Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Dialog: Community-Care
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Kai-Uwe Schablon
Beim folgenden Dialog handelt es sich um ein Gespräch, das zwar bereits vor einigen Jahren stattgefunden hat, dessen Inhalte jedoch nach wie vor von großer Aktualität sind. Walter Thimm war bis 2001 Professor für Allgemeine Behindertenpädagogik an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Er gilt als der wissenschaftliche Begründer des Normalisierungsprinzips in Deutschland und widmete sich in seiner Forschung der Frage nach den strukturellen, sozialen, normativen und konzeptionellen Bedingungen eines „Lebens in Nachbarschaften“ für behinderte Menschen und den Aufgaben einer gemeindenahen Behindertenpädagogik, die eine anerkannte Lebensführung zu unterstützen sucht.
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VHN, 78. Jg., S. 150 - 157 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 150 Community-Care Ein Gespräch mit Prof. Dr. Walter Thimm am 16. April 2004 Dialog Beim folgenden Dialog handelt es sich um ein Gespräch, das zwar bereits vor einigen Jahren stattgefunden hat, dessen Inhalte jedoch nach wie vor von großer Aktualität sind. Walter Thimm war bis 2001 Professor für Allgemeine Behindertenpädagogik an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Er gilt als der wissenschaftliche Begründer des Normalisierungsprinzips in Deutschland und widmete sich in seiner Forschung der Frage nach den strukturellen, sozialen, normativen und konzeptionellen Bedingungen eines ‚Lebens in Nachbarschaften‘ für behinderte Menschen und den Aufgaben einer gemeindenahen Behindertenpädagogik, die eine anerkannte Lebensführung zu unterstützen sucht. Walter Thimm verstarb 2006, kurz vor Vollendung seines 70. Geburtstages. Kai-Uwe Schablon ist Lehrer an einer Fachschule für Heilerziehungspflege und hat an der Universität Hamburg über „Community-Care: Professionell unterstützte Gemeinweseneinbindung erwachsener geistig behinderter Menschen“ promoviert. Im Rahmen seiner Dissertation führte er 2004 ein Interview mit Walter Thimm, der damals schon schwer erkrankt war, über dessen Verständnis von ‚Community-Care‘ bzw. Sozialraum- und Gemeindeorientierung und die Verbindung zum Normalisierungsprinzip. Im Folgenden sind Auszüge aus diesem Interview, die der Transkription des Gesprächs folgen und nur leicht sprachlich korrigiert wurden, zu den Themen: „Gemeinde“, „Normen und Werte“, „Einbindung sozial engagierter Bürger“ und zum Begriff der „Regiekompetenz“ enthalten. An einzelnen Stellen des Gespräches wurde bewusst der Charakter des Interviews als wörtliche Rede erhalten, um Walter Thimms Engagement, von dem er immer getragen war, durch die ‚unfrisierten‘ Antworten wertschätzend abzubilden. Schablon: Herr Prof. Dr. Thimm, wie definieren Sie, auf dem Hintergrund des Normalisierungsprinzips, den Begriff „Community- Care“? Thimm: Ich verstehe unter Community-Care, bezogen auf den Kreis der Adressaten mit Beeinträchtigungen und Familien mit behinderten Kindern, einen überschaubaren Lebensraum, in dem alle Unterstützungsmaßnahmen einer Gemeinde vorgehalten werden, um allen Menschen eine gleichberechtigte aktive Partizipation am Leben der Gemeinde zu gewährleisten. Schablon: Wie hoch schätzen Sie in diesem Kontext die Bedeutung eines sozialen Netzwerkes ein? Thimm: Das kommt darauf an, ob Sie dies im engeren oder weiteren Sinne definieren. Ich operiere ja immer noch gerne mit der alten Aufteilung in ein inneres und ein äußeres Netzwerk. Das innere Netzwerk besteht aus dem