eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Auf dem Weg ins Gemeinwesen - Kommunale Planung für Menschen mit Behinderung in Theorie und Praxis

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2009
Christine Blankenfeld
Grit Wachtel
Zur Realisierung personenbezogener Perspektiven im Rahmen der Behindertenhilfe bedarf es der Ergänzung durch eine sozialräumliche Perspektive. Anknüpfend an das Thimmsche Planungsmodell für ein regionales Hilfe-Ensemble für Menschen mit Behinderung werden am Beispiel der Teilhabepläne für Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg Möglichkeiten der praktischen Realisierung einer kommunalen Sozialplanung diskutiert. Am Beispiel des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald werden Chancen und Grenzen exemplarisch dargestellt.
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197 VHN, 78. Jg., S. 197 - 211 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Fachbeitrag Auf dem Weg ins Gemeinwesen - Kommunale Planung für Menschen mit Behinderung in Theorie und Praxis Christine Blankenfeld Grit Wachtel Kommunalverband für Jugend und Soziales, Humboldt-Universität zu Berlin Baden-Württemberg (KVJS) n Zusammenfassung: Zur Realisierung personenbezogener Perspektiven im Rahmen der Behindertenhilfe bedarf es der Ergänzung durch eine sozialräumliche Perspektive. Anknüpfend an das Thimmsche Planungsmodell für ein regionales Hilfe-Ensemble für Menschen mit Behinderung werden am Beispiel der Teilhabepläne für Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg Möglichkeiten der praktischen Realisierung einer kommunalen Sozialplanung diskutiert. Am Beispiel des Landkreises Breisgau- Hochschwarzwald werden Chancen und Grenzen exemplarisch dargestellt. Schlüsselbegriffe: Behindertenhilfe, kommunale Sozialplanung, Planungsmodell nach Thimm, Teilhabeplan On the Way to the Local Community - Theory and Practice of Communal Planning for Individuals with Disabilities n Summary: To realise individual-related perspectives in the context of the care for persons with disabilities it is important to include the perspective of social space. The following representation is based on the planning model by Thimm, a model of a regional ensemble of offers of assistance for individuals with disabilities. On this background the authors discuss the possibilities for the realisation of a communal social plan in practice, illustrated by the example of the participation plans for disabled people in Baden-Württemberg. The approach of the administrative district Breisgau-Hochschwarzwald documents the chances and limits of communal social planning. Keywords: Care for individuals with disabilities, communal social planning, planning model, participation plan Die gegenwärtige Fachdiskussion im Bereich der Behindertenhilfe sowie der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf spiegelt unter dem Schlagwort „vom institutionsbezogenen Denken, Planen und Handeln zum personenbezogenen Denken, Planen und Handeln“ in vielfältigen Facetten die praktischen Entwicklungen wider, die sich in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig bei der Durchsetzung der individuellen Perspektive von besonderen Unterstützungsbedarfen abzeichnen (Beck 2002). Damit die personenbezogene Perspektive zum Tragen kommen kann, bedarf es der Ergänzung durch eine sozialräumliche Perspektive, welche die Gestaltung des Gemeinwesens in den Mittelpunkt stellt. Thimm (2002, 25) betont nachdrücklich, dass die „Feststellung und Reklamierung von individuellen Hilfen zur Integration und Partizipation …, ihre Legitimationen und legislativen Absicherungen … ins Leere [laufen], wenn nicht gleichzeitig die Gestaltung der Infrastruktur der nahen sozialen Räume, in denen Partizipation und Integration alltagspraktisch verwirklicht werden müssen, in Angriff genommen wird. Personenbezogene Hilfen bedürfen der Stützung durch entsprechende sozialräumliche Strukturen: Lebenschancen konstituieren sich nur in einem ausge- VHN 3/ 2009 198 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel wogenen Verhältnis von individuellen Optionen und sozialen Einbindungen (Dahrendorf 1979)“. Daraus ergeben sich u. a. folgende Konsequenzen für die Gestaltung eines Systems der Dienstleistung und Unterstützung für Menschen mit Behinderung und ihre Familien: n Schaffung struktureller, rechtlicher, finanzieller und konzeptioneller Voraussetzungen für integrative, gemeindeorientierte Angebote; n Festlegung regionaler und zielgruppenspezifischer Zuständigkeiten; n Kooperationen und Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen (Sozial-)Politikfeldern im Rahmen kommunaler Planungen und realer Praxis; n Verknüpfung besonderer mit allgemeinen Hilfen und Diensten; n Verbindliche Beteiligung der Adressaten; n Wohnortnähe der Angebote, Flexibilisierung, Orientierung am individuellen Bedarf (Beck 2002, 198). Die Pluralisierung von Welt- und Lebensanschauungen, die Entstandardisierung von Lebensläufen und die daraus resultierenden Chancen, aber auch Zwänge zur Individualisierung der Lebensgestaltung haben zu einer erheblichen Ausdifferenzierung möglicher Lebensformen geführt. Die Entwicklung vollzieht sich in den einzelnen Regionen Deutschlands in sehr differenzierter Weise, jeweils in Abhängigkeit von den kulturellen und regionalen Gegebenheiten (Bertram u. a. 1993). Der dabei zu beobachtende Wandel lässt sich nicht allein an den Trennlinien Stadt-Land oder Ost-West festmachen, sondern