eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Aktuelle Forschungsprojekte: 3/09

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Aspekte inklusiver Qualität in Kindertageseinrichtungen aus Sicht 4- bis 6-jähriger Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse – eine Pilotstudie
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VHN 3/ 2009 251 Aktuelle Forschungsprojekte Aspekte inklusiver Qualität in Kindertageseinrichtungen aus Sicht 4bis 6-jähriger Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse - eine Pilotstudie Isabel Behr LMU München Das vorgestellte Forschungsprojekt bezieht sich auf die Dissertation von Isabel Behr am Lehrstuhl Lernbehindertenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Vorbemerkung Im deutschsprachigen Raum liegen bereits erste Studien zu Qualitätsaspekten der Inklusion in Kindertageseinrichtungen vor. So startete im Jahre 2003 das Projekt „Qualitätsstandards für die Integrationsentwicklung in Kindertageseinrichtungen der Stadt München (QUINTE)“ sowie 2006 das Projekt „Qualität in inklusiven Kinderkrippen der Landeshauptstadt München (QUINK)“ unter der Federführung von Ulrich Heimlich. Ziel der beiden Projekte war es, Qualitätsstandards für die Integrationsentwicklung zu erstellen (vgl. Heimlich/ Behr 2005; 2007). Inklusive Qualität wurde hier also aus der Sicht der beteiligten Erwachsenen erhoben. Dabei wurde unterstellt, dass die Perspektive der Kinder auf die Qualität der Einrichtungen mit jener der Erwachsenen übereinstimme. Erste Studien zur Einbeziehung der Sicht von Kindern auf die Qualität von Kindertageseinrichtungen (vgl. Roux 2002) zeigen jedoch mögliche Abweichungen der Perspektiven. Ziel der o. g. Pilotstudie ist es, die Sichtweise von Kindern mit und ohne besondere Bedürfnisse hinsichtlich ausgewählter Aspekte der inklusiven Qualität zu erheben, um so die subjektiv erlebte Dimension von Qualität durch die Kinder herausarbeiten zu können. Somit hat die hier vorgestellte Studie einen stark explorativen Charakter, der auch eine Überprüfung des zur Verfügung stehenden Repertoires an Forschungsmethoden impliziert und damit sowohl vom Untersuchungsgegenstand als auch von den Forschungsmethoden her ein hohes Innovationspotential besitzt. Theoretische Einbettung Als theoretische Bezugsmodelle dienen die ökologische Entwicklungstheorie von Bronfenbrenner (1989), die ökologische Theorie der Integrationsentwicklung von Sander (1988; 1991; 1999) sowie das daran anschließende Mehrebenenmodell von Heimlich (2003). Im Letzteren wurde das ökosystemische Denken für den Bereich der Qualitätsentwicklung in integrativen Kindertageseinrichtungen ausgearbeitet. Die inklusive Einrichtung kann dabei als Mikrosystem innerhalb der sozialen Ökologie eines Kindes betrachtet werden. Das Spannungsfeld der Qualitätsentwicklung inklusiver Kindertageseinrichtungen lässt sich anhand von fünf Ebenen darstellen (1. Kinder mit besonderen Bedürfnissen, 2. Integrative Spielsituationen, 3. Multiprofessionelle Teams, 4. Rahmenbedingungen der inklusiven Kindertageseinrichtung, 5. Externe Unterstützungssysteme). Dieses Modell inklusiver Qualität in Kindertageseinrichtungen bildet die Ausgangslage für die empirische Untersuchung. Fragestellung und methodisches Vorgehen Für die Bestimmung inklusiver Qualität wird deutlich, dass nicht nur Aspekte der sozialen Integration, sondern auch die emotionale Integration eine bedeutsame Rolle spielt. Auch das Wissen über die besonderen Bedürfnisse der Spielpartner und deren Fähigkeiten und Interessen sind bedeutsame Faktoren für den Prozess der Inklusion. Auf der Ebene der integrativen Gruppe werden diese Prozesse jedoch nur möglich, wenn die Qualität der Erzieher- Kind-Interaktion eine stabile und emotional haltgebende Basis darstellt. Der Studie liegen somit folgende Fragestellungen zugrunde: 1. Wie beurteilen Kinder ihr emotionales Integriertsein in der integrativen Gruppe? 