich Lebenswelt vom Individuum „in verschiedenen Graden von Nähe und Ferne, räumlich wie zeitlich“ erlebt werde (ebd., 25). Der Raum ist jedoch nicht nur als Kulisse oder Form für Handlungsvollzüge zu verstehen, sondern die Konstituierung lebensweltlicher Strukturen erfolgt durch die alltagsweltliche Lebenspraxis des Individuums, durch dessen raumproduzierende Handlungen. Dieser Prozess der Hervorbringung von Räumen durch menschliches Tun wird in der Raumsoziologie als Spacing bezeichnet (Löw 2001, Schroer 2005). Wie ältere und neuere empirische Untersuchungen 1 der Entwicklungspsychologie und Pädagogik sowie der Sozialisations- und Migrationsforschung übereinstimmend zeigen, ist der Raum, der sich in der alltagsweltlichen Praxis von Kindern und Jugendlichen konstituiert, kein homogener und absoluter, sondern ein fragmentierter, heterogener und dynamischer, teilweise ein transnationaler, jedenfalls ein relativer räumlicher Zusammenhang. Kinder und Jugendliche eignen sich ihre Räume wie „Inseln“ an, sie nehmen von einzelnen Orten Besitz, die an sehr weit auseinander liegenden Teilen der Stadt oder Region sein können. Diese Orte werden untereinander zumeist als beziehungslos erlebt, weil sie mit privaten oder öffentlichen Verkehrsmitteln schnell durchfahren werden; der räumliche Gesamtzusammenhang bleibt deshalb eher unbekannt. Ebenso wurde festgestellt, dass die zum Wohnumfeld gesehen fernen Orte den Kindern und Jugendlichen teilweise sehr gut bekannt sind und von ihnen intensiv angeeignet werden, dass die nahe Umgebung aber vielen regelrecht fremd bleibt. Die Erweiterung des kindlichen oder jugendlichen Handlungsraumes vollzieht sich demzufolge nicht als allmähliches Erweitern des Nahraums, sondern entsprechend seiner Inselstruktur in funktionsgebundenen, altersspezifischen, verinselten Orten, die sich über den Stadtteil oder den weiteren städtischen Raum verteilen (Zeiher 1983, 187). Dies gilt umso mehr für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen, deren biografische Raumaneignung VHN 2/ 2009 117 Sozialraumorientierte Schulentwicklung durch vielfältiges und dauerhaftes Pendeln zwischen mehreren, teilweise weltweit auseinanderliegenden Orten erfolgt. Diese individuelle Raumaneignung kann jedoch durch gesetzliche oder institutionelle Bestimmungen erheblich eingeschränkt sein; auch eine ungehinderte und ‚barrierefreie‘ Inanspruchnahme wohnortnaher Hilfen ist für Kinder und Jugendliche mit einem besonderen Unterstützungsbedarf zumeist nicht gegeben bzw. führt zu einer erhöhten institutionellen Abhängigkeit, Standardisierung und Kontrolle der Biografie (vgl. Dehlinger u. a. 1999). Für eine sozialraumorientierte Schulentwicklung ergibt sich somit der Auftrag, Kinder und Jugendliche in ihren lebensweltlichen Strukturen zu stützen, zu begleiten und zu bilden, um ihnen ihr Spacing zu erleichtern, verstanden als Aneignung lebensweltlicher Räume sowie als Erweiterung individueller Handlungsmöglichkeiten. Ebenso sind die strukturellen Unzulänglichkeiten lebensweltlicher Zusammenhänge abzubauen, die den Zugang zu oder die Nutzungsmöglichkeiten von Sozialräumen für Kinder und Jugendliche behindern. Ein solches handlungs- und individuumbezogenes Raumverständnis wird in der Raumsoziologie als relativistisch bezeichnet (vgl. Löw 2001, 17 - 68), weil sich Räume nicht lediglich in der Formierung von Grenzen konstituieren, sondern durch die Anwesenheit von Menschen. Raum und Handlung werden nicht als gespalten, sondern aufeinander bezogen betrachtet, der Raum wird nicht lediglich als starre Form verstanden, in der sich die alltagsweltliche Lebenspraxis vollzieht, vielmehr wird der Raum in den Handlungskontext gestellt, wodurch er sich als dynamisch, prozessual und beweglich