es findet „ein Prozess der zunehmenden Ausdifferenzierung in unterschiedliche regionale (Lebens- [d. V.]) Milieus“ statt (Bertram/ Hennig 1995, 292). Da sich die Bewertungen der eigenen Lebenslage zumeist ausdrücklich auf den Nahraum beziehen, werden regional spezifische Lebenswelten zunehmend zu einer sozialpolitisch relevanten Größe, die im Rahmen einer regional angelegten Sozialberichterstattung und den daraus abzuleitenden sozialpolitischen Interventionen zu berücksichtigen sind. Als Beispiel: Baden-Württemberg Die dargestellte Entwicklung zeigt sich aktuell und in aller Deutlichkeit in Baden-Württemberg. Mit der Verwaltungsreform zum 1. Januar 2005 ist in Baden-Württemberg ein Prozess in Gang gekommen, der weit reichende Folgen für die kommunale Sozialplanung in der Behindertenhilfe hatte. Bis Ende 2004 waren in Baden-Württemberg die beiden Landeswohlfahrtsverbände Baden und Württemberg-Hohenzollern als Leistungsträger zuständig für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach SGB XII für Menschen mit Behinderung. Zudem standen sie in der Verantwortung für Planung, Koordinierung und Weiterentwicklung der Angebote der Behindertenhilfe. Diese Aufgaben sind 2005 auf die 44 Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg übergegangen. Die Stadt- und Landkreise stehen dabei vor denkbar verschiedenen Herausforderungen: Große einwohnerreiche Stadt- und Landkreise in den Ballungsräumen haben andere Aufgaben als einwohnerarme Flächen-Landkreise mit geringer Besiedlungsdichte (Erreichbarkeit, Angebotspalette, Lebenslagen) - industriell geprägte Regionen andere als der ländliche Raum (Arbeitsangebot, Lebensstile). 1 Planungsmodell für ein regionales Hilfe-Ensemble nach Thimm Die geforderte Umsetzung einer sozialräumlichen Perspektive erfordert angemessene Strategien. Als zentral für das Gelingen von Dezentralisierung und der damit untrennbar verbundenen Umsetzung der personalen Perspektive erweist sich die soziale Nahraumplanung. Sozialraum- oder gemeindebezogenes Denken findet jedoch innerhalb der Behindertenhilfe bisher nur punktuell Beachtung, was in der Jugendhilfe längst VHN 3/ 2009 199 Auf dem Weg ins Gemeinwesen State-of-the-Art ist. Es war insbesondere Walter Thimm, der sich in mehreren Forschungsprojekten mit Fragen der theoretischen Untersetzung und der praktischen Realisierung einer solchen sozialräumlichen Perspektive im Rahmen der Behindertenhilfe befasst hat (vgl. Interview in VHN 2/ 2009, 150 - 157). 1.1 Ziele: Bedarf ermitteln und Perspektiven aufzeigen Die zentrale Absicht von Thimms Forschungsprojekt „Modellvorhaben: Wege der Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern“ 1 war es, die „‚Entdeckung des Gemeinwesens‘ (The Spirit of Community, Etzioni 1995) der Behindertenhilfe nahezulegen“ (Thimm 2002, 25). Die Hauptziele des Projektes bestanden darin, 1. bezogen auf konkrete Lebensregionen Hilfebedarfe von Familien mit behinderten Kindern und bestehende Angebotsstrukturen zu ermitteln und miteinander in Beziehung zu setzen sowie 2. auf dieser Grundlage beispielhaft Wege und Perspektiven für Veränderungen im Sinne einer größeren Passgenauigkeit von Bedarfen und Angeboten aufzuzeigen. 1.2 Voraussetzung: Zuverlässige regionale Bestandsaufnahme Die Entwicklung eines bedarfsgerechten Unterstützungssystems für Menschen mit Behinderung und ihre Familien setzt ein Zusammenwirken der unterschiedlichen regional (örtlich) ausgerichteten Politikbereiche in Städten und Abb. 1: Regionale Infrastruktur: Hilfen für behinderte Menschen und ihre Familien (in Anlehnung an Thimm 2005, 226) VHN 3/ 2009 200 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel Gemeinden sowie Stadt- und Landkreisen voraus. Es werden zuverlässige regionale Bestandsaufnahmen und eine Behindertenhilfeplanung benötigt, die sich als Teil regionaler Sozialplanung versteht. „Örtliche Sozialplanung“ fasst alle Einzelplanungen zur örtlichen sozialen Infrastruktur zusammen (Thimm/ Wachtel 2002) (vgl. Abb. 1). Nach den vorliegenden Forschungsergebnissen ist dies in der Praxis aber bisher höchst selten der Fall. In Baden-Württemberg hat der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) bis Ende 2008 in 15 von 44 Stadt- und Landkreisen Planungsprozesse in der Behindertenhilfe fachlich begleitet und unterstützt (KVJS 2008). Hier hat sich gezeigt, dass die von Thimm vorgeschlagene umfassende Bestandsaufnahme der Angebote und deren Nutzung eine unabdingbare Voraussetzung für eine gute Planung ist. Ein empirisch fundiertes Vorgehen trägt wesentlich dazu bei, die Diskussion zwischen Politik, Verwaltung, Anbietern und den betroffenen Familien zu versachlichen. Dabei ist es besonders für die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung wichtig, alle Angebote und Leistungsbereiche zu berücksichtigen, mit denen sie in ihrer Lebenswelt in Berührung kommen. Dies gilt unabhängig von Zuständigkeitsfragen und Finanzierungswegen, die eine koordinierte Planung von Hilfe und Unterstützung in der Praxis - personenbezogen wie sozialräumlich - häufig erschweren. 