unbedingt notwendigen Vertrauten, also aus familiären bzw. freundschaftlichen Kontakten. Community-Care meint aber eher die äußeren Netzwerkstrukturen und deren Bedeutung. Das kann man nur alltagsspezifisch beantworten. Hierbei ist es z.B. wichtig, überhaupt Begegnungschancen zu haben, Freunde einladen zu können, vielleicht sogar in die eigene Wohnung. Dies sind bedeutsame Standards. Das ist auch eine Geschichte aus dem Normalisierungsprinzip, dass sich solche Standards auf konkrete und überschaubare Lebensräume beziehen sollten. Von daher sind zum Beispiel in Ostfriesland andere Lebensräume und andere Netzwerke für soziale Koalitionen relevant als in einem Hamburger Stadtteil. VHN 2/ 2009 151 Community-Care Schablon: Wie würden Sie den Begriff „Gemeinde“ definieren? Thimm: Der Begriff „Gemeinde“ ist im Deutschen an sich ein eher emotional besetzter Begriff, weil man ihn in der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft mit etwas Heimeligem und Idyllischem in Verbindung bringt. Rein operational definiert bezeichnet er für mich eine Gebietskörperschaft bezogen auf Stadtteile, Gemeinden oder Landkreise. Wobei diese Definition aber das, was mit „Gemeinde“ im sozialen Kontext gemeint ist, nicht exakt trifft, denn da geht es eher um Milieus. Ich würde heutzutage gerne auf den Begriff „Gemeinde“ verzichten und Community mehr auf politische Strukturen beziehen, die sich aus unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus zusammensetzen können. Schablon: Dann würde ich Sie gerne fragen, welche Voraussetzungen Ihrer Meinung nach gegeben sein sollten, damit man überhaupt von Community-Care sprechen kann? Thimm: Wichtig ist zunächst einmal, ob Gemeinden, also politisch eingrenzbare Lebensräume, überhaupt ausreichende finanzielle Kompetenz besitzen, um diesen Raum innerhalb der sozialen Infrastruktur gestalten zu können. Hierzu müssten, unter Ausstattung mit den entsprechenden finanziellen Spielräumen, wichtige Entscheidungen zu Entwicklungen der sozialen Infrastruktur gemeinschaftlich gefällt werden. Am Beispiel der Sonderschulen dargestellt, könnte das bedeuten, dass sich örtliche Vertreter zusammenfinden, lokale Integrationskonzepte bewerten und unter Nutzung aller vorhandenen Ressourcen sich für eine individuell bestmögliche Bildungschance einsetzen. Die infrastrukturelle Gestaltung müsste auf die lokale Ebene delegiert werden. Solche demokratischen lokalen Entscheidungsbefugnisse könnte ich mir auch in der Familienpolitik oder für die lokale Arbeitsmarktpolitik vorstellen. Das heißt, dass strukturelle Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die das Wohlbefinden und die Teilhabe möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Das könnte unter anderem zu einer völlig neuen Verteilung des Steueraufkommens führen. Dies wäre für mich eine ganz wichtige Voraussetzung, damit überhaupt so etwas wie Community-Care oder eine möglichst gerechte Verteilung aller Ressourcen innerhalb einer Gemeinde auf alle Bürgerinnen und Bürger realisierbar gemacht werden könnte. Schablon: Kann Ihrer Meinung nach der Community-Care-Gedanke auch innerhalb bzw. durch eine Institution umgesetzt werden? Thimm: Also prinzipiell erst mal nicht, würde ich sagen. Stationäre Institutionen können im Kontext von Community-Care nicht das angestrebte Ziel sein. Ich mache hier allerdings eine Einschränkung beim Personenkreis der schwerstbehinderten Kinder. Für diesen Personenkreis und ihre Familien haben wir in der Behindertenhilfe bisher noch keine Antworten gefunden, um sie in der Gemeinde durch derzeitige Angebote