erweist. Raum und Körper werden gleichsam verwoben, der Raum erhält seine Grenzen und seine Dynamik durch die Bewegungen der Menschen, durch die sich ständig verändernden Beziehungsstrukturen zwischen Körpern, durch die Relativität der räumlichen Bezugssysteme, die sich durch Bewegung - also Zeit - ergeben. Während somit die Sozialräume der Subjekte raum-zeitlich betrachtet relativ und dynamisch strukturiert sind, ist dagegen der institutionalisierte Raum der Bildung formal und auf der Grundlage eines absolutistischen Raumverständnisses geordnet. Die sich zwischen den individuellen und den institutionellen sozialen Räumen ergebenden Kongruenzprobleme bereiten insbesondere benachteiligten und behinderten Kindern und Jugendlichen erhebliche Schwierigkeiten für die subjektive Aneignung sowie Nutzung des Raumes der Bildung und stellen die sozialraumorientierte Schulentwicklung vor große Herausforderungen. 4 Kapitalkonfigurationen der Bildung In der Sonderpädagogik besteht weitgehend Einigkeit, dass Bildungsbenachteiligungen einerseits auf erschwerte Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen verweisen, die durch Armut, beengte oder unzureichende Wohnverhältnisse, Vernachlässigung und fehlende Anregungen beeinträchtigt sein können. Aber auch Ressourcenarmut oder sozial-ökologische Belastungen der Lebenswelt können die kognitive, psychische und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen negativ beeinflussen oder gar hemmen. Voraussetzung für eine sozialraumorientierte Schulentwicklung ist es somit, einen tragfähigen schulpädagogischen Reflexionsrahmen zu entfalten, der es zulässt, individuelle Raumerfahrungen und institutionelle Raumstrukturen zu verknüpfen sowie Schulentwicklung im Spannungsfeld von Lebenslagen und Lebenswelten zu verorten. Verschiedentlich wird hierfür auf die relationale Soziologie von Bourdieu (1983, 1991) zurückgegriffen, die es zulässt, plausibel und kohärent eine sozialraumorientierte bildungstheoretische Sichtweise auf Benachteiligungen einzunehmen, die für die Schulentwicklung genutzt werden kann und die vorzüglich geeignet ist, die notorische Defizitorientierung in der Sonderpädagogik zu einer eher ressourcenorientierten Sichtweise zu erweitern: VHN 2/ 2009 118 Joachim Schroeder n Zum einen lässt sich die Lebenslage eines Individuums bestimmen durch seine spezifische „Konfiguration“ von Kapitalien, verstanden als individuell verfügbare Ressourcen. Die Möglichkeiten des Erwerbs von Bildung werden bekanntlich beeinflusst von dem Kindern und Jugendlichen oder deren Familien zur Verfügung stehenden ökonomischen Kapital, vom verfügbaren sozialen Kapital im Sinne stützender sozialer Beziehungen sowie von den verschiedenen Formen des kulturellen Kapitals (Bildungsniveau der Eltern, Sprachressourcen, Wohnverhältnisse, Bücherbestand, Medienausstattung usw.). Die Theorie von Bourdieu ist aber auch anschlussfähig an sonderpädagogische Fragestellungen: So hat Zinnecker (1990) darauf hingewiesen, dass der Körper ein gesellschaftlich normiertes Kapital ist, das sich in seinem ökonomischen Tauschwert bestimmt und erheblich den Zugang zu Bildungs-, Arbeits- und vor allem Beziehungsmärkten regelt. Die uneingeschränkte physische und psychische Leistungsfähigkeit ist ein ganz wesentliches „Startkapital“ zur gesellschaftlichen Teilhabe. Körperkapital bildet sich aus unterschiedlichen physischen, psychischen und kognitiven Dispositionen: Sinnes- und Gliederschädigungen, organische Beeinträchtigungen oder chronische Erkrankungen, Wahrnehmungs- und Lernschwächen erschweren dessen ungehinderten Aufbau. ‚Behinderung‘ wird solchermaßen zu einer Barriere, die sich oftmals lebenslang als schier unüberwindbar erweist. n Ebenso lässt sich die Theorie auch