Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2009
783
Über die schwierige Realisierung von Empathie mit Menschen, die als schwer behindert bezeichnet werden
71
2009
Martin Th. Hahn
Peter Radtke
Lieber Peter, nach einer Don-Karlos-Aufführung in Ingolstadt, in der Du als Schauspieler mit schwerer körperlicher Behinderung in der Rolle des Großinquisitors aufgetreten bist, hast Du mir Dein neues Buch geschenkt: „Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden“1. Seitdem habe ich es gelesen, einzelne Teile wiederholt – es liest sich spannend –, wir hatten aber noch keine Gelegenheit, uns über Inhalte ausführlich zu unterhalten. Wie Du diesem Brief entnehmen kannst, ist mein Bedürfnis danach groß.
5_078_2009_003_0244
VHN, 78. Jg., S. 244 - 250 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 244 Über die schwierige Realisierung von Empathie mit Menschen, die als schwer behindert bezeichnet werden Martin Th. Hahn Gammertingen Peter Radtke München Dialog Gammertingen, im Dezember 2008 + Lieber Peter, nach einer Don-Karlos-Aufführung in Ingolstadt, in der Du als Schauspieler mit schwerer körperlicher Behinderung in der Rolle des Großinquisitors aufgetreten bist, hast Du mir Dein neues Buch geschenkt: „Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden“ 1 . Seitdem habe ich es gelesen, einzelne Teile wiederholt - es liest sich spannend -, wir hatten aber noch keine Gelegenheit, uns über Inhalte ausführlich zu unterhalten. Wie Du diesem Brief entnehmen kannst, ist mein Bedürfnis danach groß. Möglicherweise werde ich Deinen Erwartungen an einen Dialog darüber nicht ganz gerecht, weil ich Deine authentische Auseinandersetzung mit Fragen des Behindertseins in unserer Gesellschaft zunächst unter dem Fokus eines pensionierten Hochschullehrers sehe, der rückblickend überprüft, ob es in der Entwicklung seines Denkens und der Dissemination seiner Erkenntnisse in Lehre, Forschung, Veröffentlichung und anderen Formen seiner wissenschaftlichen und verbandlichen Arbeit Übereinstimmung mit - oder Dissens zu - Deinen Aussagen gibt. Vorweggenommen: Wie bei früheren Veröffentlichungen und auch in Deinen Stücken fürs Theater kann ich keine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen uns erkennen. Aber ich habe Nachfragen und Klärungsbedarf zu ausgewählten Problemkreisen des Buches und zu Deiner Mitarbeit im Deutschen Ethikrat. Aufgegriffen sei ein Vermittlungsproblem. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erhielt ich von Dir den Video-Mitschnitt der denkwürdigen Diskussion mit Peter Singer im Club 2 des ORF. Das Band wurde von mir immer wieder in Lehrveranstaltungen eingesetzt. Weil es mehr Zeit als eine Seminar-Doppelstunde beanspruchte, gab es Fortsetzungen mit Diskussionen außerhalb des planmäßigen Lehrangebotes. Die Studierenden waren gebannt von Eurer Gesprächsrunde. Dies führte zu häufigem Ausleihen des Videos und schließlich zu seinem Verlust als Folge der Ausleihe. Ich erzähle Dir dies, weil mir in Deinem Buch eine Aussage von Dir aus diesem Club-2-Video wieder begegnet, die ich danach - Dich zitierend - oft in Ethik- und Euthanasie-Diskussionen eingebracht habe. Im neuen Buch hast Du sie so formuliert: „Wer sagt, dass eine Minute Glück weniger wert ist als drei Stunden Schmerz? Es mag pathetisch klingen, aber vielleicht führt ein Mensch ein ganzes Leben voller Schmerzen nur um eine einzige Sekunde Glück zu erleben, und diese Sekunde Glück wiegt für ihn dann die ganzen Monate und Jahre auf.