adäquat zu versorgen, ohne dass - und das ist der zentrale Punkt - die Mutter sich und ihre Interessen dabei völlig aufgeben muss. Im Übrigen würde ich sogar sagen, wenn man die Diskussion um Community- Care zuspitzt, dass sich dieser Ansatz nur auf einen bestimmten Hilfetyp übertragen lässt. Ich erinnere mal daran, dass in der Anfangsphase der Normalisierungsdiskussion vor allem die Dänen ganz unideologisch vorgegangen sind und zunächst ihr Sonderschulsystem nicht angerührt haben, sondern stattdessen gute Alternativen angeboten haben, die sich dann nach und nach durchgesetzt haben. Während bei uns ideologisch die Diskussion um die Sonderschulauflösung schon seit 30 Jahren läuft. Und was haben wir? - Sonderschulen! Also, ich würde mich nicht primär auf einen historisch gewachsenen Einrichtungstyp konzentrieren. Schablon: Eine Argumentation der großen Anbieter in der Behindertenhilfe zielt ja auf die große Heterogenität der institutionellen Angebote, die sozusagen auch eine Form von Normalität abbildet. VHN 2/ 2009 152 Kai-Uwe Schablon Thimm: Ja, das ist eine typisch deutsche Entwicklung bei fast allen Großanbietern gewesen, dass sie ihre Reformen intern in Gang gesetzt haben. Unter dem Normalisierungsgesichtspunkt haben sich die Lebensbedingungen innerhalb der großen stationären Einrichtungen auch deutlich verbessert. Hier wurde sozusagen eine Binnennormalisierung vorgenommen. An diesen Fortschritten müssen sich alle Akteure im Gemeinwesen orientieren. Parallel gibt es natürlich auch noch eine Gegenbewegung, eine Rettungsideologie für stationäre Einrichtungen. Im Moment versuchen alle Großanbieter, die einen Kern von stationären Plätzen haben, sich zu öffnen und in die Gemeinde hineinzugehen. Ich habe da jedoch so meine Bedenken, wenn nun gerade die stationären Einrichtungen zum Vorreiter der Community-Care-Bewegung werden sollten. Schablon: Letztendlich müsste sich, würde man das Leitbild „Community-Care“ verfolgen, eine Anstalt oder Stiftung ja auch selbst auflösen. Thimm: Ja, das würde ich auch von einer Großinstitution erwarten. Zum Beispiel indem sie sich bei Neuaufnahmen strikt an die regionalen Bezüge hält. Meine Frage ist daher immer: Wie sieht es bei Neuaufnahmen aus? Wir haben für eine süddeutsche Einrichtung ein Gutachten gemacht. Da würde sich die Einrichtung nach 20 Jahren auf 50 % reduzieren, wenn die Bewohner nur noch gemeindenah aufgenommen werden würden. Schablon: Gut. Lassen Sie uns nun auf die Normen und Werte zu sprechen kommen, die dem Menschenbild und den Partizipationschancen zugrunde liegen könnten. Welche Normen und Werte würden Sie im Kontext einer Gemeinweseneinbindung als wichtig bezeichnen? Thimm: Also ich würde erwarten, dass man sich bei der aktuellen Diskussion, auch auf der Bundesebene der Politik, mehr auf den der Philosophiegeschichte zugrunde liegenden Gerechtigkeitsbegriff einlassen würde. Ich würde - und da komme ich wieder auf die Gemeinwesenorientierung - von Zonen der Gerechtigkeit sprechen. Also von praktischen Feldern, wo sich an einem konkreten Fall alle Beteiligten darüber unterhalten sollten: Wie sollen wir das machen? Gerade von Gerechtigkeitsdiskursen aus - und das habe nicht ich erfunden, sondern das geht aus den Gerechtigkeitstheorien, die aus Amerika gekommen sind, hervor - kann man sich an relativ einfachen Grundsätzen orientieren. Für mich ist in der letzten Zeit der Grundsatz von Rawls immer wichtiger geworden, nach dem man nur im Überschaubaren handeln sollte. Darum sollte man sich in den Gemeinden zunächst auch fragen, wer das schwächste Glied in der Kette