eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Was macht die Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen zu einer sehgeschädigtenpädagogischen Bildung?

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2009
Sven Degenhardt
Christoph Henriksen
Je nach institutioneller Struktur erhalten Kinder mit mehrfachen Behinderungen und Sehschädigung Förderung in Blinden- und Sehbehindertenschulen oder sie und die Personen ihres Umfeldes werden durch mobile Systeme unterstützt und beraten. Auf schulpolitischer und konzep-tioneller Ebene steigt der Druck, die Spezifik ihres Auftrages zu begründen. Mit dem Verweis, dass bereits einem sonderpädagogischen Förderbedarf entsprochen wird, wird stellenweise die Schaffung entsprechender mobiler Dienste für diesen Personenkreis abgelehnt. – In dem Beitrag wird herausgearbeitet, dass eine moderne Sehgeschädigtenpädagogik über das Paradigma der Anschlussfähigkeit an eine allgemeine Pädagogik/Didaktik bzw. eine Schwerstbehindertenpädagogik/-didaktik in dieser Situation überzeugend agieren kann. Dieser Ansatz wendet sich von der Auffassung ab, wonach eine Sehschädigung eine Primärbehinderung darstellt, unter die sich alle anderen pädagogischen Interventionen unterzuordnen haben. Gleichzeitig stellt er sich aber auch gegen das Selbstverständnis einer Schwerstbehindertenpädagogik, wonach alle Förderbereiche innerhalb dieser implizit aufgehoben sind. Ebenso ist ein additives, getrenntes Nebeneinander einer Blinden- und einer Schwerstbehindertenpädagogik, die sich die pädagogischen Interventionen untereinander aufteilen, ausgeschlossen.
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Fachbeitrag VHN, 78. Jg., S. 212 - 226 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 212 Was macht die Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen zu einer sehgeschädigtenpädagogischen Bildung? Sven Degenhardt Christoph Henriksen Universität Hamburg Landesförderzentrum Sehen, Schleswig n Zusammenfassung: Je nach institutioneller Struktur erhalten Kinder mit mehrfachen Behinderungen und Sehschädigung Förderung in Blinden- und Sehbehindertenschulen oder sie und die Personen ihres Umfeldes werden durch mobile Systeme unterstützt und beraten. Auf schulpolitischer und konzeptioneller Ebene steigt der Druck, die Spezifik ihres Auftrages zu begründen. Mit dem Verweis, dass bereits einem sonderpädagogischen Förderbedarf entsprochen wird, wird stellenweise die Schaffung entsprechender mobiler Dienste für diesen Personenkreis abgelehnt. - In dem Beitrag wird herausgearbeitet, dass eine moderne Sehgeschädigtenpädagogik über das Paradigma der Anschlussfähigkeit an eine allgemeine Pädagogik/ Didaktik bzw. eine Schwerstbehindertenpädagogik/ -didaktik in dieser Situation überzeugend agieren kann. Dieser Ansatz wendet sich von der Auffassung ab, wonach eine Sehschädigung eine Primärbehinderung darstellt, unter die sich alle anderen pädagogischen Interventionen unterzuordnen haben. Gleichzeitig stellt er sich aber auch gegen das Selbstverständnis einer Schwerstbehindertenpädagogik, wonach alle Förderbereiche innerhalb dieser implizit aufgehoben sind. Ebenso ist ein additives, getrenntes Nebeneinander einer Blinden- und einer Schwerstbehindertenpädagogik, die sich die pädagogischen Interventionen untereinander aufteilen, ausgeschlossen. Schlüsselbegriffe: Blindheit, Sehbehinderung, mehrfache Behinderung, Schwerstbehindertenpädagogik What Makes the Education of Children with Multiple Impairments an Education for the Visually Impaired? n Summary: Depending on the institutional structure children with multiple disabilities and visual impairments receive support and assistance in schools for the visually impaired or they and their reference persons get itinerant support and counselling. The pressure of school policy and conceptual expectations is growing in order to justify the specifics of the institution’s mandate. With reference to an already existing special educational need, establishing itinerant services in the field of visual impairment is often withhold. - This article demonstrates that an up-to-date Education for the Visually Impaired can be able to act convincingly as a paradigm of a connecting link to General Education respectively to an Education for the Severely Disabled. This approach turns away from the perception of a visual impairment as primary impairment, which dominates all further educational interventions. At the same time though it opposes the self-conception of an Education for the Severely Disabled that revokes all other specific areas of special assistance and support. Furthermore an additive, separate coexistence of an Education for the Visually Impaired and an Education for the Severely Disabled, sharing the educational interventions among each other, is impossible. Keywords: Blindness, visual impairment, multiple disabilities, Education for the Severely Disabled Die Antwort auf die Titelfrage erscheint aus der Sicht von Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen einfach und simpel: Wenn man sich die alltägliche Praxis der Arbeit mit Menschen mit mehrfachen Behinderungen und Sehschädigung ansieht, gibt es zwei schulorganisatorische Modelle für eine auf diesen Personenkreis bezogene „Sehgeschädigtenpädagogik“: Je nach institutioneller Struktur des Bundeslandes oder der Region erhält dieser Per- VHN 3/ 2009 213 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen sonenkreis Förderung in Blinden- und Sehbehindertenschulen, oder sie und die Personen ihres Umfeldes werden durch mobile Systeme unterstützt und beraten. Gemeinsam ist den Lehrkräften in den verschiedenen Einrichtungen das Ziel, den Schülerinnen und Schülern mit mehrfachen Behinderungen und Sehschädigung Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Auf den zweiten Blick fällt jedoch auf, dass es eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit mehrfachen Behinderungen gibt, bei denen allein die Erfassung eines potenziellen Förderbedarfs im Bereich des Sehens nicht stattfindet - nicht stattfinden darf - oder bei denen ein eigenständiger sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich des Sehens unter Verweis auf den durch die mehrfache Behinderung definierten Sonderpädagogischen Förderbedarf negiert wird („Es kann nur einen Sonderpädagogischen Förderbedarf geben! “). Was macht nun die Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen zu einer sehgeschädigtenpädagogischen Bildung, und wann wird ein Sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich des Sehens festgestellt und erfüllt und damit „eigenständig“? Ein erster Schritt