“ (2007, 88) - Ich halte dies für eine Kern- 1 Radtke, Peter: Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden. Warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht. München 2007 VHN 3/ 2009 245 Die schwierige Realisierung von Empathie aussage in der gegenwärtigen Ethik-Debatte um Pränataldiagnostik, Abtreibung und „Sterbehilfe“ der verschiedensten Art. Menschen mit Behinderung können, wie andere Menschen auch, Zustände des Glücks (des Wohlbefindens) in ihrem Leben haben, die ihrer subjektiven Interpretation unterliegen und deshalb Außenstehenden nicht oder nur schwer zugänglich sind. Dies gilt insbesondere für ausdrucksbeeinträchtigte Personen mit schwerer Behinderung. Gerade bei ihnen ist aber die Gefahr groß, dass sie Fremddefinitionen ausgesetzt sind und dass in der Ethik-Diskussion ihr Leben mit Leid gleichgesetzt wird. Vermutlich hast Du Dich schon vielfach mit dieser „Mitleidsargumentation“ in der Euthanasiediskussion auseinandergesetzt: Es sei ethisch gerechtfertigt, Leid zu verkürzen durch Verhinderung des Geborenwerdens oder durch Verkürzung des geborenen Lebens. - Das Leben mit Leid hätte demnach weniger Lebenswert. Nach meiner Überzeugung kommt dieses Denken (und leider auch: Handeln) dadurch zustande, dass es nicht gelingt, eine Vorstellung vom glücklichen Leben von Menschen mit Behinderung in die Köpfe der Bevölkerung zu transportieren: einem Leben, das sich durch wahrnehmbare Zustände des Wohlbefindens auszeichnet. Ganz besonders gilt dies für Menschen mit schwerer Behinderung, deren wahrnehmbare körperliche Beeinträchtigungen Leid assoziieren lassen, das in krassem Widerspruch zur Fiktion der „Normalität“ steht. (Dein Prokrustes lässt grüßen - Seite 47ff! ) Das Phänomen „Glücklichsein mit Behinderung“ ist mir zum ersten Mal auf dem Weltkongress der ISRD 1966 in Wiesbaden beim Filmwettbewerb bewusst geworden, als der einfache Schwarzweißstreifen des polnischen Arztes Marian Weiss gegen alle professionellaufwendigen Farbfilmproduktionen den ersten Preis gewann. Was hatte er gezeigt? - Er zeigte Kinder, die ihrer sichtbaren Körperbehinderung wegen in einem Rehabilitationszentrum waren und sich freuten: u. a. bei sportlichen Spielen sich freuten in allen Variationen, in Nahaufnahmen, ganz groß in der Totale, in Gesichtern, die ansteckend Freude ausstrahlten und die Zuschauer vergessen ließen, dass zu dieser Fröhlichkeit ein schmerzvoll amputiertes Bein, eine Lähmung oder andere qualvolle körperliche Schädigungen gehörten. - Dies war vielleicht mein Ur-Erlebnis, aus dem nach und nach die Erkenntnis wuchs, dass die Fähigkeit zu Wohlbefinden die wichtigste Gemeinsamkeit ist, die alle Menschen miteinander verbindet. Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung bilden keine Ausnahme. Weil sie in ihrem Ausdrucksverhalten aber eingeschränkt sind, droht ihr Wohlbefinden nicht wahrgenommen zu werden. Ihr Leben wird dann gleichgesetzt mit Leid und liefert die Mitleidsargumentation in der Ethik-Debatte. In den vergangenen dreißig Jahren habe ich versucht, mit den mir bekannten und zur Verfügung stehenden Möglichkeiten diese Gemeinsamkeit aller Menschen - Wohlbefinden auch bei schwerer Behinderung - anderen Menschen zu vermitteln. Die Mitleidargumentation verschwindet aber nicht in der öffentlichen Diskussion. - Wie stellte sich für Dich mit Deiner erkennbar schweren körperlichen