2. Wie schätzen Kinder die emotionale Qualität des Verhaltens der Erzieherin ein? 3. Wie beurteilen Kinder die soziale Integration in der integrativen Gruppe? 4. Welches Wissen haben Kinder über den Hilfebedarf von anderen Kindern? 5. Welches Wissen haben Kinder über den Begriff der Behinderung? 6. Welches Wissen haben Kinder über die Fähigkeiten und Interessen von Kindern mit mehr Hilfebedarf? Zur Untersuchung der Fragestellungen wurde primär eine qualitative Herangehensweise gewählt, da dadurch neue und bisher unentdeckte Aspekte durch eine stark explorative Vorgehensweise mit aufgenommen werden können. VHN 3/ 2009 252 Aktuelle Forschungsprojekte Phase 1 des Projektes bezog sich zunächst auf die Auswahl der Untersuchungsgruppe. Anschließend wurden in einer Vorstudie (Phase 2) alle Instrumente vorab getestet und - wenn notwendig - überarbeitet. Somit konnten Besonderheiten, die sich im Rahmen der Kinderinterviews ergaben, in der folgenden Hauptuntersuchung (Phase 3) berücksichtigt werden. In Phase 4 wurden die Interviews ausgewertet und anschließend interpretiert. Basis der Hauptuntersuchung war ein teilstandardisiertes Leitfadeninterview. Erfragt wurde damit das Konzept der Kinder von Behinderung, ihr Wissen über den Hilfebedarf anderer Kinder sowie ihr Wissen über die Kompetenzen der Kinder mit mehr Hilfebedarf. Durch eine Methodentriangulation wurden jedoch auch bereits erprobte standardisierte Verfahren in das Untersuchungsvorhaben einbezogen: n Fragebogen zur Erfassung von Dimensionen der Integration von Schülern (FDI 4-6) (Haeberlin u. a. 1989), n Bildwahlverfahren (Hildebrandt 1975; Strätz/ Schmidt 1982), n Bildertest zum sozialen Selbstkonzept (BSSK) (Langfeldt/ Prücher 2005), n Familien- und Kindergarten-Interaktions-Test (FIT-KIT) (Sturzbecher/ Freytag 2000), n Emotionskarten. Die Vorstudie fand im April des Jahres 2007 statt, die Hauptuntersuchung im Juli 2007. Befragt wurden 14 Kinder einer integrativen Münchner Kindertageseinrichtung (10 Jungen - davon zwei Kinder mit besonderen Bedürfnissen - sowie vier Mädchen). Mit jedem Kind wurden zwei Interviews durchgeführt. Ergebnisse Die Triangulation wurde auch in den Auswertungsverfahren weitergeführt. So kam neben der qualitativen Inhaltsanalyse auch das Statistik-Programm SPSS 14 im Rahmen der deskriptiven Datenaufbereitung zum Einsatz. Die emotionale Integration der Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse ist als hoch einzuschätzen. So gehen die meisten Kinder gerne in den Kindergarten und fühlen sich dort sehr wohl. Die Ergebnisse zur emotionalen Qualität des Verhaltens der Erzieherinnen lassen erkennen, dass die unterstützenden Verhaltensweisen gegenüber den repressiven Verhaltensweisen der Erzieherinnen deutlich überwiegen. Durch die Untersuchung des Selbstkonzeptes sozialer Integration wird deutlich, dass sich der überwiegende Anteil der Kinder in vielen bzw. sehr vielen Spielsituationen mit anderen zusammen einschätzt. Die Ergebnisse der soziometrischen Untersuchung zeigen allerdings, dass diese im Widerspruch zur erlebten positiven sozialen und emotionalen Integration der Kinder steht. So wird sichtbar, dass nicht alle Kinder gleichmäßig am Status- und Rollensystem der Gruppe beteiligt sind. Insbesondere werden Distanzierungen zu Kindern mit Verhaltensproblemen sichtbar. Mit der Tatsache einer Behinderung hängt dies allerdings in der Regel nicht zusammen, sondern eher mit konkreten Verhaltensweisen (wie etwa Aggressionen u. a.) An Freundschaften sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen nicht beteiligt, auch dies bedeutet in ihrer eigenen Wahrnehmung jedoch nicht zwangsläufig das Empfinden eines mangelhaften emotionalen und sozialen Integriertseins. Fazit In der Pilotstudie konnte deutlich gemacht werden, dass bei der Überprüfung und Bewertung der Integration in Kindertageseinrichtungen immer auch die subjektive Wahrnehmung der Kinder einbezogen werden muss. Nur darüber kann ermittelt werden, wie erfolgreich sich die Integrationsmaßnahme letztlich für das einzelne Kind gestaltet. Ein Instrumentarium für die Einbeziehung von Kindern mit und ohne besondere Bedürfnisse liegt damit vor. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass erst in größer angelegten Studien allgemeingültige und repräsentative Aussagen zur Sichtweise von Kindern hinsichtlich der inklusiven Qualität ihrer Einrichtung getätigt werden können. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei: behr@lmu.de Differenz am Arbeitsmarkt Andrea Kaufmann Universität Freiburg/ Schweiz Beim nachfolgend vorgestellten Forschungsprojekt handelt es sich um ein Dissertationsvorhaben am Heilpädagogischen Institut der Universität Fribourg. VHN 3/ 2009 253 Aktuelle Forschungsprojekte Hintergrund Menschen mit Behinderungen sind im ersten Arbeitsmarkt unter- und in der Arbeitslosenstatistik übervertreten. Sie mögen dies in einigen Ländern weniger, in anderen mehr sein, aber das Potenzial, das in Betrieben zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zur Verfügung steht, wird noch lange nicht ausgeschöpft (für die Schweiz vgl. Baumgartner u. a. 2004, 93). Die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten, Behinderte zu beschäftigen, und es dann doch nicht zu tun, irritiert. Es läuft darauf hinaus, dass man sie ja anstellen würde, wenn sie nicht behindert wären. Ob der dargelegten Sachlage drängt sich die Frage auf, warum dies so ist - oder umgekehrt gefragt: Was genau macht es möglich, dass Menschen mit Behinderung im ersten Arbeitsmarkt tätig sein können? Dazu muss vorerst geklärt werden, was eine Behinderung am Arbeitsmarkt überhaupt ist. Grundlegende Ausrichtung Behinderung kann als Differenz festgestellt werden, die als Irritation durch die Diskrepanz zwischen Erwartung und vorgefundenen Fähigkeiten hervortritt. Eine solche Definition von Behinderung macht einerseits die Tatsache, dass Behinderung festgestellt wird und andererseits den Kontext, in welchem sie festgestellt wird, besonders relevant. Behinderung auf dem Arbeitsmarkt muss sich folglich über die Erwartungen respektive die Anforderungen des Arbeitsmarktes definieren, die von gewissen Menschen nicht erfüllt werden. Die Differenz in der Leistungsfähigkeit ist die zentrale, auf den ersten Blick sichtbare Leitdifferenz, die der Arbeitsmarkt hervorbringt. Aushandlungen bezüglich Anforderungen an Arbeitnehmer finden jedoch nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Bewertungen statt und lassen sich in der heutigen postmodernen Zeit als multidimensionale Angelegenheit verstehen. Eine solche Definition von Behinderung distanziert sich des Weiteren von der gängigen Anknüpfung an die Schädigung eines Menschen, von der sich auch die aktuelle Definition der WHO nicht loslöst, und beschreibt Behinderung als Produkt einer Konfrontation von gesellschaftlichen Erwartungen mit individuellen Fähigkeiten. Während die Kategorien „Schädigung“ und „Umwelt“ bei gängigen Definitionen unabhängig voneinander existieren, wird erstens hier nicht von Schädigung gesprochen und zweitens existieren die beiden Kategorien „Erwartung“ und „Fähigkeiten“ nur in Bezug aufeinander. Was eine Behinderung ist, haben wir von früh auf gelernt. Dies macht es besonders schwierig, sie neu zu denken. Das Verständnis von Behinderung kann als historisch gewachsenes Konfliktlösungswissen bezeichnet werden. So gehört