ist die Beschreibung der zu betrachtenden Personengruppe: Janz beschreibt den Kreis der Schülerinnen und Schüler mit mehrfachen Behinderungen in Anlehnung an Klauß und Lamers folgendermaßen: „Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen sind Menschen, die in (fast) allen Bereichen (z. B. der Selbstversorgung, der Ernährung und Kommunikation und meist auch der Bewegung) auf umfassende Unterstützung angewiesen sind. Sie haben eine schwere geistige Behinderung, die häufig mit weiteren körperlichen Beeinträchtigungen bzw. Sinnesbehinderungen verbunden ist“ (Janz 2006, 14). Bei der Frage, ob ein eigenständiger Förderbedarf im Bereich des Sehens innerhalb dieses Konstruktes definierbar ist, sind verschiedene Positionen feststellbar: Die erste geht - im Extremen - davon aus, dass per Definition Menschen mit schweren Behinderungen einen Entwicklungsstand der visuellen Wahrnehmung aufweisen, der nahezu immer eine eigenständige und spezifische sehgeschädigtenpädagogische Intervention begründet bzw. dass durch die Veränderungen des Gehirns fast zwangsläufig zerebrale visuelle Wahrnehmungsstörungen zu beachten sind. Kurz und vereinfacht könnte diese Position heißen: Alle Menschen mit schweren Behinderungen haben potenziell einen zusätzlichen Förderbedarf im Bereich des Sehens. Die gegenüberliegende extreme Position legt die Definition von Janz derart eng aus, dass bei einer spezifisch auf die mehrfache Behinderung eingehenden pädagogischen Intervention eine zusätzliche Sehgeschädigtenpädagogik nicht nötig ist, da sie in einer Schwerbehindertenpädagogik bereits enthalten ist. (Eine vor allem unter fiskalischem Gesichtspunkt ertragreiche Position.) In der Praxis ist mitunter eine dritte Variante zu beobachten, bei der die sehgeschädigtenspezifischen Inhalte additiv - parallel zur sonstigen Förderung - durch eine Fachkraft eingebracht werden. Ohne die schwerbehindertenpädagogische Arbeit weiter zu beeinflussen, wird eine Förderung des Sehens angeboten. Blinden- und Schwerstbehindertenpädagogik teilen sich dabei die Förderung des Kindes zeitlich und inhaltlich auf und hoffen letztendlich darauf, dass „beim Kind“ die Interventionen zusammengeführt zu einer angestrebten neuen Qualität führen. Im Unterschied zu diesen Positionen soll im Folgenden gefragt werden, ob und unter welchen Bedingungen eine Beeinträchtigung des Sehens im Zusammenhang mit einer schweren Behinderung eine spezifische Quantität oder Qualität einnimmt und damit einen eigenständigen Förderbedarf im Bereich des Sehens hervorruft. Die Beantwortung dieser Frage führt direkt zu dem Themenfeld der Diagnostik. Das zu entwickelnde Verständnis von Diagnostik wird ein dreischrittiges sein VHN 3/ 2009 214 Sven Degenhardt, Christoph Henriksen müssen: vom Einstieg in eine Diagnostik des Sehens über die grundlegende Diagnostik des physiologischen und funktionalen Sehens bis hin zu einer mit der pädagogischen Förderung verbundenen Diagnostik (im Sinne einer prozessbegleitenden Diagnostik). In jedem der Schritte wird die Frage nach den Beeinträchtigungen des Sehens einerseits und nach den Barrieren der Umwelt für den visuellen Bereich andererseits charakteristisch sein. Diese Fragestellung ist verbunden mit einem speziellen diagnostischen Instrumentarium und dem sehgeschädigtenpädagogischen Selbstverständnis, Handlungsspielräume für eine Pädagogik bei schwerer Behinderung zu erweitern. 1 Einstieg in die Diagnostik des Sehens Woran merken Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, dass ein Kind auf dem Gebiet der visuellen Wahrnehmung einen eigenständigen Förderbedarf hat? Wie entsteht der „Anfangsverdacht“, dass die Körperfunktionen bzw. -strukturen im Sinne der ICF (vgl. WHO 2001/ 2004) im Bereich der visuellen Wahrnehmung geschädigt sind? Bevor im Rahmen einer ophthalmologischen und sehgeschädigtenpädagogischen Diagnostik beschrieben werden kann, wie es um das physiologische und funktionale Sehen eines Menschen bestellt ist, muss es jemanden geben, der in der Lage ist, das Verhalten des Kindes vor dem Hintergrund einer potenziellen Sehschädigung zu deuten und der weiß, dass es notwendig sein kann, dass eine vorhandene Sehschädigung in der Planung der Förderung Berücksichtigung findet. Grundkenntnisse sehgeschädigtenspezifischen Wissens muss die Personen erreichen, die keine Spezialisten für die Diagnostik und Förderung im Förderschwerpunkt Sehen sind: Eltern, Ärzte, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kindergärten, Sonderkindergärten und den örtlichen Frühförderstellen, Lehrkräfte der Schulen für Menschen mit geistiger Behinderung und Körperbehinderung. Diese Gruppen müssen darüber informiert sein, welche Merkmale auf eine Sehschädigung hindeuten können. Sie brauchen Weiterbildungsangebote, und sie müssen die Experten in geeigneten Institutionen um gezielte Unterstützung bitten können. Damit die Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen eine sehgeschädigtenpädagogische Bildung werden kann, sind Kriterien für die (Verhaltens-)Beobachtung nötig, mit denen Kennzeichen von Sehschädigungen aufgedeckt und beschrieben werden können. Kennzeichen von Sehbeeinträchtigungen: Beobachtungshinweise Auffälligkeiten, die am Auge zu erkennen sind: n Form und Farbe der Augen ist auffällig, n Auffälligkeiten wie Augenzittern, Augenrollen, Schielen, Fehlen der Lichtreaktion der Pupille, n Augenbohren, häufiges Verdrehen, Blinzeln, Zusammenkneifen der Augen, n Rötung oder Tränen der Augen. Auffälligkeiten in der Kommunikation: n Kind scheint Menschen erst dann zu erkennen, wenn sie mit ihm sprechen, n nimmt keinen Augenkontakt auf, n scheint an anderen Personen vorbeizusehen, n tastet mit der Hand, um herauszufinden, wo sich jemand befindet, n erschrickt leicht, wenn Berührung ohne Vorwarnung erfolgt oder bei unerwarteten Geräuschen, n es wirkt so, als ob keine Rücksicht auf Menschen oder Gegenstände in der Umgebung genommen wird, n Gebärden, Handlungen oder Bewegungen erregen wenig Aufmerksamkeit. VHN 3/ 2009 215 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen Auffälligkeiten in der Wahrnehmung der Bewegung und der Positionierung im Raum: n Kind schaut Gegenstände nur an, wenn sie sich unmittelbar vor den Augen befinden, n setzt das Sehen nur kurz zur Orientierung ein und orientiert sich dann tastend, n Suchbewegungen während des Greifens, n hat Angst, ohne Hilfe zu gehen, n kann Abstände schlecht einschätzen, n bewegt sich ungeschickt, scheint das Gleichgewicht zu verlieren oder fällt, n bewegt sich unterschiedlich geschickt in Räumen in Abhängigkeit von der Lichtsituation in einem Raum, n hat Mühe, sich