Beeinträchtigung dieses Vermittlungsproblem? - Mich würde interessieren, welche Erfahrung Du damit privat, in Deiner früheren Funktion als Geschäftsführer der „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien“ und als Mitglied des Ethikrates gemacht hast. Auf eine Antwort freue ich mich. Aus einem verschneiten Wintertag grüße ich herzlich von der Schwäbischen Alb nach München! Dein Martin München, im Dezember 2008 + Lieber Martin, vielen Dank für Deinen Brief, der mich besonders gefreut hat, da Du Dich darin intensiv mit einer Aussage meines Buches „Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden“ befasst. Ich denke, VHN 3/ 2009 246 Martin Th. Hahn, Peter Radtke dass wir im Prinzip dieselbe Grundhaltung haben. Aus Deinen Anmerkungen erkenne ich, dass auch Du Behinderung und Leid nicht automatisch gleichsetzt. Ich fühle mich erinnert an die Auseinandersetzung um die Plakatserie von Benetton, die lachende Kinder mit Down- Syndrom zum Gegenstand hatte und in der ich eindeutig Stellung bezog. Aber dennoch sehe ich möglicherweise zwischen uns eine gewisse Perspektivverlagerung, die ich im Übrigen auch bei anderen Kollegen von Dir des Öfteren antreffe. Wenn ich in meinem Buch schreibe, dass eine Sekunde Glück vielleicht ein ganzes Leben voll Leid aufzuwiegen vermag, so führe ich diesen Satz mit den Worten ein: „Wer sagt, dass eine Minute Glück weniger wert ist …“. Das heißt, ich stelle das Problem zur Diskussion. Ich möchte eine herkömmliche Ansicht erschüttern, aber nicht, indem ich normativ das Gegenteil behaupte. Es mag Betroffene geben, die tatsächlich unter ihrem Schicksal in einer Weise leiden, dass ihnen die wenigen Augenblicke des Glücks nichts bedeuten gegenüber den Schmerzen und Entbehrungen ihres Alltags. Ich will die Ernsthaftigkeit solcher Daseins- Erfahrung nicht schmälern. Dies hat aber meines Erachtens nur zum geringeren Teil mit ihrer eventuell objektiv gegebenen Behinderung zu tun. Vielmehr ist es die individuelle Gestimmtheit, die dem Einzelnen in die Wiege gelegt wird und seinen Charakter prägt. Sie mag durch äußere Umstände beeinflusst werden, doch nicht selten ist es gerade die Behinderung, die den Betroffenen mit seinem Schicksal nachsichtiger umgehen lässt, als dies bei sogenannten „Nichtbehinderten“ der Fall ist. Vielleicht kann der zufriedener mit seinem Leben umgehen, der weniger Ansprüche an sich selber stellt. Mit dieser Aussage begebe ich mich allerdings selbst in das gefährliche Fahrwasser, das ich bei Dir und etlichen Deiner Kollegen zu verspüren glaube. Es ist die versteckte Tendenz, Menschen mit einer Behinderung auf einen erhöhten ethischen Sockel zu stellen, als seien sie bessere Menschen als andere. Ich gebe zu, dass mir Ähnliches immer wieder in meinem Kampf um die Rechte gerade schwerstbehinderter, auf die Hilfe anderer Angewiesener passiert. Vermutlich ist es die Reaktion auf einen Pendelausschlag, der in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten zu stark in die Gegenrichtung ging. Doch wenn wir es mit unserer Forderung nach Inklusion und Gleichberechtigung ernst meinen, müssen wir auch zu einem unsentimentalen, realistischen Bild des Betroffenen kommen. Dieses Bild weicht sicher erheblich von den Vorstellungen ab, die in der Bevölkerung weithin vertreten werden. Und damit wären wir wieder bei meiner eingangs gemachten Behauptung, dass wir uns in der Grundhaltung wahrscheinlich gar nicht so sehr