1.3 Schnittstellen: Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Schule Im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) wurde dieser Ansatz durch offizielle Verlautbarungen bereits mehrfach bekräftigt (u. a. BMFSFJ 1998, Bildungskommission NRW 1995, KMK 1994). Soll die „Schule als Haus des Lernens“ und als „Lern- und Lebensraum“ für alle Kinder gestaltet werden, müssen „historisch gewachsene Grenzen zwischen Schule, Kinder- und Jugendhilfe“ und - so ist hinzuzufügen - Behindertenhilfe (SGB XII) überwunden werden. Angemahnt werden insbesondere die bessere Koordination und Kooperation der Hilfen vor Ort, z. B. in Bezug auf lokale Integrationsprojekte oder Hilfen für benachteiligte Kinder, Jugendliche und ihre Familien. In der Sonderpädagogik steht eine breitere Diskussion noch aus. Erst vereinzelt - z. B. bei Heimlich (1998) - werden solche Kooperationsprobleme diskutiert, und es wird auf die Notwendigkeit einer besseren Abstimmung von Schulgesetzgebung und Jugendhilfe hingewiesen. Unter ausdrücklichem Bezug auf die Familien- und Jugendhilfeberichterstattung fordert Heimlich ein mit familien- und jugendpolitischen Initiativen vernetztes nachbarschaftlich-, stadtteil-, regionalorientiertes sonderpädagogisches Dienstleistungssystem. Im Zehnten Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 1998) wird mit Nachdruck die Integration der Leistungen der Sozialhilfe zur Eingliederung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in den Kinder- und Jugendhilfebereich gefordert. Die Ergebnisse aus den Modellvorhaben unterstreichen diese Notwendigkeit eindrücklich. Die Barrieren zwischen diesen Bereichen erweisen sich als großes Hindernis zur Optimierung der Hilfen für Familien mit behinderten Kindern. Die systemisch (auf das Gesamtsystem Familie) ausgerichtete Perspektive des KJHG könnte die klientenzentrierte Ausrichtung der Eingliederungshilfe aufbrechen und damit den Bedürfnissen der (nicht behinderten) Familienmitglieder eher gerecht werden. Damit könnte das Hilfespektrum z. B. um institutionelle Entlastungsangebote für Kleinkinder und Schulkinder (Krippen, Kinderhorte), um familienorientierte Angebote (Familienhilfe in Ergänzung zum traditionellen FED-Angebot), nicht zuletzt aber um die Möglichkeit einer integrierten Hilfeplanung, wie sie im KJHG vorgesehen ist, erweitert werden. Mindestens sollten im Verwaltungshandeln an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Eingliederungshilfe Hilfen „aus einer Hand“ gewährt werden. Leistungen nach dem SGB VIII und SGB XII sollten dabei sinnvoll aufeinander abgestimmt werden und sich VHN 3/ 2009 201 Auf dem Weg ins Gemeinwesen gegenseitig ergänzen. Darauf weist auch eine aktuelle Untersuchung in Baden-Württemberg hin (Blankenfeld 2008). 1.4 Probleme: Regionale Unterschiede - geringe Vernetzung - mangelnde Einbindung ins Gemeinwesen Ergebnisse des oben genannten Modellvorhabens lassen die Notwendigkeit eines regionalen, fachübergreifenden Planungsvorgehens deutlich erkennen, verweisen aber gleichzeitig auf dessen Probleme (Thimm/ Wachtel 2002; Thimm 2005). Einige davon seien nachfolgend stichpunktartig benannt: n Regionen mit einem differenzierten und verhältnismäßig umfassenden Angebot stehen Regionen mit erheblichen Angebotslücken gegenüber. Deshalb ist zu konstatieren: „Von Chancengleichheit in Bezug auf die mögliche Inanspruchnahme von Diensten und Einrichtungen kann keine Rede sein“ (Thimm 2005, 227). n Vernetzungen ambulanter, teilstationärer und stationärer Angebote der Behindertenhilfe untereinander sind in der Regel nur schwach ausgeprägt. Kooperationen mit Diensten und Einrichtungen aus anderen Bereichen (Kinder- und Jugendhilfe, Schule, medizinische Dienste u. a.) sind häufig nur defizitär oder gar nicht vorhanden. Regionale Arbeitskreise, die der Gesamtentwicklung der regionalen Infrastruktur sozialer Dienstleistungen dienen, existieren vergleichsweise selten bzw. sind nicht bekannt. n Stationäre Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, unabhängig von deren Alter, scheinen in besonders geringem Maße in Netzwerke eingebunden zu sein. n Ein weiterer ins Auge fallender Befund war die Tatsache, dass freiwilliges bürgerschaftliches Engagement nur eine sehr begrenzte Rolle in der Behindertenhilfe spielt, in den neuen Bundesländern noch weniger ausgeprägt als in den alten. Diese Tatsache steht im Widerspruch zu aktuellen gesellschaftspolitischen Tendenzen, regionale Strukturen unter Einbeziehung neuer Formen bürgerschaftlichen Engagements zu stärken. Die Forderung nach Individualisierung der Hilfen für Menschen mit Behinderung in ihren konkreten Lebensräumen stimmt überein mit gesellschaftspolitischen Forderungen zum Lebensweltbezug sozialpolitischer Steuerung in Richtung Gemeinwesenorientierung, die sich auch in weiten Passagen des SGB IX widerspiegeln (Thimm 2005, 227f ). 1.5 Lösungen: Regionale Planung auf der Ebene von Planungsregionen Eine Möglichkeit, diese beiden Perspektiven zu verknüpfen, sieht Thimm in einer regionalen Behindertenhilfeplanung, die umfassende Bezüge zur allgemeinen sozialen Infrastruktur herstellt. Ausgehend von den regionalen Erhebungen im Modellvorhaben schlägt Thimm als groben Orientierungsrahmen zur regionalen Berichterstattung und Planung die Bildung von zwei Planungsregionen in unterschiedlichen sozialräumlichen Größenordnungen vor (vgl. Abb. 2; Thimm/ Wachtel 2002; Thimm 2005). Abb. 2: Planungsregionen (Thimm 2005, 228) VHN 3/ 2009 202 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel Planungsregion 1 entspricht einer Wohnregion mit ca. 100.000 Einwohnern, davon ca. 100 Familien mit einem minderjährigen behinderten Kind. Planungsregion 2 entspricht einer überörtlichen Region. Sie umfasst vier Wohnregionen mit je ca. 100.000 Einwohnern (entspricht insgesamt etwa 400.000 Einwohnern, davon ca. 400 Familien mit einem minderjährigen