an Änderungen zu gewöhnen (z. B. wenn Möbel umgestellt werden), n kennt sich in der vertrauten Umgebung aus, hat Mühe in fremden Umgebungen, n sieht auf den Boden, auf der Suche nach Schwellen, Türstufen oder Bürgersteigen, n reagiert unerwartet stark bzw. ängstlich auf Änderungen der Farbe des Untergrundes. Auffälligkeiten beim Sehen in der Nähe: n Kind neigt beim Betrachten von Gegenständen den Kopf auf auffällige Art und Weise, n starrt in helles Licht, n bewegt die Hand oder die Finger schnell vor den Augen entlang, n bewegt den Kopf auffällig, z. B. durch Drehen oder Schütteln, n bedeckt ein Auge mit der Hand, n zeigt Blickauffälligkeiten wie scheinbares Vorbeisehen an einem fixierten Objekt, kann keinen Blickkontakt aufnehmen, „verschlafener“ Blick, n ermüdet schnell bei Aufgaben, die Anforderungen an das Sehen stellen, n nutzt die kompensatorische Funktion der anderen Sinne. (vgl. zu diesem Thema u. a. Appelhans/ Krebs 1985, 15; Henriksen/ Henriksen 2006; Visio 2005; Hyvärinen o. J., WHO 1992) Diese Zusammenstellung von Beobachtungshinweisen verdeutlicht ein gravierendes Merkmal jeglichen diagnostischen Vorgehens: Es handelt sich um ein hypothesengeleitetes Verfahren. Die beschriebenen Verhaltensweisen erlauben in einem anderen professionellen Kontext auch andere Deutungen: Ein Kind, das keinen Blickkontakt aufnimmt, scheinbar an einem vorbeisieht, Schwierigkeiten mit Veränderungen in der Umgebung hat und die Finger vor den Augen hin und her bewegt, kann einen autistischen Eindruck erwecken und damit auf die Diagnose Autismus verweisen. Zum Beispiel J.: J. reagierte nicht auf die Streifenmuster der Tests und konnte nicht länger fixieren. Ihre Kopfbewegungen und ihr Lächeln erweckten den Eindruck, als würde sie erst auf die Ansprache durch andere Menschen reagieren. Auf ihr eigenes Spiegelbild reagierte sie dagegen offenbar aufgrund eines Seheindrucks, sodass es möglich schien, dass sie Gesichter visuell wahrnimmt. Als J. von hinten gestützt auf dem Boden saß und farbige Kugeln auf dunklem Untergrund zu ihr gerollt wurden, griff sie gezielt nach diesen Kugeln, selbst als diese sich nicht mehr vom Untergrund abhoben. Ihr widersprüchliches Verhalten steht immer wieder in der Gefahr, nicht als Ausdruck einer Sehschädigung gesehen, sondern als Motivationsarmut oder Bereitschaft, die Erwachsenen zu ärgern, gedeutet zu werden. 2 Diagnostik des Sehens Wird ein „Anfangsverdacht“ auf das Vorhandensein einer Sehschädigung geäußert, muss eine umfassende Diagnostik des Sehens erfolgen. Grundlage ist eine Diagnostik des physiologischen Sehens im Rahmen einer Untersuchung durch den behandelnden Augenarzt. „Der wesentliche Charakter der Diagnostik bei der Feststellung der Art und des Umfangs der Augenerkrankung und der Sehleistung ist - bedingt durch den Gegenstand und die anzuwendenden diagnostischen Instrumente - ein medizinischer, ein ophthalmologischer“ (Degenhardt 2007, 53). VHN 3/ 2009 216 Sven Degenhardt, Christoph Henriksen Die Sehleistungen des Kindes in Alltagssituationen (also auch in Lernsituationen) erschließen sich nicht ausschließlich durch instrumentengeleitete Diagnostik in Laborsituationen. Hier ist eine zweite Säule der Diagnostik des Sehens erforderlich, die Diagnostik des funktionalen Sehens. Die Abklärung des funktionalen Sehens ist keine isolierte „Vorab-Diagnostik“ vor der eigentlichen sehgeschädigtenpädagogischen Förderung, sondern muss mit der weiteren Arbeit verschränkt werden: Gezielte Beobachtungen im Alltag durch die Personen des Umfeldes geben wichtige Hinweise, um das Sehverhalten der Schülerinnen und Schüler genauer kennenzulernen und zu beschreiben. Woran haben die Kinder Interesse, und wie erkennen wir dies? Wie lange können die Kinder sich konzentrieren, und gibt es Dinge, vor denen sie sich fürchten? Hat die Lagerung der Kinder oder Jugendlichen Einfluss auf das visuelle Verhalten? Besonders bei nicht sprechenden Kindern ist die enge Zusammenarbeit mit Eltern, Therapeutinnen und Therapeuten und Lehrkräften notwendig, um die Reaktionen der Kinder verstehen und einordnen zu können. Es kann sinnvoll sein, vor der eigentlichen Überprüfung die Tests zu üben. Die Beurteilung sollte in vertrauter Umgebung stattfinden, begleitet von Personen, die dem Kind bekannt sind. Neben speziell qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Low-Vision-Trainerinnen und -Trainern oder Orthoptistinnen ist für diese Diagnostik ein interdisziplinär tätiges Team Voraussetzung. Im Rahmen eines Comeniusprojektes - mit Projektpartnern aus Belgien, Luxemburg, Norwegen, der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland (Staatliche Schule für Sehgeschädigte, Schleswig) - wurde eine Sammlung von Items für die Überprüfung des funktionalen Sehens bei Jugendlichen und Kindern mit Sehschädigung und mehrfachen Behinderungen erarbeitet (vgl. Henriksen/ Henriksen 2006). Bei der Beurteilung des funktionalen Sehens sind danach u. a. folgende Faktoren und Funktionen einzubeziehen: Visuelle Aufmerksamkeit, Lidschlussreflex, Pupillenreflex, Fixation, Optokinetischer Nystagmus, Folgebewegungen, Formwahrnehmung, Sehschärfe, Kontrastsehen, Adaptation, Akkommodation, Konvergenz/ Divergenz, Bewegungswahrnehmung, Gesichtserkennung, Farbsehen, visuell gesteuerte Bewegungen und Gesichtsfeld. Wenn sich im Anschluss an die augenärztliche Untersuchung und die Überprüfung des funktionalen Sehens der Anfangsverdacht eines zusätzlichen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Sehen erhärtet, erfolgt ein nächster Diagnoseschritt. Nach der ersten Begutachtung lassen sich Hypothesen darüber formulieren, welche Aspekte des Sehens in der Folge gezielt durch die Personen des Umfeldes beobachtet werden müssen. Um mitzuarbeiten, brauchen manche Kinder mehr Vertrautheit mit der Überprüfungssituation. Und immer gilt: Einmal gemachte Beobachtungen bedürfen nach einiger Zeit der erneuten Begutachtung. Zum Beispiel S.: Als wir S. kennenlernten, war eine Bestimmung der Sehschärfe nicht möglich. Sie konnte nur kurzzeitig ihren Kopf halten, und unwillkürliche Bewegungen verhinderten längere Fixationszeiten. Sie zeigte eine deutliche visuelle Aufmerksamkeit. Ein Jahr später hatte S. ihre Fähigkeiten, den Kopf aufrecht und still zu halten, deutlich verbessert, sodass die Bestimmung der Gittersehschärfe mit den Lea-Gratings (Informationen zu den Verfahren: www.lea-test.fi) möglich wurde. Inzwischen haben sich ihre motorischen und damit auch ihre visuellen Möglichkeiten weiterentwickelt: S. steuert einen Elektrorollstuhl und orientiert sich zunehmend selbstständig in den Räumen der Schule. Parallel