auf die Analyse von Lebenswelten beziehen: Soziale Räume werden in dieser Sichtweise als ein Ensemble von Feldern verstanden, deren Struktur auf die ungleiche Verteilung ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals zurückgeht. Im physischen Raum, so Bourdieu (1991), verobjektiviere sich die soziale Teilung der Gesellschaft, der soziale Raum sei in die Objektivität der räumlichen Struktur gleichsam eingeschrieben. Auch Sozialräume werden nicht nur durch „Materielles“ in Form von Geld oder Gütern strukturiert, sondern ebenso aus dem „sozialen Vermögen“ (ebd., 140), das in der Verfügbarkeit von Arbeit, der Verkehrsanbindung, der medizinischen Versorgung, der Vereinsdichte, der Zahl und Qualität der sozialen Institutionen, der Schulen und Bildungseinrichtungen usw. die materiellen Erscheinungsformen von Räumen mitbestimmt. Durch solche Verräumlichungen der verschiedenen Kapitalformen ergeben sich, beispielsweise in städtischen Quartieren, spezifische sozialräumlich bestimmte Kapitalkonfigurationen, welche die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten seiner Bewohner bestimmen und somit auch deren Möglichkeiten, die individuell verfügbaren Ressourcen in Bildungskapital zu transformieren. Ebenso findet in der pädagogischen Gestaltung sozialer Räume eine Verräumlichung institutionellen Bildungskapitals statt, das ebenfalls die lokal gegebenen Kapitalkonfigurationen direkt oder indirekt beeinflusst. Indem man die lebensweltlichen Strukturen eines Sozialraumes durch die Analyse von ‚Kapitalkonfigurationen‘ bestimmt, lässt sich das Kräftefeld eines sozialen Raumes - bildungstheoretisch schlüssig begründet - beschreiben, Ungleichheitslagen können identifiziert, sozialräumliche Ressourcen freigelegt sowie Differenzen und Vielfalt lebensweltlicher Praktiken von Individuen oder sozialen Gruppen erkannt werden. So hat Jantzen (2000) für das Feld der Behindertenarbeit gezeigt, wie Familien mit einem behinderten Kind in ‚prekäre Lebenslagen‘ abgedrängt werden‚ die durch einen Verlust an sozialem Kapital in der Nachbarschaft, an kulturellem Kapital im alltäglichen Leben und an sozialrechtlichem Kapital in der Auseinandersetzung mit Institutionen gekennzeich- VHN 2/ 2009 119 Sozialraumorientierte Schulentwicklung net sind (ebd., 71). Mittels einer an Bourdieu orientierten Sozialraumanalyse konnte Schroeder (2002) für einen Hamburger Stadtteil belegen, wie sich durch Schulentwicklung die soziale Ungleichheit der Gesellschaft gleichsam in die Fläche des bewohnten Raumes entfaltet und reproduziert. Außerdem konnten im lokalen Raum unentdeckte, übergangene oder vorsätzlich übersehene soziale und kulturelle Ressourcen identifiziert werden, die nutzbar sind für eine an den Lebensbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler orientierte qualitative Bildungsplanung und lokale Bildungspolitik. Ada Sasse (2005) hat den Ansatz von Bourdieu für eine historisch-systematische Analyse ländlicher Sozialräume genutzt und auf der Basis empirischer Untersuchungen gezeigt, wie Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in ländlichen Räumen bei der Gewinnung und Transformation sozialen und kulturellen Kapitals benachteiligt werden und wie insbesondere die Sonderschulen durch ihre Lage eine erhebliche geografische und soziale Distanz zum Zugang zu institutionalisiertem Kulturkapital schaffen. Durch solche kleinräumigen Konfigurationsanalysen können somit die gegebenen Raumstrukturen des schulischen Umfelds reflektiert werden, und es lassen sich Felder identifizieren, in denen die Schulen, so sie dies als wichtig erachten, einen Beitrag zur Stärkung der lebensweltlichen Strukturen leisten können. Die pädagogische Interpretation von Kapitalkonfigurationen kann in Kollegien zu Prozessen der institutionellen Selbstreflexion führen und dazu beitragen, den Blick auf die Lebenslagen der Schüler sowie auf die lebensweltlichen Verhältnisse des sozialen Umfelds zu schärfen. Bildungsprogramme lassen sich an solchem empirischen Material auf ihre Realitätsnähe hin überprüfen und gegebenenfalls weiterentwickeln. Im Spiegel der lebensweltlichen Außenverhältnisse wird somit die kontinuierliche Reflexion der schulischen Binnenverhältnisse möglich; hierzu noch ein paar abschließende praxisorientierte Vorschläge. 