behinderten Kind). Für diese Planungsregionen sollen relevante Daten der allgemeinen sozialen Infrastruktur ermittelt werden. In Bezug auf die Lebenssituation von Familien mit behinderten Kindern sollten auch Daten des Deutschen Jugendinstitutes genutzt werden. Welche Versorgungsbausteine sind den genannten Regionen vorzuhalten? Richtet man das Augenmerk auf Planungen für gemeindeorientierte Hilfen für Familien mit behinderten Kindern, so sind in der Planungsregion 1 (Wohnregion) in Abstimmung der Anbieter im Bereich der Behindertenhilfe untereinander, mit den allgemeinen und besonderen schulischen Einrichtungen, den Angeboten aus der Kinder- und Jugendhilfe und anderen Partnern ortsnahe Bausteine der Grundversorgung sicherzustellen. Dazu zählen vor allem: n Ein zuverlässiges Informationssystem (z. B. in Anlehnung an den internetbasierten Familienratgeber, vgl. www.familienratgeber. de); Servicestelle der Rehabilitationsträger; institutionalisierte Kooperationsformen im Sinne regionaler Arbeitsgemeinschaften nach SGB IX; institutionalisierte individuelle Hilfeplanung; n Frühberatungs- und Förderangebote; Tagesstätten-, Kinderkrippen- und Kindergartenplätze für beeinträchtigte Kinder im Rahmen allgemeiner Angebote; differenzierte Angebote zur schulischen Förderung (z. B. Niedersachsen regionale Integrationskonzepte); Begleitung im Übergang Schule - Beruf/ Erwachsenenleben; n Familienentlastende/ -unterstützende Dienste (FED/ FUD); Hilfen zur Freizeitgestaltung; n Selbsthilfegruppen (z. B. Familiengesprächskreise); Kontakte zu freiwilligem sozialem Engagement in der politischen oder der Kirchengemeinde, Kontakte zu Freiwilligenbüros und -agenturen. Sowohl gut ausgebaute familienunterstützende Dienste als auch Frühförderstellen könnten aufgrund ihrer Angebotsvielfalt sowie ihrer großen Nähe zu den Familien als zentrale Ansprechstellen koordinierende Aufgaben in einer Region übernehmen. Um Dienstleistungen, die Familien mit Kindern mit Behinderung in ihrem Lebensumfeld zur Verfügung stehen, zu beurteilen, bietet sich ein Vorgehen in drei Schritten an (Thimm/ Wachtel 2002): 1. Unter der Prämisse, dass Familien mit Kindern mit Behinderung ebenso wie allen anderen Familien eine gleichberechtigte und umfassende gesellschaftliche Teilhabe an allen relevanten Lebensbereichen entsprechend ihrer individuellen Lebensplanung zu ermöglichen ist, ist im ersten Schritt die kommunale Gesamtentwicklung unter kinder- und familienorientierten Gesichtspunkten zu betrachten: Wie werden Aspekte der Kinder- und Familienpolitik in die kommunale Gesamtentwicklung eingebettet? Welche Angebote, z. B. in den Bereichen Kinderbetreuung und Freizeit, existieren für Familien? Welche Mitsprachemöglichkeiten haben Kinder, Jugendliche und Familien? 2. Im zweiten Schritt ist zu fragen, ob die bestehenden „Regel“-Angebote für Familien mit Kindern mit Behinderung offen sind bzw. wo Barrieren für solch eine Öffnung liegen. Diese Herangehensweise deckt sich z. B. mit der im SGB IX, § 19, Abs. 3 formulierten Forderung, dass „bei Leistungen an behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Kinder eine gemeinsame Betreuung behinderter und nichtbehinderter Kinder angestrebt“ wird. Neben der Sicherung struktureller Bedingungen spielen hierbei personale Bedingungen eine entscheidende Rolle. VHN 3/ 2009 203 Auf dem Weg ins Gemeinwesen 3. Im dritten Schritt ist sowohl nach den Leistungen zu fragen, die „Regel“-Angebote für die praktische Gestaltung inklusiver Lern- und Lebensumwelten benötigen, als auch danach, welche speziellen Angebote für Familien mit Kindern mit Behinderung in ihrer jeweils individuellen Situation zusätzlich zu den bereits vorhandenen allgemeinen Angeboten benötigen. In welchem Rahmen können diese Angebote bereitgestellt werden? Wie werden sie miteinander verknüpft? Nicht alle Hilfen für Familien mit behinderten Kindern können im unmittelbaren Wohnumfeld, in der Wohnregion bereitgestellt werden. So könnten sich z. B. die Träger von stationären Angeboten für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bei ihren Überlegungen zur Regionalisierung und Dezentralisierung und der damit verbundenen Chance, andere Aufgaben zur überörtlichen Versorgung zu übernehmen, an einer überörtlichen Region - Planungsregion 2 - orientieren. Unter besonderer Berücksichtigung von Familien mit behinderten Kindern sind zu den Versorgungsbausteinen einer überörtlichen Region vorrangig zu rechnen: n Wohnheimplätze für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (nach heutigen Erkenntnissen etwa 40 Plätze); n In den sich wandelnden stationären Einrichtungen einer solchen Planungsregion könnten zudem auch folgende, gezielt auf die Wohnregionen bezogene Dienstleistungen angesiedelt sein: spezielle diagnostische, therapeutische, fördernde Angebote; Kurzzeitbetreuung, -pflege, -entlastung, -behandlung (Bedarf ca. 4 - 5 Plätze); Ferienangebote; spezielle Bildungsangebote für Eltern und interessierte Laien; Fortbildung für Personal. Nach unserer Einschätzung dürfte die enge Verzahnung der Wohnregionen mit einem solchen überörtlichen Zentrum, zu dessen Kernangebot etwa 30 bis 40 stationäre Plätze als Dauerlebensort gehören, am ehesten durch Fachkräfte aus der Wohnregion, die eine besonders intensive Beziehung zu Eltern haben (z. B. Frühförderstellen; Familienentlastende Dienste), gesichert werden. Im Hinblick auf die Entwicklung stationärer Angebote für Kinder und Jugendliche gibt es gegenwärtig