unterscheiden. Die Frage des „Sich-in-einen-Andern-versetzen-Könnens“ ist eine Problematik, die mich schon seit meiner Studienzeit beschäftigt - und nicht nur in Bezug auf behinderte Menschen. Ich erinnere mich an Dialoge an der Universität, als wir scheinbar über ein und dasselbe Thema diskutierten, an dem jeder mit unterschiedlichen Schwerpunkten arbeitete, und ich stets das Gefühl hatte, man rede aneinander vorbei. In Wirklichkeit nahm man nur jene Sätze und Inhalte seines Gegenübers auf, die für die eigene Arbeit relevant waren. Überträgt man diese Erfahrung auf den Bereich der Menschen mit schwerer Behinderung, so hieße dies, dass nur jene Aspekte für den Außenstehenden ihre Wirksamkeit entfalten, die sich in das eigene Verständnisschema einfügen lassen und es im besten Fall ergänzen. Gegenteilige Eindrücke werden verdrängt bzw. nicht zur Kenntnis genommen. Ein glückliches Leben mit sichtbar schwerster Behinderung ist folglich schon aus obigem kommunikationsphilosophischen Ansatz für einen Nichtbehinderten kaum nachvollziehbar. Wenn es dennoch Leuten wie Dir und anderen gelingt, sich weitgehend der Psyche eines behinderten Menschen anzunähern, so hilft Euch dabei sicher die verstandesmäßige Überwindung einer als falsch erkannten Wahrnehmung und Eure fachliche Kompetenz. VHN 3/ 2009 247 Die schwierige Realisierung von Empathie Nun stelle ich fest, dass ich nur zum Teil auf Deine Frage eingegangen bin, dass ich Dir möglicherweise sogar Gedanken untergeschoben habe, die Du überhaupt nicht hast. Ich habe ein Problem ausdividiert, das im Grunde „mein“ Problem war und noch immer ist. Doch gerade hierin sehe ich meine These bestätigt, dass man eben doch in erster Linie das aufgreift, was einen selbst am meisten berührt. So kann ich Dich nur ermuntern, beharrlich mich herauszufordern, um den Briefwechsel in die Richtung zu lenken, die Dir sinnvoll und richtig erscheint. In freudiger Erwartung auf Deine Reaktion Peter Gammertingen, 7. Januar 2009 + Lieber Peter, danke für die Denkanstöße in Deinem Brief. Du machst mich darauf aufmerksam, dass die Gewichtung von einer Sekunde Glück auf der einen Seite und Leid andererseits für jeden Menschen als Möglichkeit besteht, unabhängig davon, ob er eine Behinderung hat oder nicht. In dem erwähnten Zusammenhang wehrst Du Dich gegen eine „ethische Überhöhung“, die Menschen mit (schwerer) Behinderung immer wieder entgegengebracht wird. Weiter bringst Du zum Ausdruck, dass das, was einen selbst berührt, dem Gesamtverhalten des Gegenübers bevorzugt entnommen wird. Dies bedeutet auch, dass ein wahrgenommenes Zustandsbild, das beim Gegenüber Leid suggeriert, bevorzugt wahrgenommen wird, weil es eigene Gefühle von Leid oder Schmerzen bewusst macht und damit Betroffenheit auslösen kann. Wenn ich Dich damit nicht falsch interpretiert habe, hätten wir nun die Basis geschaffen für die Weiterführung des Dialogs zu meiner ursprünglichen Fragestellung, die ich nun präzisieren möchte: Die wahrnehmbare Behinderung bei einem anderen Menschen tendiert generell dazu, Behinderung gleich Leid zu setzen. Welche Möglichkeiten gibt es, gegen diesen Trend bei der Interpretation einer Wahrnehmung anzugehen, damit auch Zustände des Wohlbefindens bei wahrgenommener Behinderung unterstellt, erkannt resp. interpretiert werden können? Dies hat ganz sicher mit der subtilen Interpretation von Ausdrucksverhalten zu tun, die nur über Kommunikation, Erkennen von Bedürfnissen