5 „Binnenverhältnisse“ sozialraumorientierter Schulentwicklung Mit dem Anliegen einer Erziehung und Bildung für Kinder und Jugendliche, die sich gegenwärtig und/ oder zukünftig in erheblich erschwerten Lebenslagen bewähren und demzufolge Formen eines nicht-bürgerlichen Habitus erwerben müssen, lassen sich konkrete Aufgabenfelder einer sozialraumorientierten Schulpädagogik sowie Koordinaten für die curriculare und didaktisch-methodische Gestaltung der pädagogischen ‚Binnenverhältnisse‘ gewinnen. Aus gesellschaftstheoretischen Analysen praxisrelevante Schlussfolgerungen zu ziehen, kommt allerdings einem Drahtseilakt gleich, bei dem der Absturz gleichsam vorprogrammiert ist: Denn die vielfältigen Problemlagen in der schulischen Bewältigung sozialer und kultureller Pluralität müssen in erheblicher Weise reduziert werden, damit sie für das praktische Handeln überhaupt bearbeitbar werden; dadurch stehen aber Praxisvorschläge vor der Gefahr, sich permanent vor der Theorie zu blamieren. Ich klammere in den folgenden thesenartig präsentierten Anregungen zudem die bildungspolitischen Konsequenzen aus und beschränke mich darauf, Folgerungen für den Unterricht mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu skizzieren. (1) Sozialraumorientierte Schulentwicklung versucht, zur Organisation des Bildungswesens die Pluralisierung von Bildungsangeboten - im Sinne der Realisierung einer Reihe kontextsensibler und milieuangemessener Kinder- und Jugendschulen - voranzutreiben. Hierzu ist es erforderlich, in Zusammenarbeit mit der Schul- und Arbeitsverwaltung sowie dem Jugendamt nicht nur am Schüleraufkommen orientierte quantitative, sondern auf lokale Bedarfe und Problemlagen fokussierte qualitative Schulentwicklungspläne für die Sonder- und Regelschulen unter Einbeziehung der Berufsschulen zu erarbeiten. In diesen Plänen wird festgelegt, an welchen Standorten welche VHN 2/ 2009 120 Joachim Schroeder Schulprofile ausgebildet und welche Formen von Kooperation zwischen den Schulen, vor allem jedoch welche Modelle der Zusammenarbeit mit der kommunalen Jugendhilfe und den freien Trägern realisiert werden sollen und welche Ausprägung die Schulsozialarbeit dort jeweils erhalten soll. Die Vielfalt der Benachteiligungen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sein können, die vornehmlich Haupt- und Förderschulen sowie Berufsvorbereitungsjahre an beruflichen Schulen besuchen, macht ein solches Konzept erforderlich. Durch innere Differenzierung allein kann auf mittlere Sicht den sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Bedürfnissen dieser Schülerschaft nicht mehr entsprochen werden (vgl. Katzenbach/ Schroeder 2007). (2) Sozialraumorientierte Schulentwicklung setzt zur Profilierung der pädagogischen Gestalt auf schulinterne Curricula, die im Spiegel der Lebens- und Lerngeschichten von Menschen gewonnen werden, die in nicht-bürgerlichen Lebensformen und in prekären Lebenslagen standhalten müssen. Dieser Methodologie ist die handlungstheoretische Annahme zugrunde gelegt, dass sich im Spiegel der Biografien Benachteiligter sonder- und sozialpädagogische Bildungs- und Betreuungsprogramme darauf überprüfen lassen, inwiefern sie realistischen