mehr offene Fragen als empirisch gestützte Antworten. Werden Heime auch in mittel- und langfristiger Perspektive als Dauerlebensorte für Kinder und Jugendliche erforderlich sein? In welcher Größenordnung und für welchen Personenkreis? Werden andere Angebote eine substituierende Wirkung haben oder aber gar eine Zubringerfunktion erfüllen? All diese Fragen werden nur zu beantworten sein, wenn wir auf eine längere Phase der konsequenten Verzahnung der teilstationären und offenen Hilfen einer Wohnregion mit den auf diese Wohnregionen bezogenen kleineren Heimen zurückblicken können. Beim derzeitigen Entwicklungsstand scheint dies mittelfristig im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit Behinderung für viele Regionen lösbar (ausführlich Thimm/ Wachtel 2002) zu sein. Bemühungen zur Dezentralisierung stationärer Hilfen müssen zunächst darauf gerichtet sein, regionale Disparitäten Schritt für Schritt auszugleichen. Eine Möglichkeit stellt die Bildung von Außenstellen bestehender Einrichtungen dar. Neugründungen sollten nicht ins Auge gefasst werden, wenn der Bedarf insgesamt als gedeckt angesehen werden kann. Zusammenfassend ist festzustellen: Voraussetzung für die Konzipierung und Gestaltung der Angebote für Kinder mit Behinderung und ihre Familien sind differenzierte Bestandsaufnahmen in den jeweiligen Planungsregionen in enger Zusammenarbeit mit den Trägern und den Zielgruppen. „Die zu planenden Angebote müssen auf Angebotslücken antworten, die von den regionalen Trägern als durch sie dauerhaft nicht zu schließende Lücken definiert werden, und die Anbieter stationärer Hilfen müssen sich auf eine gemeinwesenorientierte Planung einlassen“ (Thimm 2005, 230f ). Die bereits genannten lokalen Gremien nach dem SGB IX könnten dazu einen Beitrag leisten. VHN 3/ 2009 204 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel 2 Kommunale Teilhabepläne in Baden-Württemberg Seit dem 1. Januar 2005 stehen in Baden-Württemberg die 44 Stadt- und Landkreise in der Verantwortung für Planung, Koordinierung und Weiterentwicklung der Angebote der Behindertenhilfe. Damit sind die politische Verantwortung und das Verwaltungshandeln für Menschen mit Behinderung und ihre Familien in größere Nähe zu den Menschen gerückt. Menschen mit Behinderung haben somit einen Ansprechpartner vor Ort. Viele Stadt- und Landkreise haben zudem kommunale Sozialplanungen für Menschen mit Behinderung erarbeitet und in einem Bericht zusammengefasst. Dafür hat sich in Baden-Württemberg der Begriff „Teilhabeplan“ durchgesetzt. Es ist viel in Bewegung gekommen - zum Nutzen der Betroffenen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: 1. Fast alle Zuständigkeiten liegen auf örtlicher Ebene in einer Hand. Die Rathäuser und Landratsämter haben die Chance, koordinierte Unterstützung zu leisten. Reibungsverluste zwischen überörtlichem und örtlichem Sozialhilfeträger entfallen. 2. Die Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Familien gerät stärker in den Fokus des öffentlichen und kreispolitischen Interesses. Die lokalen Bezüge und Erfordernisse werden transparent. 3. Die Beteiligten vor Ort - Verwaltung, Politik, Familien, Einrichtungsträger, Projekte und Initiativen - können ein neues Fundament für die künftige fachliche Zusammenarbeit legen. Persönliche Bekanntheit untereinander und kontinuierlicher Austausch bieten dafür gute Voraussetzungen. 4. Kommunale Sozialplanung in der Behindertenhilfe vor Ort eröffnet die Möglichkeit, durch die engere Verzahnung der Angebote der Behindertenhilfe mit den allgemeinen bzw. Regelangeboten vor Ort Synergien zu schaffen. Dadurch wird es eher möglich, individuelle und passgenaue Lösungen zu entwickeln. Allerdings zeigen sich auch die regionalen Unterschiede in den Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung mit großer Deutlichkeit. In manchen Regionen ist ein sehr differenziertes wohnortnahes Angebot mit guter Vernetzung der einzelnen Bausteine vorhanden - in anderen Regionen besteht lediglich eine Grundversorgung. Planungskultur und Planungsverständnis unterscheiden sich von Kreis zu Kreis erheblich. Probleme und Konflikte treten jetzt deutlicher in Erscheinung. Dies gilt vor allem für Fragen der Weiterentwicklung des Unterstützungssystems für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung, die nicht selten kommunal- und landespolitischen „Zündstoff“ bergen. Die These von Thimm bestätigt sich auch innerhalb Baden-Württembergs: Stadt- und Landkreise mit einem differenzierten und verhältnismäßig umfassenden Angebot stehen Stadt- und Landkreisen mit Angebotslücken gegenüber. Eine Grundversorgung ist jedoch in allen Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs gegeben. 