als Gemeinsamkeiten, Empathieerwerb und Solidarisierung zustande kommt. Doch wie vermittle ich dies Menschen - resp. Teilen der Bevölkerung -, die keine realen Begegnungen mit Menschen z. B. mit schwerer und mehrfacher Behinderung haben und entsprechende Erfahrungen nicht selbst machen können? - Im Hochschulbereich und bei der Aus- und Fortbildung von Fachkräften habe ich über viele Jahre methodische Instrumente dazu ausprobiert. Auch wenn die einbezogenen Personenkreise die Funktion von Multiplikatoren hatten, war die Wirkung auf die öffentliche Meinungsbildung begrenzt. Gute Möglichkeiten sehe ich in der inklusiven Realisierung des Alltags für Menschen mit Behinderung, wie es das SGB IX mit dem Begriff der „Teilhabe“ intendiert. Alltägliche Begegnungssituationen führen zu einem Mindestmaß an Kommunikation und Wahrnehmung von gemeinsamen Bedürfnissen, die über die Wahrnehmung von Leid hinausführen können. Und nun hast Du als selbst Betroffener Wirkungsmöglichkeiten in Bereichen, in denen Du sehr viel bewegen kannst und vermutlich auch schon bewegt hast: in den Medien (Du warst bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2008 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien), im Theater (als Schauspieler bist Du Mitglied renommierter deutschsprachiger Bühnen) und im Deutschen Ethikrat, dem du seit seiner Gründung angehörst (resp. seinem Vorgänger, dem Nationalen Ethikrat). - Mit welchen Möglichkeiten hast Du in diesen Bereichen der Gleichsetzung von Behinderung und Leid entgegenwirken können? - Gab es für Dich erkennbare oder vermutbare Wirkungen im angesprochenen Sinn? VHN 3/ 2009 248 Martin Th. Hahn, Peter Radtke Als Mensch mit viel Humor hast Du eine gute persönliche Voraussetzung, das Junktim zwischen sichtbarer Behinderung und Leid durch Fröhlichkeit aufzubrechen (Seite 13 schreibst Du über Dich: „… mich wundert’s, dass ich so fröhlich bin“.). Ob allerdings Fröhlichkeit im Einzelfall mit „Glück“ oder „Zustand des Wohlbefindens“ gleichgesetzt werden darf, kannst nur Du selbst entscheiden. - Du hast eine unübersehbare schwere körperliche Behinderung und stehst als promovierter Akademiker mit Deiner Arbeit in der Öffentlichkeit. Doch wie sieht es bei Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung aus, die von der Öffentlichkeit kaum direkt wahrgenommen werden können und in der Bioethikdiskussion als Beispiele herangezogen werden? Lass mich zum Schluss noch eine Überlegung zum Titel Deines Buches anstellen, die - vom Umfang her gesehen - den Rahmen unseres Dialoges sprengt, aber doch mit der aufgegriffenen Thematik direkt zu tun hat: Nach meinem Verständnis streben alle Menschen, ob behindert oder nicht behindert, selbstbestimmt nach Zuständen des Wohlbefindens in ihrem Leben. Bei der Realisierung solcher Zustände sind alle Menschen direkt und indirekt auf andere Menschen angewiesen. Behinderung bedeutet nicht grundsätzlich die Abwesenheit von Zuständen des Wohlbefindens im Leben eines Menschen, sondern nur deren erschwerte Verwirklichung, weil umfangreichere Unterstützung durch andere Menschen dazu notwendig ist. In der Geschichte der Menschheit wurde Menschen mit Behinderung - vor allem mit schwerer Behinderung - diese Unterstützung nicht oder nur in geringem Maße gewährt, was dazu führte, dass Zustände des Wohlbefindens bei ihnen nicht oder nur selten zustande kamen und deshalb auch nicht oder nur selten wahrgenommen werden