Einsichten zu den erschwerten Lebenslagen folgen und in welcher Weise sie zur Vermittlung von den in randständigen Milieus erforderlichen Wissensbeständen und Kompetenzen beitragen. Ziel ist es also, im Durchgang durch biografisches Material Prozesse institutioneller Selbstreflexion zu befördern. Lehrkräfte von sechs Hamburger Förderschulen haben beispielsweise zunächst intensive Recherchen zum Verbleib und den Lebensverläufen ihrer ehemaligen Schülerinnen und Schüler durchgeführt, parallel dazu rekonstruierten sie die Themen und Arbeitsformen, die sie im Laufe eines Schuljahres in den verschiedenen Fächern vermittelt hatten. Im wechselseitigen Bezug der Lebensverläufe und des Unterrichtsangebots wurden sodann gemeinsam schulinterne Bildungspläne entwickelt: Fach für Fach, Thema für Thema wurden daraufhin durchgesehen, welche Veränderungen im Sinne einer präziseren Orientierung an den lokalen sozio-kulturellen Problemlagen vorzunehmen sind (Friedemann/ Schroeder 2000). (3) Sozialraumorientierte Schulentwicklung setzt auf eine konsequente Diversifikation des pädagogischen Personals. Kinder und Jugendliche aus nicht-bürgerlichen Verhältnissen und bildungsfernen Milieus treffen in den Sonder- und Regelschulen auf Schulleiterinnen, Sekretärinnen, Hausmeister, Reinigungspersonal und im Übrigen auf Lehrkräfte, Sozialpädagogen und therapeutisches Personal. Doch an wem können sich Schülerinnen und Schüler orientieren, im Sinne von „Später mal werden wie der oder wie die“? Da bleiben der Hausmeister und das Reinigungspersonal, sonst kaum jemand. Es müssen also Männer und Frauen unterschiedlicher Berufsgattungen und Herkunft in diese Schulen und dort in die pädagogischen Prozesse eingebunden werden, damit benachteiligte Kinder und Jugendliche schon während ihrer Schulzeit regelmäßig auf Erwachsene treffen, an deren Lebenspraxis sie sich orientieren und ihre eigenen Vorstellungen bezüglich künftiger Arbeits- und Lebensformen ausbilden können (Hiller 2001). Durch die systematische Einbeziehung solcher Laien und Experten in den Unterricht wird es zum einen möglich, die soziale und kulturelle Vielfalt der Gesellschaft im Unterricht angemessen zu repräsentieren und für die Schüler durch die persönliche Begegnung anschaulich, befragbar und „handgreiflich“ werden zu lassen. Sie erhalten damit zum anderen die Möglichkeiten, sich an Erwachsenen abzuarbeiten, die in ähnlich erschwerten Lebenslagen bestehen müssen wie sie selbst und bei deren Strategien und Erfahrungen es sich lohnt zu überprüfen, inwieweit sie tauglich sind für die Gestaltung des eigenen Lebens (Friedemann 2002). VHN 2/ 2009 121 Sozialraumorientierte Schulentwicklung (4) Sozialraumorientierte Schulentwicklung setzt, aus ähnlichen Gründen, auch auf die Diversifikation von Lernorten: Was tun am Wochenende? Was tun in den Ferien? Mit wem kann man sich in der Freizeit treffen? Womit kann man sich beschäftigen, um sich körperlich und seelisch fit zu halten? - Benachteiligte Jugendliche tun sich bekanntlich häufig schwer damit herauszufinden, was ihnen gut tut, soziale Kontakte zu knüpfen, aus eigenem Entschluss in Vereine zu gehen, in denen sie sich häufig verloren vorkommen oder bei denen mitzumachen sie sich nicht leisten können. Was spricht dagegen, die regelmäßige, durch Testate nachgewiesene Teilnahme an Bildungsangeboten außerschulischer Einrichtungen (Volkshochschulkurse, Sportschulen, Musikvereine, Projekte der kulturellen Jugendbildung usw.) als „testierte Bildung“ auf die Schulbesuchspflicht in den entsprechenden Fächern anzurechnen? Oder die regelmäßige, ebenfalls durch Testate nachgewiesene Mitarbeit z. B. in der Jugendfeuerwehr oder in Umweltschutzgruppen als „testiertes Engagement“? Oder die regelmäßige, durch