2.1 Planungsprozesse: Neue Planungskultur mit breiter Beteiligung Der KVJS berät und unterstützt die Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeit. Über diesen gesetzlichen Auftrag hinaus hat der KVJS ein Konzept zur Erstellung von Teilhabeplänen entwickelt. Ein Teilhabeplan stellt danach eine Entscheidungsgrundlage für kreispolitische Beschlüsse dar. Er gibt Handlungsempfehlungen für die quantitative und qualitative Weiterentwicklung der Angebote der Behindertenhilfe, ersetzt aber nicht die Entscheidung selbst. Der KVJS berät und unterstützt während des Planungsprozesses, um die Verwaltung und die politischen Gremien für künftige Entscheidungen zu stärken. Der Teilhabeplan bietet eine umfassende Bestandsaufnahme aller Angebote für Menschen mit Behinderung auf der Basis empirisch gesicherter Daten. Dazu gehören z. B. Frühförderung, Kindergarten und Schule, Werkstätten VHN 3/ 2009 205 Auf dem Weg ins Gemeinwesen und Wohnangebote sowie die Offenen Hilfen. Die dafür erforderlichen Leistungen erbringt der KVJS für die Stadt- und Landkreise nach Beauftragung und gegen Entgelt. Der Leistungsumfang richtet sich nach den Wünschen und Erfordernissen der beauftragenden Stadt- oder Landkreise und wird auf die besondere Situation vor Ort abgestimmt. Die Federführung für den Planungsprozess bleibt in der Hand der Stadt- und Landkreise, die praktische Arbeit wird vom KVJS erbracht. Am Ende des Planungsprozesses steht der Teilhabeplan als gedruckter Bericht, der von den Kreisgremien verabschiedet wird. Bis zum Ende des Jahres 2008 hatten 15 der 44 Stadt- und Landkreise den KVJS damit beauftragt, sie bei der Erstellung eines Teilhabeplans zu unterstützen. Darüber hinaus haben weitere Stadt- und Landkreise Teilhabepläne ohne Unterstützung durch den KVJS erstellt. Sozialplanung ist ein Prozess, der mit allen Beteiligten kontinuierlich und auf Dauer weiterentwickelt werden muss. Teilhabepläne werden in einer intensiven Arbeitsphase gemeinsam mit allen Beteiligten entwickelt. Die Sozialverwaltung der Stadt- und Landkreise bildet in der Regel einen begleitenden Arbeitskreis aus Vertreterinnen und Vertretern der Jugend-, Schul- und Gesundheitsämter, der Einrichtungen und Angebote für Menschen mit Behinderung sowie von Vereinen und Initiativen, die sich in diesem Aufgabenfeld engagieren. Als ausgesprochen wertvoll für den gesamten Prozess der Sozialplanung hat es sich erwiesen, jeweils Mitglieder aller Fraktionen des Kreistags sowie Vertreterinnen und Vertreter aus der Reihe der Bürgermeister einzubinden. Angehörige werden ebenfalls in den Prozess der Sozialplanung einbezogen. Für die Beteiligung von Menschen mit geistiger Behinderung bietet es sich an, einen eigenständigen Rahmen zu schaffen. Hier können wesentliche Inhalte des Planungsprozesses in leichter Sprache vermittelt werden, und mit einer fachlich begleiteten Moderation kommen Menschen mit geistigen Behinderungen hier auch tatsächlich zu Wort. In den begleitenden Arbeitskreisen entwickelt sich eine neue Gesprächskultur. Die gemeinsame Arbeit, die in der Regel ein bis zwei Jahre dauert, schafft eine gute Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Zukunft. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Verwaltung und Einrichtungsträgern, sondern auch für die unterschiedlichen Fachbereiche innerhalb der Kreisverwaltung. Die begleitenden Arbeitskreise zum Teilhabeplan manifestieren sich nach Verabschiedung des Teilhabeplans in den politischen Gremien oft als dauerhafte Arbeitsgemeinschaften. Es entsteht also genau das, was Thimm vermisst: die Vernetzungen ambulanter, teilstationärer und stationärer Angebote der Behindertenhilfe untereinander. Arbeitskreise auf Kreisebene gab es zwar auch schon vor 2005, allerdings bei Weitem nicht so häufig und in der gleichen Verbindlichkeit wie heute. Lediglich im Bereich der Frühförderung hatte ein Teil der Stadt- und Landkreise nach der Rahmenkonzeption des Landes Kreisarbeitsgemeinschaften eingerichtet, die zum Teil sehr erfolgreich im Sinne der Thimmschen Konzeption gearbeitet haben (Sozialministerium Baden-Württemberg (1998). 2.2 Planungsräume: Angebot und Einzugsgebiet Menschen mit Behinderung und ihre Familien wünschen sich überwiegend, in räumlicher Nähe zueinander zu leben. Deshalb orientiert sich das Konzept des KVJS am Ziel einer möglichst wohnortnahen Versorgung, was die Bildung sinnvoller Planungsräume voraussetzt. Die Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg sind aufgrund ihrer Einwohnerzahl (55.000 bis 600.000 Einwohner) und ihrer Ausdehnung in der Fläche als Planungseinheiten dafür oft zu groß. Eine Sozialplanung für Menschen mit Behinderung auf Gemeindeebene ist meist auch nicht sinnvoll, weil viele Städte und Gemeinden eine so geringe Einwohnerzahl haben, dass für viele Angebote kaum wirtschaftlich sinnvolle Mindestgrößen realisierbar sind. VHN 3/ 2009 206 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel Man muss das Rad nicht neu erfinden: Eine gute erste Orientierung bieten die Mittelbereiche, die in den Landesentwicklungsplänen ausgewiesen sind. In der Regel finden sich in Baden-Württemberg in diesen Mittelbereichen mindestens eine Werkstatt für behinderte Menschen und eine Schule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Es bietet sich jedoch oft an, die Mittelbereiche in kleinere Planungsräume zu unterteilen. Die Aufteilung sollte sich an geografischen Bezügen (Topografie), bestehenden Verkehrsachsen (Straßen und vor allem ÖPNV) und der bestehenden Einrichtungslandschaft (Wohnheime und Werkstätten) orientieren. Die Aufteilung der Stadt- und Landkreise in Planungsräume bildet einen Zwischenschritt hin zu einer sozialräumlichen Planung. Dabei hat sich in Baden-Württemberg eine Größe von 50.000 bis 80.000 Einwohnern für einen Planungsraum als sinnvoll erwiesen. Aufgrund von regionalen Besonderheiten sind erheblich abweichende Größen jedoch regelmäßig zwingend. Dabei ergeben sich manchmal auch „leere“ Planungsräume, in denen z. B. bislang weder Werkstätten für behinderte Menschen noch Wohnheime angesiedelt sind. Die Bildung von Planungsräumen macht jedoch bei einer Bedarfsvorausschätzung deutlich, wo und in welchem Umfang innerhalb eines Stadt- oder Landkreises