konnten. Verstärkt wurde dieses Wahrnehmungsdefizit durch die Sonderung von Menschen mit Behinderung, die einem Entzug der Wahrnehmungsmöglichkeiten gleichkam. Weil sich im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit der Sinn des individuellen Lebens vorwiegend in wahrnehmbaren Zuständen des Wohlbefindens artikuliert, diese aber nicht beobachtbar waren, tat man sich mit der Sinnfindung schwer und suchte die Lebensbedeutung nicht mehr beim Individuum, sondern bei der Gesellschaft. Dies kann als Ersatz für den nicht erkannten Sinn des individuellen Lebens interpretiert werden - etwa im Mittelalter, wenn der Sinn darin gesehen wurde, anderen Menschen als Mittel zu dienen, Barmherzigkeit zu üben, damit sie in den Himmel kommen. Ich will hier mit Belegen aus neuerer Zeit nicht fortfahren, sondern auf einen - vermutlich scheinbaren - Widerspruch zwischen Titel und Untertitel Deines Buches aufmerksam machen. Der Titel ist mit seiner Sinngebung individuumsorientiert („Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden“). Der Untertitel ist mit seiner Sinngebung gesellschaftsorientiert („Warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht“). Ohne Zweifel steht jeder Mensch mit seiner eigenen Identitäts- und Sinnfindung in einer oszillierenden Balance zwischen beiden Orientierungspunkten. Doch wie sieht dies aus, wenn keine Chance für eine Balance besteht, weil diese durch Verweigerung von Kommunikation, durch Fremdbestimmung bis hin zur Existenzvernichtung verhindert wird? - Fragen, die Dein Buch aufwirft, deren Diskussion aber weit über unseren Dialog hinausgeht. Lass Dir für Deinen Brief und Dein anregungsreiches Buch herzlich danken! Mit guten Wünschen Dein Martin München, den 15. Januar 2009 + Lieber Martin, Du sprichst in Deinem letzten Brief zwei unterschiedliche Themen an, die eigentlich beide einen je eigenen Briefwechsel erfordern würden. Zum einen fragst Du, wie man Menschen VHN 3/ 2009 249 Die schwierige Realisierung von Empathie ohne Behinderung die Bedürfnisse von Menschen mit schwerer Behinderung nahebringen kann, und welche Möglichkeiten ich dabei in meinen verschiedenen Tätigkeitsbereichen sehe. Zum andern bewegt Dich der Titel meines Buches, in dem Du völlig zu Recht erkennst, dass hier die beiden Pole „Individuum“ und „Gesellschaft“ scheinbar geradezu diametral entgegengesetzt zueinander stehen. Versuchen wir zunächst das leichtere Thema anzugehen, die Frage nach der optimalen Öffentlichkeitsarbeit zugunsten behinderter Menschen. Du weißt, dass ich im Grunde ein durch und durch optimistischer Kämpfer bin. Dennoch muss ich gestehen, dass ich in den langen Jahren meiner Arbeit in den Medien, als verantwortlicher Fernsehredakteur, als Schauspieler, als Schriftsteller, als Redner und Diskussionsteilnehmer mir mehr als einmal die Frage nach der Sinnhaftigkeit meines Tuns gestellt habe. Auf der einen Seite erkenne ich klar die Fortschritte, die sich gerade in letzter Zeit auf administrativer Ebene getan haben. Die Aufnahme des Benachteiligungsverbots in die Verfassung, das SGB IX, die Gleichstellungsgesetze in Bund und Ländern, die UN-Konvention, das sind alles ermutigende Ansätze. Aber sie lassen meine Bedenken nicht schwinden, dass diese Maßnahmen lediglich an der Oberfläche bleiben, nicht in die Tiefen des Bewusstseins vordringen, wo sie zu echter Wandlung führen könnten. Wenn ich das Glück habe, sehr häufig als Gleicher unter Gleichen behandelt