beispielsweise Autismus zu einer dieser Behinderungen, von der wir glauben zu wissen, was sie ist respektive wie ein Mensch ist, der das Etikett „autistisch“ trägt. Das geplante Projekt versucht an einem anderen Punkt anzusetzen, nämlich weit vor dem Denken in diagnostischen Kategorien und spezifisch auf dem Arbeitsmarkt. Ein Verständnis von Behinderung als Differenz zwischen Fähigkeiten und Erwartungen und der spezifische Blick auf ein Arbeitsverhältnis eines erwachsenen Menschen mit diagnostiziertem Autismus lässt die zentrale Frage aufkommen, welche das vorliegende Dissertationsprojekt leitet: n Wie bringt der Arbeitsmarkt Differenz hervor? Die Frage zielt anhand eines spezifischen Falles auf eine Annäherung an ein allgemeines Neuverständnis von Behinderung auf dem Arbeitsmarkt. Entgegen gängigen Studien zur beruflichen Integration werden hier die Begriffe der Integration respektive der Exklusion zumindest vorerst nicht verwendet, weil diese Termini Umgangsweisen propagieren, die bereits in vordefinierten Typologien denken und von denen unklar ist, was sie bezeichnen. Der gewählte Ansatz unternimmt vielmehr den Versuch einer Analyse der Entstehung von verschiedenen Zonen auf dem Arbeitsmarkt sowie der darin sich bewegenden Menschen. Die Auseinandersetzung mit dieser historischen Entstehung impliziert die Betrachtung der Hilfssysteme in der Schnittmenge zwischen Arbeitsmarkt und Sozialversicherungen, anders ausgedrückt: die Fallmaschen des Arbeitsmarktes und die Auffangsysteme der sozialstaatlichen Versicherungen. Die genannte theoretische Auseinandersetzung bereitet die empirische Analyse eines konkreten Arbeitssettings vor. Dazu wurde ein junger, als „autistisch“ diagnostizierter Mann mitsamt seiner beruflichen Biografie auf dem Arbeitsmarkt gewählt. Dieser Einzelfall wurde zur Analyse herangezogen, weil die Fähigkeiten des jungen Mannes in besonders augenscheinlicher Weise besonders vielen unterschiedlichen Erwartungen nicht zu entsprechen scheinen. So hat er bereits mehrmals die Institutionen des zweiten Arbeitsmarktes wechseln müssen VHN 3/ 2009 254 Aktuelle Forschungsprojekte und befindet sich nun in einem spezifisch für ihn geschaffenen Setting auf dem regulären Arbeitsmarkt. Zu beachten bleibt, dass die intendierte theoretische Analyse anhand der empirischen Untersuchung einer beliebigen Person auf dem Arbeitsmarkt durchgedacht werden könnte. Dies macht eine forschungsmethodologisch korrekte Einzelfallanalyse geradezu aus. Zugegebenermaßen lässt sich jedoch bei der Auswahl eines „Autisten“ ein gewisser Widerspruch zu genannter Ausgangslage nicht vermeiden. Konsequent wird aber in der Analyse des ausgewählten Mannes die allgemeine Frage gestellt, wie der Arbeitsmarkt seine Differenz hervorgebracht hat. Vor diesem Hintergrund wird eine kritische Betrachtung der Sonderpädagogik als Disziplin möglich, ja geradezu unerlässlich. Auch wird die Erörterung der dringenden Frage notwendig, ob körperliche, geistige und psychische Beeinträchtigungen eine spezifische Form der hervorgebrachten Differenz auf dem Arbeitsmarkt darstellen, also - um auf die ursprüngliche Irritation zurückzukommen - das Nachdenken darüber, was einen Menschen auf dem Arbeitsmarkt überhaupt behindert. Methodisches Vorgehen „Verständliche Zusammenhänge (…) werden nicht durch Zahlen, sondern durch den verstandenen Einzelfall erwiesen, Zahlen zeigen nur die Häufigkeit ihres Vorkommens.