in den nächsten Jahren zusätzlicher Bedarf entsteht. Planungsräume können später - je nach Angebotssegment und dessen Einzugsbereich - wieder zu größeren Gebieten zusammengefasst werden. Wichtig aber ist, Bestand und Bedarf innerhalb dieser Planungsräume auszuweisen, um eine verlässliche Planungsgrundlage zu erhalten. Das individuelle Wunsch- und Wahlrecht wird durch die Bildung von Planungsräumen nicht eingeschränkt - eine viel geäußerte Befürchtung der Betroffenen. Denn es gibt fachliche und persönliche Gründe, eine Einrichtung zu wählen, die in einem anderen Planungsraum, einem anderen Stadt- oder Landkreis oder in einem anderen Bundesland liegt. Zu welchen Ergebnissen eine Planung für Menschen mit geistiger Behinderung führt, soll im Folgenden am Beispiel des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald 2 veranschaulicht werden. Dazu wurden exemplarisch drei Angebotssegmente - Werkstatt, betreutes Wohnen, Heim für Kinder und Jugendliche - ausgewählt. 2.3 Beispiel aus der Praxis: Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald hat rund 250.000 Einwohner in 50 Städten und Gemeinden mit 1.000 bis 18.000 Einwohnern. Er umschließt als „Kragenkreis“ den Stadtkreis Freiburg. Der Hochschwarzwald bildet den östlichen Teil des Landkreises und steht aufgrund der Wege und Entfernungen planerisch weitgehend für sich. Der übrige Teil des Landkreises ist insgesamt wie auch im Bereich der Behindertenhilfe stark auf die Stadt Freiburg orientiert. Aufgrund seiner Ausdehnung in der Fläche, der großen Höhenunterschiede und der engen regionalen Verflechtung gehört der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald zu den Landkreisen, die für eine sozialräumliche Planung sehr komplex sind. Im Sinne einer wohnortnahen Versorgung wurde der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald in sechs Planungsräume aufgeteilt (vgl. Abb. 3). Die Aufteilung musste vorrangig auf topografische Bezüge Rücksicht nehmen. Die Vielzahl der relativ kleinen Städte und Gemeinden, die weiten Entfernungen und die - bedingt durch die großen Höhenunterschiede - weiten Wege und langen Fahrtzeiten erfordern es, vergleichsweise viele Planungsräume mit geringer Einwohnerzahl zu bilden. Die Planungsräume müssen je nach Erfordernis wieder zu größeren Einheiten zusammengefasst werden, um wirtschaftlich sinnvolle Mindestgrößen für Einrichtungen und Angebote zu ermöglichen. Besonders bei den Planungsräumen im Umland der Stadt Freiburg bestehen vielfältige Bezüge, sodass zum Teil auch die Einrichtungen in der Stadt Freiburg mit in den Blick genommen werden müssen. VHN 3/ 2009 207 Auf dem Weg ins Gemeinwesen Dies zeigt sich z. B. bei der Versorgung mit Werkstatt-Plätzen. Im Landkreis Breisgau- Hochschwarzwald gibt es vier Werkstätten für geistig behinderte Menschen, die ihren Standort in vier verschiedenen Planungsräumen haben. Am 31. Dezember 2007 arbeiteten dort 363 Werkstatt-Beschäftigte (vgl. Abb. 4). Dies entspricht einer Versorgung von 15 Plätzen je 10.000 Einwohner. In den beiden Planungsräumen südlich und östlich der Stadt Freiburg gibt es keine Werkstatt. Die Menschen mit geistiger Behinderung, die in diesen beiden Planungsräumen wohnen, besuchen die Werkstätten in der Stadt Freiburg. Der Planungsraum östlich der Stadt Freiburg (Dreisamtal) hat eine sehr geringe Einwohnerzahl. Der Bedarf ist hier nicht groß genug, um einen eigenständigen Werkstatt- Standort zu bilden, denn eine Hauptwerkstatt braucht in der Regel 120 Plätze, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Eine Zusammenlegung mit dem Planungsraum Hochschwarzwald ist aufgrund der beträchtlichen Höhenunterschiede nicht möglich. Die Menschen mit geistiger Behinderung besuchen eine Werkstatt in der Stadt Freiburg. Aufgrund der geringen Entfernung ist diese Versorgung, obwohl in einem anderen Kreis angesiedelt, dennoch wohnortnah. Für den Planungsraum südlich der Stadt Freiburg (Mittlerer Breisgau) gilt grundsätzlich dasselbe. Jedoch ist es hier möglich, diesen Planungsraum mit einem anderen (Mittlerer Breisgau) innerhalb des Kreises zusammenzulegen, da hier keine topografischen Grenzen im Wege stehen. Werkstätten können zudem Zweigwerkstätten und Außenarbeitsgruppen bilden. Diese könnten dazu beitragen, die beiden Planungsräume, die bislang noch ohne Werkstatt-Plätze sind, mit einem wohnortnahen Angebot auszustatten. Anders stellt sich dies im Bereich des betreuten Wohnens dar. Im Landkreis Breisgau- Hochschwarzwald lebten am 31. Dezember 2007 46 Menschen mit geistiger Behinderung Abb. 3: Planungsräume im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald - Einwohnerzahlen vom 31. 12. 2007 (N = 250.183) (Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald 2008) VHN 3/ 2009 208 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel im betreuten Wohnen, und zwar verteilt über alle sechs Planungsräume (vgl. Abb. 5). Das entspricht einer Versorgungsdichte von 0,4 bis 3,7 Personen je Planungsraum und 10.000 Einwohner. Die großen Unterschiede sind wesentlich das Ergebnis der Angebotsstruktur vor Ort und damit abhängig davon, wie die Anbieter das jeweilige Angebot ausgestalten und wie attraktiv es für die Menschen mit geistiger Behinderung ist. Beim betreuten Wohnen zeigen sich also kleinräumig große Differenzen in der Versorgung. Das betreute Wohnen kann prinzipiell in allen Städten und Gemeinden eingerichtet werden, da einzelne Wohnungen flexibel auf dem Wohnungsmarkt angemietet werden