darstellt. Und dann sollten alle erst mal die Lösung finden, die die beste Lösung für den Schwächsten im Diskurs ist. Eine solche Lösung bewährt sich langfristig für alle. Es geht um einen konkreten Gerechtigkeitsbegriff. Ich halte es für dringend erforderlich, dass sich die Beteiligten zusammensetzen und man zusammen überlegt: Was meinen wir mit gerecht, und was wäre für mich und für uns gerecht? Das wäre für mich eine konstruktive normative Ausrichtung. Schablon: … das ist ja spannend. Thimm: Ja, das Spannende kann man auch nachlesen, aber ich bin sogar der Überzeugung, dass man das auch praktisch umsetzen kann. Ähnliches haben die Kommunitaristen ja auch vor. Schablon: Mein Gedanke wäre jetzt: Wie können dabei Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ihre Interessen verdeutlichen und durchsetzen? Thimm: Da kommen wir ja auf den ersten Punkt zurück. Ich bin der Meinung, Community-Care wird man nur realisieren können, wenn man Beteiligungs-, Diskussions- und Verteidigungsverfahren entwickelt, mit deren Hilfe wichtige Dinge miteinander besprochen werden können. Nur so kann eine Zivilgesellschaft entstehen! Also, die Zielsetzung ist ganz eindeutig: Alle Bürgerinnen und Bürger einer VHN 2/ 2009 153 Community-Care Gemeinde, ob mit oder ohne Handicap, der entlassene Strafgefangene und auch der Tippelbruder leben mit in derselben Gemeinde, und alle bemühen sich, miteinander Strukturen zu schaffen, in denen möglichst jedem Gerechtigkeit widerfährt. Das wäre für mich die bedeutendste Zielsetzung. Und da bin ich ja ein bisschen unverbesserlich. Wer verbietet uns eigentlich, in der Hoffnung zu leben, dass diese benötigten kleinen Solidaritätskeime nicht bereits in unserer Gesellschaft existieren? Wir denken meistens umgekehrt von oben, vom Grundgesetz her, um es dann herunterzutransformieren. Ich glaube jedoch - und das ist meine bei mir religiös geprägte tiefste Hoffnung -, dass auch von den gelebten Feinstrukturen eine Verbesserung des sozialen Klimas hervorgehen kann. Rational und von der Soziologie her betrachtet, kann man von makro- oder von mikrosoziologischen Veränderungen ausgehen. Ich bin eher Mikrosoziologe und glaube, dass in den Feinstrukturen aus der Mikroebene heraus sich Verbesserungen nach oben auswirken. Der zweite positive Aspekt besteht darin, dass die Kommunen heute schon in vielen wichtigen Bereichen ein teilhabeorientiertes Zusammenleben anstreben und viele der notwendigen politischen Entscheidungen bereits auf der kommunalen Ebene angekommen sind. Ich glaube, dass wir zur Realisierung eines Community-Care-Ansatzes gar nicht so viele strukturelle Änderungen benötigen. Schablon: Können Sie den Aspekt der benötigten Änderungen noch mal konkretisieren? Welche Wege müssen gegangen werden? Und insbesondere: Bei wem muss sich was verändern? Muss sich bei den Mitarbeitern, den professionellen Fachkräften etwas verändern? Thimm: Die notwendigen Änderungen in Bezug auf die Finanzierungs- und Gemeindereform haben wir ja schon genannt. Weitere Veränderungen müssen aus dem System der Behindertenhilfe selbst hervorgehen. Also, ich greife mal den Sektor der Schulen heraus. Wenn dort letztlich von Lehrerinnen und Lehrern die Integration nicht mehr gewollt wird, weil sie Angst haben, dass sie dann in einem anderen Stadtteil arbeiten müssten, ja, dann ist wirklich fast alles verloren. Die müssten dann gefragt werden, ob sie die Integration konzeptionell überhaupt noch wollen, und wenn nicht, ob es ihnen um das Wohl der Schüler und Schülerinnen oder um das eigene gemütliche Eigenheim geht. Also, bei den professionellen