konnte damit begonnen werden, mit S. die Symbole des Hyvärinen-Tests zur Bestimmung der Sehschärfe zu üben, sodass in naher Zukunft nicht nur die Gittersehschärfe, sondern auch die Erkennungssehschärfe mit Optotypen ermittelt werden kann. Das angeführte Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit der engen Kooperation mit Experten/ innen anderer Förderschwerpunkte. Ohne die Expertise der Kolleginnen und Kollegen mit VHN 3/ 2009 217 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen dem Förderschwerpunkt motorische Entwicklung wäre die Einschätzung des funktionalen Sehens nicht vollständig gewesen. Die Ergebnisse der Überprüfung des funktionalen Sehens müssen in die Gesamtdiagnostik einfließen. Ganzheitlichkeit der Diagnostik für Schülerinnen und Schüler mit mehrfachen Behinderungen heißt, dass die verschiedenen Disziplinen ihre Expertise einbringen, um ein möglichst umfassendes Bild der Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen, deren wechselseitige Bedingtheit und die Auswirkungen auf die Aktivitäten und die Teilhabe an Bildung zu erfassen. Diagnostik und Förderung bilden dabei eine Einheit: Während mit dem Kind gearbeitet wird, dem Kind Angebote gemacht werden, werden gleichzeitig auch der Entwicklungsstand und die Auswirkungen der jeweiligen Schädigungen durch Verhaltensbeobachtungen festgestellt. Umgekehrt werden bestimmte Angebote gezielt gestaltet, weil beispielsweise festgestellt wurde, dass ein Kind in einer bestimmten Position am besten visuell wahrnehmen kann (z. B. Beruhigung des Nystagmus bei Blick nach links - Angebote von links; Hemianopsie rechts - Angebote von links). Die geforderte Ganzheitlichkeit kann nur dann erreicht werden, wenn die Personen, die mit der Schülerin oder dem Schüler leben und arbeiten, über gewonnene Erkenntnisse auf dem Laufenden sind und sie nachvollziehen können. Die Ergebnisse der Überprüfung des funktionalen Sehens und die Hypothesen, die daraus abgeleitet werden, müssen in verständlicher Weise dokumentiert, kommuniziert und allen Beteiligten zugänglich sein. Wie für eine pädagogisch-psychologische Diagnostik im Allgemeinen gilt auch für die Diagnostik des funktionalen Sehens, dass es sich um einen Prozess der Hypothesenbildung handelt, der sich in andauernder Bewegung befindet; jede Aussage zum Sehen des Kindes steht unter dem Vorbehalt, möglicherweise in einer neuen Situation oder unter einem anderen professionellen Blickwinkel verifiziert oder falsifiziert zu werden. 3 Auswirkungen einer Sehschädigung Wurde bei der Diagnostik des funktionalen Sehens begonnen und wurden Hinweise gefunden, welche die Annahme stützen, dass Beeinträchtigungen des Sehens vorliegen, stellt sich die Frage, wie sich diese Beeinträchtigungen auswirken können. Im Verständnis der ICF ist dies die Frage nach den Auswirkungen von Schädigungen in den Körperfunktionen und -strukturen auf die Aktivitäten und die Teilhabe. „Bei der Untersuchung der Schulkinder und der Erwachsenen sind die folgenden vier Bereiche der Sehfunktionen von Bedeutung: 1. Kommunikation (sowohl von Person zu Person als auch in der Gruppe), 2. Orientierung und Mobilität (der gesamte Bereich ‚Wahrnehmung und Bewegung‘), 3. Lebenspraktische Fertigkeiten oder Alltagspraktische Fertigkeiten und 4. Aufgaben, die ein länger andauerndes Sehen in der Nähe erfordern, z. B. Lesen und Schreiben (auf englisch ‚sustained near vision tasks‘)“ (Hyvärinen, o. J., vgl. auch WHO 1992). Nicht die Zuschreibungen „blind“ oder „sehbehindert“ bestimmen die Maßnahmen, sondern die konkreten Auswirkungen der Beeinträchtigungen in den jeweiligen Bereichen. So können Kinder in Teilbereichen vorwiegend taktile und/ oder akustische Informationen nutzen und sich in anderen Bereichen visuell orientieren. Die Gliederung, die Hyvärinen vorschlägt, erlaubt es, Ordnung in die vielfältigen Beobachtungen zu bringen. Die Rückführung der Beobachtungen auf die Diagnostik des funktionalen Sehens hilft zu verstehen und nachzuvollziehen, warum sich ein Kind in einer konkreten Situation verhält, als sei es amaurotisch blind, und in einem anderen Zusammenhang erstaunliche visuelle Leistungen vollbringt. Die Auswirkungen von Sehschädigung im Bereich der Kommunikation verdienen besondere Beachtung. Gerade bei nicht sprechenden Schülerinnen und Schülern ist eine genaue VHN 3/ 2009 218 Sven Degenhardt, Christoph Henriksen Kenntnis der Sehschädigung und ihrer Auswirkungen auf die Kommunikation notwendig, damit der alltägliche Umgang gelingt. Das eigene Interaktionsverhalten ist durch nonverbale Signale wie Blickkontakt, Zuwendung des Gesichtes zum Sprecher oder mimische Äußerungen in hohem Maße beeinflusst, ohne dass die an der Kommunikation Beteiligten diesen Einfluss während des Kontaktes ständig analysieren. Es muss bekannt sein, ob ein Kind beispielsweise exzentrisch fixiert, damit sein Verhalten nicht als Verweigerung von Blickkontakt und tendenziell autistisch gedeutet wird. Schülerinnen und Schüler mit eingeschränktem Kontrastsehen können die Mimik ihrer Mitschüler/ innen und Lehrkräfte oft nicht ausreichend wahrnehmen, um daraus die für die Einschätzung der Situation notwendigen Informationen abzuleiten. Ihr daraus resultierendes Verhalten kann leicht als passiv oder unangemessen bewertet werden. Zum Beispiel A.: A., ein nicht sprechender Schüler im letzten Schulbesuchsjahr, ist stark fehlsichtig und sehr blendempfindlich. Um etwas genau zu erkennen, muss er einen sehr geringen Abstand wählen. Personen, die den Raum betreten, werden mit engen Umarmungen und aufmunternde Begrüßungen nachahmenden Lauten empfangen, ein Verhalten, das der Klassenlehrer als unangemessen und distanzlos beschreibt. Genauere Beobachtungen zeigen, dass A. ohne diese Begrüßungen nicht weiß, wer den Raum betreten hat. Er kann durch den geringen Abstand bei der Umarmung herausfinden, um welche Person es sich handelt. Bewusste deutliche Begrüßung durch die Lehrkraft, bei welcher der Name der eintretenden Person genannt wird, verhelfen A. zu den notwendigen Informationen und vermindern das vermeintlich distanzlose Verhalten. Zunehmende Bedeutung in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit mehrfachen Behinderungen erfährt die Unterstützte Kommunikation (UK). In diesem Kontext werden u. a. Gebärden eingesetzt, mit Hilfe von Piktogrammen Stundenpläne erstellt oder bestimmte Aktivitäten angekündigt. Geräte zur Kommunikationsanbahnung wie der „BIGmack“, „PowerLink“ oder der „Step-by-Step“ und Geräte zur Unterstützten Kommunikation wie der „Go-Talk“ oder komplexere Talker werden eingesetzt (vgl. Abb. 1). Bei all diesen Maßnahmen ist genau zu prüfen, welche Auswirkungen die jeweilige Sehschädigung hat: Sind die Gebärden visuell nachvollziehbar (das schließt beispielsweise ein, die Aufmerksamkeit auf die eigene Kleidung zu richten - bei stark gemusterten oder gar rosafarbenen Kleidungsstücken sind Gebärden deutlich schlechter zu erkennen als vor dunklen einfarbigen Kleidungsstücken), oder müssen taktil wahrnehmbare Gebärden verwendet werden? Sind die Tasten des „Power- Link“ oder „Step-by-Step“ visuell wahrnehmbar, oder können sie „anregender“ gestaltet werden? Sind die mit dem „PowerLink“ ausgelösten Effekte ausreichend wahrnehmbar? Wie zugänglich sind die Felder der Talker? Hat der Schüler sie räumlich codiert, kann er sie visuell erkennen, oder muss ein Scanning-Verfahren eingesetzt werden? Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Sehschädigung und mehrfachen Behinderungen muss der Bereich Orientierung und Mobilität weiter gefasst werden als beim klassischen Mobilitätstraining. Wenn der Auffassung zugestimmt wird, dass die visuelle Wahrnehmung eng mit der Bewegung verknüpft ist, wird der besondere Stellenwert von Bewegung im Allgemeinen und von Möglichkeiten zur selbstge- Abb. 1: Spezifische Gestaltung eines UK-Hilfsmittels VHN 3/ 2009 219 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen steuerten Aktivität im Besonderen sichtbar. Mobilität heißt also auch, sich zu einem interessanten Reiz hin bewegen oder sich von unangenehmen Eindrücken abwenden zu können. Das kann in einem eng gesteckten Rahmen wie dem „kleinen Raum“ oder auf der „Resonanzplatte“ bereits der Fall sein. Das Thema Orientierung und Mobilität genauer zu verfolgen, bedeutet als erstes, die Gestaltung der Räume kritisch zu betrachten: Lassen die Räume ein Höchstmaß an selbstständiger Mobilität zu? Bieten sie Informationen, wo man sich befindet (vgl. Abb. 2)? Für Menschen mit Sehschädigung ist die Ausstattung mit dem richtigen Licht eine wesentliche Maßnahme für die Herstellung von Barrierefreiheit: Ist die Lichtgestaltung so flexibel, dass sie den verschiedenen Bedürfnissen der Menschen mit Sehschädigung nach Licht gerecht wird, ohne zu blenden? Ein Kind, das sich - auf welche Weise auch immer - auf andere Menschen, interessante Materialien oder Gegenstände zubewegen kann, wird einen vollkommen anderen Zugang zum Thema Orientierung und Mobilität entwickeln als ein Kind mit der gleichen Sehschädigung ohne die Möglichkeiten der aktiven Fortbewegung. Es werden sich andere Vorstellungen von Raumbezügen bilden, und auch entferntere, visuell noch wahrgenommene Gegenstände erhalten Bedeutung. Der Teilbereich Orientierung und Mobilität ist also in einem engen Zusammenhang mit einer möglicherweise bestehenden Körperbehinderung zu sehen. Der Zugang zu Aktivitäten des täglichen Lebens muss ebenfalls an den Möglichkeiten der visuellen oder taktilen Wahrnehmung orientiert werden. Wie muss ein Essplatz eingerichtet sein, damit er einem sehbehinderten Schüler größtmögliche Selbstständigkeit erlaubt (vgl. Abb. 3)? Da die taktile Erkundung von Gegebenheiten und Materialien länger dauert als das visuelle Erfassen, stellt sich die Frage, wie viel Zeit Kindern und Jugendlichen eingeräumt werden kann, um ihre nähere Umgebung zu erkunden und die alltäglichen Handlungen ausführen zu können? Wie werden alltägliche Abläufe gestaltet, damit sie wiedererkannt werden können? Mit welchen Signalen können Handlungen angekündigt werden, damit sie erkannt werden können und die Person sich darauf einstellen kann? Mit Aufgaben im Nahbereich, die lang anhaltendes Sehen erfordern, sind an erster Stelle Tätigkeiten wie Lesen oder Schreiben gemeint, aber auch die Tätigkeiten, die bereits in den alltagspraktischen Fertigkeiten erwähnt werden. Auch hier stellt sich die Frage, wie diese Aufgaben in Abhängigkeit zu den Erkenntnissen über das funktionale Sehen gestaltet werden müssen. So werden Tätigkeiten wie Lesen und Schreiben einigen Schülerinnen und Schülern mit Sehschädigung und geistiger Behinderung zugänglich, wenn die Arbeitsplätze und -materialien entsprechend den Bedürfnissen angepasst werden. Bildschirmlesegeräte ermöglichen Abb. 2: Spezifische Umweltgestaltung zur Steigerung selbstständiger Mobilität Abb. 3: Spezifische Gestaltung eines Essbereichs VHN 3/ 2009 220 Sven Degenhardt, Christoph Henriksen es Kindern mit einem hohen Vergrößerungsbedarf, Bilder und Piktogramme zu erkennen, die sie ohne ein solches Hilfsmittel nicht sehen können. Bilder können betrachtet werden, wenn Computer mit aufbereitetem Bildmaterial und Tasten für die selbsttätige Bedienung einsatzbereit sind. Die Bereiche, in denen Auswirkungen der Schädigung zu beobachten sind, weisen auf spezifische Felder hin, denen bei der Gestaltung der Förderung der Sehschädigung Rechnung getragen werden muss. Die Inhalte der Förderung und Bildung und die Gestaltung der Teilhabe an Bildung sind damit nicht umrissen. Die Beantwortung der Ausgangsfrage, was die Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen zu einer sehgeschädigtenpädagogischen Bildung macht, geht damit in die Aufgabe über, innerhalb unterschiedlicher didaktischer Entwürfe Barrieren bzw. Förderfaktoren bezüglich des Förderbereiches Sehen aufzudecken und dort eine sehgeschädigtenpädagogische Didaktik einzubinden und zu platzieren. Die Suche nach der Anschlussfähigkeit didaktischer Konzepte aus dem Bereich der Schwerstbehindertenpädagogik für Aufgaben im Förderschwerpunkt Sehen wendet sich ab von der Auffassung, wonach eine Sehschädigung eine Primärbehinderung darstellt, unter die sich alle anderen pädagogischen Interventionen unterzuordnen haben. Gleichzeitig stellt sich dieser Ansatz aber auch gegen das Selbstverständnis einer Schwerstbehindertenpädagogik, wonach alle Förderbereiche innerhalb dieser implizit aufgehoben sind. Ebenso ist ein additives, getrenntes Nebeneinander einer Blinden- und einer Schwerstbehindertenpädagogik, die sich die pädagogischen Interventionen untereinander aufteilen, ausgeschlossen. 