entsprechende Bescheinigung nachgewiesene Ausübung von Jobs als „testierte Praxiserfahrung“ (vgl. Hiller 2001)? Zweck einer solchen Lockerung der Präsenzpflicht von Schülerinnen und Schülern ist es, ihnen den Zugang zu kulturellen und sozialen Feldern zu eröffnen, in die sie sich alleine nicht trauen würden, die ihnen unbekannt sind, die ihnen in ihrem künftigen Werdegang Hilfe und Unterstützung bieten können oder die sie vor früher Vereinsamung bewahren helfen. (5) Sozialraumorientierte Schulentwicklung erweitert die traditionelle Berufsvorbereitung, die sich immer noch zumeist auf die Vermittlung in Ausbildungsberufe konzentriert, und bemüht sich um die Schaffung barrierefreier Zugänge zum Beschäftigungssystem. So zeigen vielfältige Projekterfahrungen, dass sich in netzwerkorientierten Ansätzen für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung oder mit einer Beeinträchtigung im Sehen oder Hören realistische Alternativen zur Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfB) ausfindig machen lassen und eine Integration der Betroffenen in den regulären Arbeitsmarkt durchaus möglich ist, wenn auf ein sozialräumliches Unterstützungssystem zurückgegriffen werden kann (Schartmann 2000). Ebenso nimmt die schulische Berufsvorbereitung auch Armutsökonomien mit in den Blick: Im Regelschulsystem wird der Arbeitsmarkt immer noch als ein homogenes Feld betrachtet, schulpädagogische Folgerungen aus dessen Segmentierung werden so gut wie nicht gezogen. Denn neben dem primären formellen Arbeitsmarkt mit relativ stabilen, gut bezahlten Beschäftigungsverhältnissen hat sich ein sekundärer non-formaler Bereich herausgebildet, in dem Arbeitsverhältnisse durch öffentliche Finanzierung geschaffen werden; zunehmend bedeutsam, gerade auch für Sonderschüler, ist der informelle Sektor sogenannter „Jedermannstätigkeiten“; außerdem, wenngleich regional unterschiedlich, nehmen die sich aus den Wirtschaftsaktivitäten der Migranten konstituierenden „ethnischen Ökonomien“ einen beachtlichen Stellenwert ein. Es wurden inzwischen eine Reihe überzeugender Konzepte vorgelegt, wie sich der Unterricht auf der Sekundarstufe I von allgemeinbildenden Regel- und Sonderschulen „umbauen“ lässt, um Lernangebote zur Vorbereitung auf den informellen Sektor zu machen (eine Übersicht bieten Ellinger/ Stein/ Breitenbach 2006): Praktika in Jobs und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen gehören ebenso dazu wie eine gezielte Vermittlung von do-it-yourself-orientierten Kompetenzen für den Dienstleistungsbereich, das konsequente Einbeziehen der Migrantenökonomie in die Berufsorientierung, Trainingsprogramme für den Umgang mit Erwerbslosigkeit (ein Tabuthema der Sonderschulen! ), die Erarbeitung von Zeitplänen zur Organisation zerstückelter Erwerbsarbeit (wie sie z. B. bei der Ausübung von mehreren VHN 2/ 2009 122 Joachim Schroeder Jobs in der Woche in weit auseinanderliegenden Stadtteilen gegeben ist), Klärung von Fragen der Alltagsorganisation bei Schicht- oder Saisonarbeit oder auf der Basis eines minimalen finanziellen Budgets. (6) Sozialraumorientierte Schulentwicklung versucht eine intensive Elternarbeit zu entfalten, indem sie die Familien in der Bewältigung der erschwerten Lebenslagen im Rahmen der Familienhilfe des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt unterstützt oder mit den im Sozialhilfegesetz (SGB XII) definierten familienentlastenden Diensten kooperiert. Es wird aber auch auf den Sachverhalt reagiert, dass nicht wenige Familien von benachteiligten Schülerinnen und Schülern kaum über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen verfügen, um ihre Kinder entsprechend zu fördern, und dass sie in vielen Fällen mit ihren schulisch und beruflich glücklosen