Fachkräften, besonders auf der Leitungsebene, muss sich einiges ändern, und das muss ich mit einiger Bitterkeit sagen. Da kann man schon das kalte Grausen kriegen! Ich halte das sonderpädagogische System in weiten Bereichen für marode. Um etwas zu bewegen, würde ich die mittleren Arbeitsbereiche, die Mitarbeiterinnen, die im täglichen Kontakt mit den geistig behinderten Menschen stehen, hofieren. Denen müssten wir gute Angebote machen. Hier sehe ich ein großes Veränderungspotenzial. Wenn die aber verschlissen werden und immer mehr Personal abgezogen wird … Also, ich vermute, wenn wir die Strukturen stärker umgestalten würden, würde es erst mal personalintensiv sein. Ich bin zwar der Letzte, der schreit: Immer mehr Personal! - aber bis es gelungen ist, das vorhandene Personal umzupositionieren, werden wir zunächst eine Phase der Investitionen, des höheren Bedarfs haben. Der wird wahrscheinlich dann wieder zurückgehen, das kennt man von der Auflösung stationärer Einrichtungen. Hierdurch wäre es aber vorstellbar, dass wir den Weg der Beteiligung nicht beteiligter Mitbürger in Gang setzen könnten, das heißt, freiwilliges soziales Engagement. Wir machen uns überhaupt keine Gedanken über die Wandlungen, auch der Ansprüche an das Ehrenamt. Ich glaube nicht, dass die Potenziale geringer geworden sind. Das glaube ich nicht bis zum Beweis des Gegenteils. Wir treffen die überhaupt nicht, oder wir wollen sie gleich zu Halbprofessionellen machen. Zur Einbindung sozial engagierter Mitbürger gibt es alle möglichen Überlegungen. Aber wir müssen es wollen, und wir müssen nicht in einer Überheblichkeit und einem Spezialisten- VHN 2/ 2009 154 Kai-Uwe Schablon denken glauben, dass freiwillig Engagierte nichts zur Steigerung der Teilhabe beitragen könnten. In vielen Köpfen ist die Gemeinwesenorientierung noch gar nicht angekommen, nämlich anderen Mitbürgern durchaus mal zuzutrauen, dass sie mit gesundem Menschenverstand auch vieles erreichen können. Schablon: Kann man, aufgrund der vielfältigen individuellen Erscheinungsformen des Phänomens Behinderung, überhaupt ein allgemeines Community-Care-Konzept für die Behindertenhilfe formulieren? Thimm: Auch bei aller Furcht vor Einteilungen muss man die Heterogenität der Nutzerinnen und Nutzer, auf das ganze Behindertenhilfesystem bezogen, sehr differenziert beachten. Das stört mich auch an vielen Publikationen, wo dann der Adressat nicht genauer erläutert wird und alles zu allem passt. Wenn wir mal an eine Klientel denken, an Menschen mit mehr oder weniger starker Einschränkung ihrer intellektuellen Fähigkeiten: Da würde ich mich zunächst einmal an die professionelle Fachkraft wenden und sie fragen, wo sie entdeckt hat, dass sie sich eventuell unbewusst in Entscheidungsprozesse einmischt. Also das berühmte Beispiel: Drei Gläser mit Marmelade hinstellen und sehen, welche der behinderte Mensch wählt. Solche handlungspraktischen Beispiele werden häufig auf Fortbildungen benannt - darüber brauchen wir nicht mehr zu reden -, obwohl man sich wundert, dass selbst dies teilweise in der Praxis auch noch nicht angekommen ist. Aber darüber - das meine ich jetzt nicht -, darüber muss es noch hinausgehen. Da muss ich Ihnen sagen, betrete ich persönlich auch sehr unsicheres Land. Da würde ich mich mit einem vorschnellen Urteil sehr schwer tun, wenn ich nicht konkret in Einzelfällen mit den vertrauten Erziehern gesprochen hätte. Wir nutzen viel zu wenig das Fachwissen der Experten, die mit den Menschen leben. Wir wissen viel zu wenig vom Alltagswissen der Praktikerinnen und Praktiker. Wie kriegen