4 Anschlussfähigkeit verschiedener Zugänge Die Frage nach der Anschlussfähigkeit setzt voraus, dass die Bildungs- und Erziehungsprozesse auf Theorien zurückgreifen und dass diese (didaktischen) Konzepte das pädagogische Handeln leiten. In den pädagogischen Prozessen existieren eigene Zielvorstellungen, curriculare Entscheidungen, spezifische Verfahren und Techniken, Methoden und Rahmenbedingungen. Es agiert professionelles pädagogisches Personal, und die pädagogischen Prozesse sind in gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Es geht darum, in diesen existierenden Konzepten die Anschlussstellen offenzulegen, die ein Einweben der spezifischen sehgeschädigtenpädagogischen Didaktik ermöglichen, und die dadurch entstehende neue Qualität für die Gestaltung der Teilhabe an Bildung für Menschen mit mehrfachen Behinderungen und Sehschädigung herauszuarbeiten. Im Folgenden sollen zwei solche Konzepte vorgestellt werden. Es wurden bewusst zwei Konzepte mit unterschiedlichem Charakter gewählt, die auf ihre Anschlussfähigkeit überprüft wurden: auf der einen Seite das im wissenschaftlichen Diskurs etablierte „Konzept der Lebensqualität“, auf der anderen Seite das stärker auf die alltägliche Praxis ausgerichtete Modell „Selbstbestimmung als Leitidee …“ (Klauß 2003, o. J.). 4.1 Konzept der Lebensqualität Innerhalb eines weltweiten Diskussionsprozesses um Leitbilder wie Teilhabe, Integration, Partizipation, Normalisierung etc. gewinnt der Begriff der Lebensqualität zunehmend an Bedeutung. Wie für alle Leitbilder der Behindertenhilfe existiert auch hier die spezifische Herausforderung in der Umsetzung des Lebensqualitätskonzepts innerhalb von Bildungs- und Erziehungskonzepten. Die Konzepte, Forschungsansätze und Modelle, die sich um den Begriff der Lebensqualität ranken, nutzen dabei die Tatsache, dass das Konzept der Lebensqualität ein „komplexes und mehrdimensionales, offenes und relatives Arbeitskonzept“ (Beck 2001, 339) ist, mit dessen Hilfe der Bogen zwischen objektiven Lebensbedingungen (verfügbare Mittel, Wohnen, Arbeit, Rechte …), den VHN 3/ 2009 221 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen subjektiven Bedürfnislagen (vgl. Beck 2001) und den Komponenten des subjektiven Wohlbefindens (vgl. Seifert u. a. 2001, 84) geschlagen werden kann. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit das Konzept der Lebensqualität für die hier zu betrachtende Personengruppe eine Anschlussfähigkeit für spezifische Fragen der Diagnostik und Förderung im Bereich des Sehens vorhält. Es ist zu ermitteln, an welchen Stellen dieses Konzeptes eine spezifische fachliche Expertise der Professionellen im Förderbereich Sehen notwendig ist und wie diese Expertise transparent und evaluierbar beschrieben werden kann. Eingangs sollen ausgewählte Begriffe im Zusammenspiel innerhalb eines Konzeptes vorgestellt werden. Ausführlich ist dies in der Studie zur Lebenssituation von Menschen mit schwerer Behinderung im Heim von Seifert, Fornefeld und Koenig (2001) geschehen; hier soll kurz die Grundidee vorgestellt werden. Nach Beck (2005) sind Behinderungen „Prozesse der eingeschränkten Verwirklichung umfassender Teilhabe und selbstständiger Lebensführung und entstehen zwischen dem Menschen und seiner sozialen und materiellen Umwelt“ (2005, 444). Dieser Ansatz, basierend auf der Grundidee der ICF, erzwingt für die Umsetzung der Leitideen und Ziele wie z. B. Integration und Selbstbestimmung eine detaillierte Analyse der Beziehung zwischen dem behinderten Menschen und der Umwelt. Die durch die ICF nahegelegte Analyse unter dem Axiom einer bio-psycho-sozialen Einheit verdeutlicht, dass es keine kausalen Verbindungen zwischen der Lebenslage („Handlungsspielräume des Einzelnen für seine Lebensführung und Lebensbewältigung, für die Art und den Grad seiner Partizipation und Integration“ [Beck 2005, 445]) und der normativen Vorstellung von Lebensqualität geben kann. Vielmehr bezeichnet Lebensqualität in diesem Zusammenhang sowohl die Beschaffenheit als auch die subjektive Wahrnehmung der objektiven Lebensbedingungen und der subjektiven Bedürfnislagen (vgl. Beck 2001, 337). Nach dem Modell von Felce und Perry (angewendet u. a. in Seifert u. a. 2001) stellt sich die individuelle Lebensqualität in das Spannungsfeld zwischen der objektiven Lage und Struktur und der subjektiv ausgeprägten Einschätzung eben dieser Lage. Dieses Wechselspiel erzeugt als ein Resultat das subjektive Wohlbefinden. Dieses Wohlbefinden als Ergebnis der Bedürfnisbefriedigung ist demnach mehr als das umgangssprachliche Konzept des Sich-wohl- Fühlens, das mehr mit einer Belastungsfreiheit gleichzusetzen wäre. Das Modell des Wohlbefindens (wellbeing) kann untergliedert werden in n physisches Wohlbefinden (Gesundheit, Fitness, Sicherheit usw.), n materielles Wohlbefinden (Einkommen, Qualität des Lebensumfeldes, Transport usw.), n soziales Wohlbefinden (Qualität und Quantität der persönlichen Beziehungen [personal relationship], Eingebundenheit in gesellschaftliches Leben [community involvement]), n aktivitätsbezogenes Wohlbefinden (Kompetenzen, Selbstbestimmung, Sich-Einbringen-Können usw. [productive wellbeing]), n emotionales Wohlbefinden (psychische Gesundheit, Stress, Sexualität, Glaube, Achtung usw.) (vgl. Seifert u. a. 2001, 95). Erst die Betrachtung dieses Zustandes, gepaart mit den persönlichen Wertvorstellungen der Person, schafft vor dem Hintergrund der Lebenslagen die Lebensqualität der Person. Die Schnittstelle des Konzepts der Lebensqualität zu pädagogischen Interventionen ist nach Beck dadurch gegeben, dass „pädagogische Angebote eine Vermittlungsstruktur für Unterstützungsleistungen [darstellen], die zentral auf die Befriedigung immaterieller Bedürfnisse zielen. So lässt sich pädagogisches Handeln als externe Ressource zur Verbesserung der Lebensqualität beschreiben, indem Lern- und Bildungsprozesse die Bewältigung VHN 3/ 2009 222 Sven Degenhardt, Christoph Henriksen von Behinderungsfolgen, eine selbstständige und zufrieden stellende Lebensführung (Wohlbefinden, soziale Integration), die Persönlichkeitsentwicklung und Autonomie unterstützen“ (2001, 339). Gleichzeitig ist Bildungsqualität aber auch ein Teil der Lebensqualität, denn sie beschreibt die Qualität, die in der gemeinsamen Interaktion, in der gemeinsamen handelnden Auseinandersetzung zwischen Lernenden und Lehrenden mit der Umwelt entsteht. Bei der Durchsicht der Studie von Seifert, Fornefeld und Koenig fällt auf, dass das Scheitern eben dieser Unterstützungsleistungen in konkreten Einzelfällen vorrangig bei Menschen mit Sinnesbehinderungen zu beobachten war, was in Folge das Wohlbefinden auf verschiedenen Ebenen beeinträchtigte: „Herr N. (blind) wird von den beiden Mitarbeiterinnen unter erheblichem Kraftaufwand an den Stehtisch gestellt und fixiert. Er lässt dies nur widerwillig mit sich geschehen, er windet sich, schlägt mit den Armen und schreit sehr laut“ (2001, 190). „Herr W. (blind) ist immer wieder derjenige, bei dem man es eben schnell selbst macht. Dann geht’s schneller, und er beschwert sich nicht. (…) Manche werden laut oder gehen auf Distanz. Herr W. macht das nicht, und deswegen geht das Selbstständige ganz schnell unter“ (274). Es wäre zu schnell und zu oberflächlich argumentiert, diese (und ähnliche) Beispiele ausschließlich mit dem existierenden Zeitdruck zu erklären. Auch ein pauschaler Verweis auf Fortbildungsbedarf greift zu kurz. Es fehlt hier die Expertise, welche die Situationen bezüglich ihrer Barrieren im Kontext mit dem Sehen und Nicht-Sehen der Personen hinterfragt und entsprechende Handlungsempfehlungen geben könnte. Als zentrale These kann also Expertise im Förderbereich Sehen im Kontext des Ansatzes Wohlbefinden und Lebensqualität wie folgt beschrieben werden: die Fähigkeit, alle Bereiche des Wohlbefindens (physisches, soziales, materielles, aktivitätsbezogenes, emotionales) auf potenzielle Barrieren durch Beeinträchtigungen des Sehens hin zu durchleuchten und im Sinne der Ermöglichung mitverantwortlichen Handelns zu optimieren. So definiert ist es möglich, innerhalb des Konzeptes der Lebensqualität eine spezifische Expertise im Förderschwerpunkt Sehen zu definieren, die anschlussfähig, aber nicht dominierend und damit übergriffig ist. Grundzüge des Konzeptes werden also nicht prinzipiell infrage gestellt; gleichzeitig wird deutlich, dass im konkreten Einzelfall eine sehgeschädigtenpädagogische Expertise grundlegende Voraussetzung für Wohlbefinden und die Ermöglichung eigenverantwortlichen Handelns darstellt. Folgende Beispiele sollen dies illustrieren: In den Bereich des physischen Wohlbefindens fällt z. B. die Problematik des Tages-Nacht- Rhythmus. Seit Bekanntwerden des eigenständigen Rezeptortyps in der Retina ist die Erforschung circadianer Prozesse intensiviert worden; technische Lösungen für dynamische circadiane Beleuchtungstechnologien (CLT - Circadian Lighting Technology) werden entwickelt und erprobt (vgl. u. a. Bieske/ Dierbach 2006; Ehrenstein 2006). Die Einbindung dieser Technologien in den Bereich der Expertise Licht und Beleuchtung ist nahe liegend. Das soziale Wohlbefinden setzt u. a. Strategien und Techniken der Kontaktaufnahme, der Vorankündigung und der Ansprache voraus, welche die konkreten Wahrnehmungsbedingungen der schwerstbehinderten Person ausdrücklich und spezifisch beachten. Verbale Ankündigungen, die Beachtung ggf. einer existierenden spezifischen (Tastund/ oder Hör-) Sensibilität, die Anerkennung und Betrachtung von Körperlichkeit in ihrer ganzen Breite (Intimität, Geborgenheit, Schutz vor Gewalt) sowie die Thematik der veränderten Zeitfenster gehören zu dieser Expertise. Ein Wohlbefinden auf der materiellen Ebene wird unter anderem durch die Qualität des Lebensumfeldes (z. B. konkret in Form der Raumgestaltung) bestimmt; diese ist kulturell und durch viele visuelle Standards geprägt. Dem „Aussehen“ der Räumlichkeiten, vor VHN 3/ 2009 223 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen allem in Hinblick auf eine (vermeintliche) Gemütlichkeit, wird allzu oft der Vorrang vor sehgeschädigtengerechter Raumgestaltung gegeben. Ein Raum, in dem sehgeschädigte Menschen arbeiten und leben, muss verstärkt durch Harmonie, Ordnung, feste Strukturen und erkennbare Bezugspunkte gekennzeichnet sein. Dazu gehört zudem die Gestaltung der Räume mit einer technisch optimalen Beleuchtung (Beleuchtungsstärke, Lichtfarbe, Farbwiedergabequalität, Schattigkeit, Dimmbarkeit, Blendfreiheit, Dynamik usw.) unter Einbeziehung des natürlichen und künstlichen Lichts. Die Maßnahmen im Umfeld des aktivitätsbezogenen Wohlbefindens müssen berücksichtigen, dass es in erster Linie um die pädagogische Arbeit mit Menschen geht, die aufgrund ihrer Sehschädigung wenig durch visuelle Eindrücke aktiviert sind und daher eine gezielt anregungsreiche, konkret erreichbare und herausfordernde Umgebung benötigen. Es geht um die Gestaltung von Handlungsräumen, in denen die schwerbehinderten Menschen ihr Bedürfnis nach sinnlicher Wahrnehmung und für sie sinnvolles Tun ausfüllen können. Die Auswahl und Platzierung von Fördermaterialien und individuellen Orientierungsmöglichkeiten müssen an die visuellen, taktilen und akustischen Bedürfnisse der Betroffenen angepasst werden. In Diagnostik und Förderung müssen die Kenntnisse der ‚Vision Rehabilitation‘ derart eingebunden sein, dass eine Erhöhung der Handlungsspielräume der Personen im Fokus der Aufmerksamkeit bleibt. Eine spezifisch sehgeschädigtenpädagogische Expertise bei der Auswahl und Platzierung von individuellen Orientierungsmöglichkeiten und bei der Gestaltung von Rückzugsmöglichkeiten (auch und insbesondere unter Beachtung des Sehens, des Tastens und des Hörens) ist unabdingbar bei der professionellen Tätigkeit im Rahmen des Bereiches des emotionalen Wohlbefindens bei schwerbehinderten Menschen mit Beeinträchtigungen des Sehens. 4.2 Selbstbestimmung als Leitidee der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung Klauß diskutiert in seinem Beitrag „Selbstbestimmung als Leitidee der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung“ (2003, o. J.) die Unterschiede zwischen dem Begriff „Selbstbestimmung“ und Zielvorstellungen wie „Autonomie“ oder „Selbstständigkeit“ aus. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Selbstbestimmung“ eröffnet den Blick auf Themen wie Kommunikation, Begleitung und Initiierung von Lernprozessen, auf die Grenzen von Selbstbestimmung bis hin zur Frage, ob es denn überhaupt einen der Selbstbestimmung zugrunde liegenden freien Willen gebe. Klauß bezieht sich ausdrücklich auf Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, wenn er beispielsweise verdeutlicht, dass Selbstbestimmung keine Selbstständigkeit voraussetzt. Es geht in Bildungsprozessen nicht nur um das Einüben und Ausführen vorgegebener Handlungen: „Selbständigkeit bedeutet, Handlungen eigenständig auszuführen (…) Selbstbestimmung bedeutet, dass eigene Motive und Bedürfnisse zum Tragen kommen, dass selbst Ziele gesetzt, geplant und Handlungsfolgen selbst bewertet werden“ (Klauß 2003, 91). Das Ziel der Selbstbestimmung wird von Klauß nicht verabsolutiert: „Auch in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung bedarf dieses Ziel immer der Ergänzung und Korrektur durch die Ideen der Gleichheit (Normalisierung) und Solidarität (Zugehörigkeit, Inklusion), die seit langem als Leitideen anerkannt sind“ (Klauß 2003, 121). Damit legt das Klauß’sche Konzept eine Fortführung der Diskussion um die Positionierung des Begriffes der Selbstbestimmung im Spannungsfeld zwischen Optionen und Ligaturen, zwischen Wahlmöglichkeiten und Bindungen, wie sie u. a. von Thimm 1997 eingefordert wurde, ausdrücklich nahe. Bildung ist ohne Anregung, Impulse oder Informationen von außen nicht vorstellbar. Selbstbestimmung steht somit immer in einem VHN 3/ 2009 224 Sven Degenhardt, Christoph Henriksen dialektischen