zu werden, so stelle ich gleichzeitig resignierend fest, dass diese an sich wünschenswerte Haltung meiner Zeitgenossen nicht automatisch auf andere Schicksalsgefährten übertragen wird. Es sind individuelle Erfahrungen, die leider in der Regel auf das einzelne Individuum beschränkt bleiben. Ich fürchte, der Mensch ist ein primär ich-bezogenes Wesen. Daher wird er auch nur dort ernsthaft bewegt, wo er für sich einen Nutzen sieht oder zumindest einen Zugewinn an Erkenntnis. Behindertenarbeit muss sich auf diese schmerzliche Tatsache einstellen. Daraus folgt: Wir müssen zum einen deutlich machen, dass Behinderung nicht das „ganz Andere“ ist, das einem heute Nichtbehinderten morgen nicht auch zustoßen könnte, sondern im Gegenteil ein Zustand, der für viele, ja, für die meisten im Alter zwangsläufig auf sie zukommen wird. Zum andern ist nach der altbekannten Spruchweisheit zu verfahren: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ Das mag zunächst ein sehr desillusionierender Ansatz sein, aber ich denke doch, dass er realitätsnäher ist als jede noch so gut gemeinte „Wir-sind-doch-alle-Menschen“- Philosophie. Im Grunde setze auch ich auf die zu Beginn unseres Dialogs erwähnten Gemeinsamkeiten, doch versuche ich von den Bedürfnissen des Nichtbehinderten aus zu argumentieren. Ich habe fast mein ganzes Leben unter Nichtbehinderten gelebt. Daher meine ich, ich kann mich ein wenig in deren Mentalität versetzen. Wie weit unsere Öffentlichkeitsarbeit etwas bewirkt, ist sicher nicht mit Gewissheit zu sagen. Aber es gibt keine Alternative zu ihr. Wie heißt es doch so schön: „Wir haben keine Chance, also nützen wir sie.“ Nun zu Deiner zweiten Frage bezüglich der beiden Titel meines Buches. Nach meiner Auffassung ist jedem Menschen ein Leben gegeben, das um seiner selbst Willen besteht. Es ist aber nicht nur ein Geschenk, es ist auch eine Aufgabe. Ich fühle mich erinnert an das biblische Gleichnis von den anvertrauten Pfunden. Obwohl folglich jedes Leben einen Sinn hat, also auch das sogenannte „sinnlose“ Leben, bleibt es uns Menschen überlassen, diesen Sinn jeweils neu für uns zu entdecken. Der eine findet seine Erfüllung in einer Unzahl von Aktivitäten, der andere möglicherweise im genauen Gegenteil, z. B. in der Meditation oder einem mönchischen Leben. Wie kann nun der schwerstbehinderte Mensch Sinn in seinem anscheinend sinnlosen Dasein finden, wo er doch keine Möglichkeit einer Selbstverwirklichung hat? Ich denke, er braucht den Sinn nicht zu suchen; er ist ihm bereits durch seine bloße Existenz gegeben. Indem er - wie ich immer wieder darzulegen versuche - zwangsläufig zum Stein des Anstoßes VHN 3/ 2009 250 Martin Th. Hahn, Peter Radtke in der Gesellschaft wird, erfüllt er bereits die Voraussetzung eines sinnerfüllten Lebens. Auf diese Weise hoffe ich, die scheinbare Widersprüchlichkeit von Titel und Untertitel meines Buches aufzulösen. Ich weiß nicht, ob ich mich ausreichend verständlich machen konnte. Es wäre schön, wenn wir demnächst unsern Briefdialog im direkten Gespräch vertiefen würden. In diesem Sinne grüße ich Dich und Deine Familie recht herzlich Dein Peter Dr. Martin Th. Hahn Universitätsprofessor i. R. Humboldt-Universität zu Berlin Hochbergstraße 1 D-72501 Gammertingen E-Mail: martin-th.hahn@t-online.de Dr. Peter Radtke Vorsitzender der „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien“ Bonner Platz 1 D-80803 München E-Mail: radtke@abm-medien.de