die das raus? Ich würde mir wünschen, dass wir als Wissenschaftler wesentlich mehr dokumentiert hätten, wie die Fachkräfte an die Bedürfnisermittlung rangehen. Häufig existieren in der Praxis bereits funktionelle Kommunikationssysteme. Also ich würde erst mal in die Praxis reinschauen und mir aus der Praxis berichten lassen. Schablon: Neben den Kommunikationsverfahren erwähnten Sie auch die große Bedeutung von Beteiligungsverfahren. Was meinen Sie damit? Thimm: Hier geht es vor allem um echte Beteiligungsverfahren und nicht um die, welche nur eine Alibifunktion haben. Sonst wird es lächerlich. Es macht mir Angst, wenn wir im Kontext einer pseudodemokratischen Diskussion geistig behinderte Menschen mit unseren Vorstellungen über Beteiligungsverfahren überziehen und man genau weiß, dass viele der geistig behinderten Menschen nicht genügend davon mitbekommen, was da eigentlich diskutiert wird. Echte Beteiligungsverfahren sind ein Muss. Das ist von allen gefordert, da müssen wir ran. Ich behaupte, dass die sonderpädagogische Fraktionsgemeinschaft die wirklichen Zugangswege und Organisationsformen hierfür noch nicht wirklich gefunden hat. Schablon: Auch das Herunterbrechen von Bildungsinhalten gelingt uns nicht immer. Thimm: Ja, da sind wir noch sehr ungeübt. Ich glaube, dass da die Bundesvereinigung der Lebenshilfe schon einige gute Kurse anbietet, zum Beispiel zur Bundestagswahl. Da ist man schon auf einem guten Wege, aber bei weitem noch nicht am Ziel. Die größte Gefahr besteht für mich darin, dass geistig behinderte Menschen unseren Bedürfnissen nach instrumentalisiert werden und man dann sagt: „Sieh mal, wie demokratisierend! “. Meiner Meinung nach ist es nicht damit getan, das, was wir alles, was wir als demokratische Abstimmungsbzw. Beteiligungsverfahren haben, einfach nur zu kopieren, das geht nicht. Vielleicht müssen wir Beteiligungsverfahren auch ganz, ganz von vorne entwickeln. VHN 2/ 2009 155 Community-Care Schablon: Kommen wir noch mal zurück zum Community-Care-Ansatz. Sollte Ihrer Meinung nach die Finanz- und Regiekompetenz beim Nutzer liegen, und wie könnte das realisiert werden? Thimm: Es geht um die Frage, inwieweit der Adressat über finanzielle Hilfen selber bestimmen sollte. Natürlich wäre es ideal, wenn, wie es beim Persönlichen Budget angenommen wird, der geistig behinderte Mensch selbst die Finanzregie hätte. Zum Persönlichen Budget laufen ja einige Modellvorhaben, da würde ich gerne mal abwarten, was dabei herauskommt. Man sollte aber realistisch gleich darüber nachdenken, wie man hier jemanden assistierend zur Seite stellen könnte. Ob es da auch Möglichkeiten unterhalb der Ebene des Betreuungsgesetzes geben könnte. Denn was machen Sie, wenn Menschen nicht in der Lage sind, die Finanzen zu überblicken? Was machen sie, wenn Menschen nicht mit ihren Finanzen umgehen können? Wen stellen Sie denn dann zur Seite? Und mit welchen Kompetenzen oder mit welchen Rechten wird der Assistent oder die Assistentin dann ausgestattet? Und dann sind wir doch wieder beim Betreuungsgesetz. Bei der Regiekompetenz stellt sich die Frage, wie man den Nutzer beim Umsetzungsprozess beteiligen kann. Da wird man schauen müssen. Ich habe da ein konkretes Beispiel vor Augen: Ein geistig behindertes Paar, das zusammen lebt und wie alle anderen auch nach Mallorca verreisen möchte. Der Vater sagt ein klares „Nein“ zu seiner Tochter. Als Freund der Familie habe ich darüber auch nachgedacht: Was machen die beiden denn auf Mallorca? Wahrscheinlich sitzen sie den ganzen Tag lang im Hotel und machen nichts. Aber darf ich oder der Vater