Kindern überfordert sind. Sozialraumorientierte Schulentwicklung versucht deshalb, durch entsprechende unterrichtliche Aktivitäten und schulorganisatorische Angebote neue generationenübergreifende soziale Beziehungen zwischen den Schülern und kompetenten erwachsenen Vertrauenspersonen anzubahnen. Ziel ist es, das „soziale Kapital“ benachteiligter Jungen und Mädchen „zu erhöhen“, indem sie eingebunden werden in tragfähige Beziehungen zu Erwachsenen, die über entsprechend nutzbares ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen. „Gibt es einen Erwachsenen, an den du dich wenden kannst, wenn du alleine nicht mehr weiterkommst? Was hat er/ sie für dich in den letzten drei Wochen erledigt und auf die Reihe gekriegt? “ Diese Frage muss in den oberen Klassen der Sonder- und Regelschulen sowie im Berufsvorbereitungsjahr auf den Tisch. Lehrerinnen und Lehrer suchen mit jedem einzelnen Mädchen und Jungen ihrer Klasse gemeinsam deren soziale Netzwerke danach ab, und sollte es keine solche Vertrauensperson geben, dann wird wiederum gemeinsam überlegt, wie man sie findet. Wie Schulen zu Vermittlungsagenturen sozialer Beziehungen werden können und was da im Einzelnen im Unterricht zu tun ist - auch hierfür gibt es bereits viele praktische Beispiele (Schroeder 2007). (7) Sozialraumorientierte Schulentwicklung bezieht sich systematisch auf sprachliche und kulturelle Heterogenität. Es ist im Unterricht nicht selbstverständlich, die bei den jungen Migranten vorhandene Mehrsprachigkeit als eine wichtige Kompetenz und als bedeutsam für ihre Denk-, Lern- und Entwicklungsprozesse zu fassen. Dass die eingewanderten Kinder das Deutsche nicht oder nicht perfekt beherrschen, wird nicht nur als Defizit bewertet, sondern es gilt als die Ursache schlechthin, um deren Lernschwierigkeiten zu erklären. Wie durch Forschungsergebnisse gut belegt ist, benötigt die Schulprogrammentwicklung eine am Leitbild „Mehrsprachigkeit“ orientierte lokale Sprachpolitik. Hierfür wurden Instrumente entwickelt, um in einem gegebenen Sozialraum einen präzisen Überblick über die von den Bewohnern gesprochenen Sprachen zu erhalten und somit eine angemessene Sprachplanung durchführen zu können (Fürstenau u. a. 2003). Lehrkräfte können sich damit sehr rasch ein genaues Bild über die konkrete sprachliche Lage an ihrer Schule machen. Die Spracherhebung bietet eine gute Grundlage für die weitere Planung der sprachlichen Bildung und für die Auswahl sprachdidaktischer Konzepte, welche der jeweiligen Schulsituation angemessen sind. Es ist darauf zu achten, dass die Sprachbildung und -förderung an den Schwellen und Übergängen im Bildungssystem nicht abreißt, dass also die Kooperationen zwischen den abgebenden und aufnehmenden Institutionen abgesichert werden. Eine solche ‚durchgängige Sprachförderung‘ lässt sich vermutlich im Stadtteilbezug schulformübergreifend und in Kooperation mit Migrantenvereinen, Bibliotheken, Ehrenamtlichen, den Universitäten besonders gut umsetzen. VHN 2/ 2009 123 Sozialraumorientierte Schulentwicklung Anmerkung 1 Ahrend 1997; Baake 1987; Bruhns/ Mack 2001; Dehlinger u. a. 1999; Deinet 1990; Liebau 1993; Mack/ Raab/ Rademacker 2003; Mecheril/ Plößer 2000; Muchow/ Muchow [1935] 1997; Pries 1997; Sauter 2000; Sasse 2005; Zeiher 1983; Zeiher/ Zeiher 1994 Literatur Ahrend, Christine (1997): Lehren der Straße. Über Kinderöffentlichkeiten und Zwischenräume. In: Ecarius, J.; Löw, M. (Hrsg.): Raumbildung - Bildungsräume. Über die Verräumlichung sozialer Prozesse. Opladen: Leske + Budrich, 197 - 212 Baake, Dieter (1987): Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. Weinheim/ München: Juventa Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 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