können. Die Einzugsbereiche müssen keine Mindestgrößen aufweisen. Allerdings sollte das betreute Wohnen gut mit den Angeboten des stationären Wohnens verzahnt werden, um einen fließenden Übergang zu ermöglichen. Weiter sollte es so organisiert sein, dass die Menschen mit geistiger Behinderung selbstständig zur Arbeit fahren und Freizeitangebote wahrnehmen können, um der Gefahr einer Vereinsamung entgegenzuwirken. Dies ist im Planungsraum östlich der Stadt Freiburg (Dreisamtal) gegeben: Im Haus Demant (Offene Hilfen) wird ein vielfältiges Programm und eine Anlaufstelle geboten. Das Hofgut Himmelreich (Hotel und Gasthof ) stellt als Integrationsunternehmen Arbeitsplätze für Menschen mit geistiger Behinderung zur Verfügung. Obwohl es im Planungsraum Dreisamtal keine Werkstatt gibt und mittelfristig auch kein stationäres Wohnangebot, hat der Planungsraum trotz geringer Einwohnerzahl ein - in Bezug auf die geringe Einwohnerzahl - qualitativ gutes Angebot. Ein Wohnheim für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung gibt es im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald nicht - bis auf wenige Plätze in einer Einrichtung für Erwachsene, die jedoch bald aufgegeben werden müssen. Abb. 4: Werkstatt-Beschäftigte mit geistiger Behinderung am 31. 12. 2007 im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald - Standorte der Werkstätten (Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald 2008); Datenbasis: Leistungserhebung im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald zum Stichtag 31. 12. 2007 (N = 363) VHN 3/ 2009 209 Auf dem Weg ins Gemeinwesen Gleichzeitig war der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Kostenträger für 35 Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung, die in verschiedenen Einrichtungen verteilt über ganz Baden-Württemberg lebten. Es sollte also geprüft werden, ob die Schaffung eines eigenen Angebotes sinnvoll ist. Grundsätzlich sollte eine solche Einrichtung nicht als Solitär entstehen, sondern sinnvoll in vorhandene Strukturen eingebettet sein. Als geeigneter Standort käme die räumliche Anbindung an eine bestehende Schule in Betracht, die Kinder mit schwer mehrfacher Behinderung aufnimmt. Zudem ist es für eine solche vergleichsweise kleine Einrichtung wichtig, das notwendige fachliche Know-how sicherzustellen. Dafür sollte nach einer verbindlichen Kooperation mit einem erfahrenen Träger gesucht werden. Gegebenenfalls könnten sich mehrere Stadt- und Landkreise zusammenschließen, um regional das erforderliche Angebot gemeinsam zu realisieren. 3 Fazit Das Thimmsche Modell der beiden Planungsregionen mit 100.000 und 400.000 Einwohnern zeigt sich auch in der Praxis als brauchbarer und sinnvoller Ansatz für eine Dezentralisierung der Angebote in Richtung auf eine sozialräumliche Orientierung. Aufgrund von regionalen Besonderheiten sind kleinere Planungsräume jedoch oft unvermeidbar. Je nach Angebotssegmenten und deren Einzugsbereich müssen kleinere Planungsräume später wieder zusammengelegt werden (z. B. Werkstatt für behinderte Menschen). Für Angebote mit überregionalem Einzugsbereich wie z.B. stationäre Wohnheime für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung sind größere Einzugsbereiche mit 400.000 Einwohnern richtig. Für Baden-Württemberg bedeutet dies in der Praxis, dass sich mehrere Stadt- und Landkreise hier zusammenschlie- Abb. 5: Betreutes Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung am 31. 12. 2007 im Landkreis Breisgau- Hochschwarzwald (Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald 2008); Datenbasis: Leistungserhebung im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald zum Stichtag 31. 12. 2007 (N = 46) VHN 3/ 2009 210 Christine Blankenfeld, Grit Wachtel ßen müssen, um ein bedarfsgerechtes, fachlich sinnvolles und wirtschaftliches Angebot zu realisieren. Eine konsequent sozialräumliche Orientierung der Sozialplanung in der Behindertenhilfe steht - nicht nur in Baden-Württemberg - noch aus. Anmerkungen 1 Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Arbeitsstelle REHAPLAN; Leitung: Prof. Dr. W. Thimm; Laufzeit: 1. 12. 1998 - 30. 11. 2001; Förderung: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Ausführliche Informationen zum Projekt entnehmen Sie bitte dem Abschlußbericht, der unter Thimm/ Wachtel „Familien mit behinderten Kindern. Wege der Unterstützung und Impulse zur Weiterentwicklung regionaler Hilfesysteme“ (2002) erschienen ist und auf den für diesen Beitrag in Teilen zurückgegriffen wird. 2 Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald: Teilhabeplan für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Freiburg. Bearbeitung: Christine Blankenfeld, Julia Sutter (KVJS). Literatur Beck, Iris (2002): Die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Familien in Deutschland. In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Bd. 4: Gesundheit und Behinderung im Leben von Kindern und Jugendlichen. 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Weinheim: Beltz VHN 3/ 2009 211 Auf dem Weg ins Gemeinwesen Christine Blankenfeld Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg Lindenspürstraße 39 D-70176 Stuttgart Tel.: ++49-7 11-63 75-7 45 E-Mail: christine.blankenfeld@kvjs.de Dr. Grit Wachtel Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Rehabilitationswissenschaften Georgenstraße 36 D-10117 Berlin Tel.: ++49-30-20 93-42 35 Fax: ++49-30-20 93-44 04 E-Mail: grit.wachtel@rz.hu-berlin.de