das entscheiden? Und da muss ich sagen: „Nein“, der Vater sollte hier nicht die Regie übernehmen. Hier würde ich eine Vertrauensperson, eine Assistentin dazuziehen. Eine Vertraute, eine Assistentin des Pärchens. Regiekompetenz her und hin, der Wunsch, alleine nach Mallorca zu fliegen, eventuell nur, weil es zurzeit in Mode ist? Natürlich könnte man ja sagen, wenn die das wollen, dann müssen die das machen. Hier müsste eine vertrauenswürdige Person vermitteln: Meinen Sie, die finden aus dem Flugzeug zum Hotel? Es scheint berechtigt, solche Fragen zu stellen, ansonsten hätte man den beiden keinen Assistenzbedarf von zwölf Stunden die Woche zugesprochen, das hat ja auch Gründe. Man könnte es sich auch einfach machen und sagen: Natürlich sollten manche der geistig behinderten Menschen die Finanz- und Regiekompetenz prinzipiell selber verantworten, und man muss von Fall zu Fall entscheiden, wo Assistenz benötigt wird und wo die Kompetenzen eventuell noch entzogen werden müssen. Übrigens: Das Wort „Regiekompetenz“ ist sogar, wenn mich nicht alles täuscht, entweder von Christian v. Ferber oder von mir zuerst verwendet worden. Das liegt schon in den 60ern zurück. Es sagt sich so leicht daher. Wenn ich dann mal auf mein eigenes Leben gucke, muss ich sagen: Also manche Dinge liegen gar nicht in meiner Regiekompetenz, sondern werden partnerschaftlich entschieden. Ich habe eine Entscheidung über ein Zusammenleben getroffen, also hab ich nicht mehr die alleinige Regiekompetenz. Regiekompetenz wird, wenn man sie so versteht, eingegrenzt durch bestimmte Sozialverpflichtungen. Ich sag das deshalb, weil ich diesen Begriff selbst mitgeprägt habe, aber es wäre ein inflationärer Irrtum, so zu tun, als wenn wir, wenn wir es nur richtig machten, alle geistig behinderten Menschen so weit bringen könnten, dass sie ihre volle Regie- und Finanzierungskompetenz selbst ausführen könnten. Da muss ich sagen, dass mir das zu weit geht. Solch eine Regiekompetenz hat niemand. Auch bei Entscheidungen, die z.B. die Finanzen betreffen, ist prinzipiell überhaupt nichts dagegen zu sagen, dass die Finanzkompetenz bei den Nutzern liegen sollte. Beurteilen können das die Menschen am besten, die das Leben am engsten mit den Nutzern teilen. Wenn eine Assistentin drei- oder viermal in der Woche zu einer geistig behinderten Frau VHN 2/ 2009 156 Kai-Uwe Schablon kommt, dann ist hier eine enge Vertrauensbasis entstanden, und beide sprechen über sehr intime Dinge. Da müssen wir als Eltern und Experten Vertrauen in diese Assistenzbeziehung entwickeln. Damit müssen Außenstehende sehr behutsam umgehen. Ich würde als Professioneller hier nicht eingreifen. Ich muss aber noch mal auf den Vater in meinem Beispiel zurückkommen. Es wäre anmaßend und unprofessionell zu sagen: Da darf der Vater sich nicht einmischen. Der Vater hat eine ganz andere Sichtweise und ganz andere Gründe als die betreuende Assistentin, und ich habe wieder eine andere Meinung. Das hängt von dem jeweiligen Beziehungsverhältnis ab. Das weiß die junge geistig behinderte Frau aber nicht. Sie kann wahrscheinlich gar nicht beurteilen, dass jeder, den sie fragt, unter einer anderen Perspektive diese Fragen beantworten würde. Das kann auch ich ihr nicht auseinanderklamüsern. So differenziert muss man das meiner Meinung nach mit der Regiekompetenz sehen. Die Regiekompetenz muss individuell für jeden Bereich entschieden werden - es gibt Bereiche, da hat der Vater nun wirklich nichts mehr zu sagen. Aber hier hat er z.B. das Aufenthaltsrecht- Bestimmungsrecht und ist in die Regiekompetenz mit eingebunden. Schablon: Ok. Wenn wir uns nun mehr auf den Sozialraum beziehen. Wer aus der Gemeinde könnte, Ihrer Meinung nach, konstruktiv etwas zur Steigerung der Teilhabe beitragen? Thimm: Ja, da fang ich mal mit den Kirchengemeinden an. Die Kirchengemeinden, und das sage ich als aktives Gemeindemitglied, stellen einen zentralen Aspekt im Community-Care- Prozess dar. Wenn die das nicht machen, wer denn dann? Das sage ich jetzt nicht als Professioneller, sondern das sage ich als Gemeindemitglied. Verstehen Sie? Da hab ich eine ganz andere Rolle. Ich glaube ja, dass man in Kirchengemeinden, das ist auch Teil dieser Vision, eine lokale Form des politischen Zusammenlebens realisieren kann. Hierzu müsste allerdings wieder diakonischer und karitativer gedacht werden. In den Kirchengemeinden gibt es noch große Potenziale, und die halte ich im Kontext von Community-Care für sehr bedeutsam. Im Verständnis der Gemeinde als Gebietskörperschaft muss sehr differenziert geguckt werden: Wo sind die wichtigsten Kristallisationskerne? Das kann die freiwillige Jugendfeuerwehr sein, das kann der Sportverein oder im ländlich strukturierten Bereich auch der Kaninchenzuchtverein sein. „Wo ist man wer? “ und „Wer unternimmt und initiiert viel? “ Das können völlig unterschiedliche Bereiche sein, an denen sich das Miteinander-Leben konkretisieren kann, Bereiche, die eine integrative Funktion haben, die Spaß machen und eine Freizeitbeschäftigung bieten. Volkshochschulkurse bieten zum Beispiel auch eine gute Möglichkeit zur Gemeinweseneinbindung. Aber nur einzelne Volkshochschulen bieten zum Beispiel Tandembildungen an. Das sind Assistenzmodelle, in denen z. B. eine bildungsbeflissene Dame für den begrenzten Zeitraum von einem Semester eine junge geistig behinderte Frau mit in den Tiffany-Glaskurs begleitet. Sie muss das ja nur ein Semester lang machen. „Nur mal so, hol sie ab, nimm sie mal mit und mach mal.“ In England macht man gute Erfahrungen mit solchen Assistenzmodellen. Oder die jungen Alten, die heutigen jungen Rentnerinnen, wenn die aus den ersten Omaverpflichtungen ihrer Familie heraus sind, die Kinder schon etwas größer sind - meine Güte -, die sind doch aktiv! Da würde ich Potenziale suchen. Also, das beantwortet doch eigentlich Ihre Frage: Ich würde solche Kristallisationskerne des Miteinander- Lebens, der Freizeitgruppierung suchen, und die sind so bunt wie ein bunter Hund. Also wirklich, ich hab da einige bei uns im Ammerland im Auge, toll! Schablon: Beantworten Sie mir abschließend doch bitte noch die Frage, wer ihrer Meinung nach den ersten Schritt in Richtung Community-Care machen sollte. Geht die Initialzündung von den professionellen Fachkräften aus? VHN 2/ 2009 157 Community-Care Thimm: Wir haben da keinen speziellen Profi. Im Landkreis Oldenburg hat eine ehemalige Diplomandin von mir eine Versorgungslandschaft aufgebaut. Die hat einfach einen Blick dafür: „Mensch, da machen wir mal miteinander ein Café auf“, „Und hier machen wir eine Berufsqualifizierung“. Das ist von Fall zu Fall verschieden. An sich sollten professionelle Fachkräfte das können, aber ich will sie nicht überfordern. Wichtig ist es, sich einen Partner zu suchen. Das kann ein Laie sein oder ein pensionierter Lehrer oder wen man sonst in Anspruch nehmen kann. Wer das nun macht, also als Organisator, ist nicht so bedeutsam. Schablon: Herr Prof. Dr. Thimm, ich danke Ihnen sehr für diese interessanten und persönlichen Ausführungen. Dr. Kai-Uwe Schablon Dipl.-Päd./ Dipl.-Soz. Päd. Fachschule für Heilerziehung Segelmannstraße 49 D-22297 Hamburg E-Mail: Schablon@aol.com