Verhältnis zur sozialen Orientierung. Die Förderung der Selbstbestimmung erfolgt nicht über die Befreiung von Fremdbestimmung, sondern über die Ausrichtung der pädagogischen Impulse an der sozialen Orientiertheit des Menschen. „Durch die Unterstützung individueller Ansätze von Selbstbestimmung kann zugleich die Bereitschaft und Fähigkeit zur sozialen Orientierung entstehen“ (Klauß o. J.). Der Versuch, die Ausführungen von Klauß genauer auf Förderfaktoren und Barrieren bezüglich des Förderbereichs Sehen zu untersuchen, ergibt, dass der Autor Personen mit einer Sehschädigung nicht ausschließt. Selbstverständlich wird an keiner Stelle uneingeschränktes Sehvermögen gefordert, damit Bildungsprozesse, die die Selbstbestimmung fördern, ablaufen können. Mögliche Barrieren werden erst in der praktischen Umsetzung des Konzeptes errichtet. Die Ausführungen benennen wesentliche Förderfaktoren, die in für Schülerinnen und Schüler mit Sehschädigung und mehrfachen Behinderungen entwickelten Konzepten eine Rolle spielen. Die Bedeutung von Eigenaktivität für die Entwicklung von Selbstbestimmung in den verschiedenen Bereichen nimmt bei Klauß wie auch im Ansatz des „aktiven Lernens“ nach Lilli Nielsen eine zentrale Rolle ein (vgl. Nielsen, 1998). „Die Selbstbestimmungsidee fördert die Erkenntnis, dass Menschen nicht gegen ihren Willen und gegen ihre Interessen gefördert werden können. Die Betreuten, Geförderten, Erzogenen sind die eigentlichen Akteure ihrer Entwicklung, wir machen nur Angebote, die sie mehr oder weniger gut nutzen“ (Klauß 2003, 92). Die Identifikation von potenziellen Barrieren soll an folgenden Beispielen verdeutlicht werden: In den sozialen Bedingungen selbstbestimmter Bewegung und den pädagogischen Konsequenzen benennt Klauß das nachahmende Lernen als wesentliche Quelle des Bewegungslernens: „Andere Menschen sind als Bewegungsmodelle wichtig, und sie beantworten eigene Bewegungen, indem sie diese nachahmen. Das ermöglicht es dem Kind, seinerseits den Erwachsenen nachzuahmen, weil es die nachgeahmte Bewegung kennt. So kommt ein Wechselspiel zustande, und die Bewegungen werden vielfältiger und interessanter“ (Klauß 2003, 112). Gerade dieses Wechselspiel ist Schülern und Schülerinnen mit mehrfachen Behinderungen und Sehschädigung oft erschwert oder gar unmöglich. Zudem ist es problematisch, wenn Bewegungslernen durch im Wortsinn ausgeführte Lenkung angeregt werden soll. Der Aufbau eigener Bewegungsmuster wird eher gestört, weil der Reiz der Berührung die Wahrnehmung der Bewegung überdeckt. Andere der Sinnesschädigung angemessene Vermittlungsformen sind notwendig. Modelllernen ist für Klauß ebenfalls eine Methode, um Fertigkeiten zu erlernen. „Ohne soziale Orientierung ist die Bildung der Fähigkeiten erheblich beeinträchtigt, deren Aneignung auf Imitation, Anregung, Motivierung und Korrektur angewiesen ist“ (Klauß o. J). Beobachtungen bei Schülerinnen und Schülern mit starker Sehschädigung und geistiger Behinderung zeigen immer wieder, dass die Methode des Modelllernens auch bei ihnen wirksam ist, aber nicht notwendigerweise zu den erwünschten Ergebnissen führt: So werden mitunter die Handlung als Ganzes und ihr Ergebnis sehr wohl visuell registriert (z. B. Eingießen von Milch aus einem Krug in die Tasse), Teilschritte dieser Tätigkeit werden jedoch nicht visuell wahrgenommen, die Handlung bleibt fehlerhaft und endet mit einem Misserfolg. In anderen Fällen sind Schülerinnen und Schüler zu beobachten, die - wenn sie die Gelegenheit erhalten, mit einem Löffel zu experimentieren oder gar zu essen - mit dem Löffel den Mund umfahren, eine Handlung, die in der Absicht, herausgelaufene Nahrung aufzunehmen, beim Essengeben immer wieder vollzogen wird - allerdings ohne die Absicht, dass die Schülerinnen oder Schüler dies ebenfalls lernen sollen. Hier stellte sich ein nicht beabsichtigter Lernzuwachs ein. VHN 3/ 2009 225 Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen 5 Zusammenfassung „Blinden- und Sehbehindertenpädagogik … begreift sich als absichtsvolle Kontextgestaltung und als subsidiär“ (Walthes 2003, 111). Ein zentrales Ziel sehgeschädigtenpädagogischen Tuns ist es, eine Passung zwischen individuellen Wahrnehmungsstrategien und einem entwicklungsfördernden Umfeld herzustellen. Derart gestaltete Ansätze haben nicht nur die Potenz, die ideologisch verhärteten Fronten zwischen Sonderschulmodellen und integrativen bzw. inklusiven Modellen aufzulösen (denn alle schaffen durch ihre Arbeit einen Zugang zur Bildung, realisieren die Hilfe [zur Selbsthilfe] auf dem Weg zur normalen Teilhabe an schulischer Bildung) (vgl. Degenhardt 2007, 61), sondern eröffnen auch eine Perspektive für die Überprüfung der Anschlussfähigkeit einer Pädagogik für Menschen mit schweren Behinderungen. In der bundesrepublikanischen Schulpraxis existieren derzeit beide Modelle: An den Blindenbildungseinrichtungen, an denen mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche beschult werden, realisieren die Kolleginnen und Kollegen die Bildung (im Rahmen einer Pädagogik für Menschen mit schwerer Behinderung) „gleich mit“; die Kolleginnen und Kollegen, die in mobilen Systemen arbeiten, modellieren die existierenden Angebote (an Schulen für Körperbehinderte und/ oder Geistigbehinderte) so, dass eine Teilhabe an dem entsprechenden Bildungsangebot möglich wird. Der Nutzen für das Kind ist in beiden Fällen im Kern gleich - es kann an schulischer Bildung teilhaben. Eines ist jedoch hervorzuheben: Bei beiden Modellen geschieht die Gestaltung von Teilhabe an Bildung nicht „bedingungslos“. Entsprechend kurzschrittige Amtsentscheide, wonach bei Kindern mit mehrfachen Behinderungen (die an Sonderschulen für Geistig- oder Körperbehinderte beschult werden) die Existenz eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich des Sehens - wegen abzuwendender fiskalischer „Folgekosten“ - nicht diagnostiziert werden darf (! ), verbieten sich dem folgend. Dieses schulpolitische Vorgehen widerspricht dem Geist und Wort der internationalen und nationalen politischen und schulpolitischen Vereinbarungen zum Recht auf Bildung für alle! Dank Der Aufsatz ist das Ergebnis intensiver Diskussionen innerhalb einer Arbeitsgruppe des VBS-Arbeitskreises der Leiterinnen und Leiter von Blinden- und Sehbehindertenbildungseinrichtungen. Der Dank für diese anregenden Diskussionen geht an Ulrike Bauer-Murr, Sr. Maria Ancilla König, Anne Reichmann und Rudi Lacher sowie an die beteiligten Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen in Paderborn, Rückersdorf, Stuttgart und Schleswig. 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