“ - eine Aussage von Jaspers, die das Vorgehen des geplanten Dissertationsprojektes treffend umschreibt. Da es um neue Zusammenhänge geht, ist dieses Vorgehen das einzig mögliche. Der Einzelfallanalyse geht eine Voruntersuchung voraus, bestehend aus Gesprächen mit, Beobachtungen von und Besuchen bei involvierten Akteuren. Diese verläuft parallel zu differenzierter theoretischer Einbettung der Thematik, durch deren Kombination sichtbar wird, welche Elemente des Settings sozusagen ausschlaggebend für die Theoriekonstruktion sind. Die Strukturierung der Forschungsfragen, wie dieses Vorhaben genannt werden könnte, ist ungewöhnlich. Die Basis eines solchen Vorgehens findet sich in primär soziologischen Studien, die sich durch einen häufigen und intensiven Kontakt mit dem Feld eine theoretische Sensibilität (theoretical sensitivity) erarbeiten. Dadurch wird für Elemente sensibilisiert, die zur Erklärung von Differenzierungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt herangezogen werden könnten. Die eigentliche Untersuchung findet im Anschluss an die vorgängig gemachten Erhebungen statt, die sich in einer hermeneutischen Vorgehensweise mit der theoretischen Auseinandersetzung wechselseitig ergänzt. Dabei handelt es sich - wie bereits mehrmals erwähnt - um eine Einzelfallanalyse um einen jungen Mann mit der Diagnose „Autismus“ auf dem Arbeitsmarkt. Anhand des Einzelfalls wird aufgezeigt, welche strukturellen Grundlagen das Hervorbringen von Differenz auf dem Arbeitsmarkt bedingen und wie sozialstaatliche Absicherungssysteme die entstehenden Erwerbsunfähigkeiten aufzufangen versuchen. Mit dieser Arbeit wird der anspruchsvolle Versuch gewagt, Grundlagen für eine neue Forschungsperspektive im Feld des Arbeitsmarktes und seinen Zonen zu erarbeiten sowie Behinderung in diesem Kontext neu zu denken. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei andrea.kaufmann@ unifr.ch Das Ende von Behinderung? - Biografien ehemaliger Schüler der „Lernbehindertenschule“ Eine katamnestische Studie zur Lebenszufriedenheit ehemaliger Schüler einer Lernhilfe-Schule nach 30 Jahren (1979 - 2009) Christiane Hofmann, Ingo Holaschke Justus-Liebig-Universität Giessen Längsschnittstudien im Sinne katamnestischer Fallbearbeitungen sind im Bereich der Sozialwissenschaften, insbesondere in der Sonderpädagogik, kompliziert und deshalb eher selten. Eine im Ansatz vergleichbare Studie wird zurzeit in der Schweiz in der Arbeitsgruppe um Urs Haeberlin, Fribourg, bearbeitet, bei der es um die Verarbeitung des Migrantenstatus geht und die ehemalige Schüler und Schülerinnen nach 8 - 10 Jahren zu einer Längsschnittstudie zusammenfasst. Fragestellung Für unser geplantes Forschungsvorhaben ist es gelungen, einen Datensatz von 40 ehemaligen Sonderschülern/ innen, deren Familien von 1979 - 1980 zur Lebens-, Arbeits- und Erziehungssituation befragt VHN 3/ 2009 255 Aktuelle Forschungsprojekte worden waren (Hofmann 1982), bis auf einige wenige Personen, wieder zu ermitteln. Diese ehemaligen lernbehinderten Schüler/ innen, die heute im Durchschnitt 40 bis 45 Jahre alt sind, werden erneut nach ihrer Lebens- und Arbeitssituation und ihrer Lebenszufriedenheit befragt. Auch im Rahmen der Biografieforschung gibt es selten Kohorten, die im Längsschnitt über einen solchen Zeitraum untersucht werden können. Da diese Gruppe vor 30 Jahren mit einer Kontrollgruppe, die nach Sozialstatus und Vaterberuf parallelisiert war, verglichen wurde, haben wir auch die Daten der Kontrollgruppe ermittelt. Daraus ergibt sich nun ein methodisches Design, das einen Vergleich ehemaliger Sondermit ehemaligen Regelschülern/ innen im Hinblick auf ihre Lebenssituation und Lebenszufriedenheit ermöglicht. Dabei wird die Tatsache, ehemalige Sonderschüler/ innen gewesen zu sein, je nach Lebenssituation unterschiedlich bedeutsam sein. Mit den Ergebnissen einer solchen Studie können wertvolle Hinweise gegeben werden, welchen Stellenwert der Besuch einer Sonderbzw. Förderschule in der späteren Biografie haben kann und welche Variablen dieses Ereignis verstärken oder abmildern können. Wichtig ist hierbei, dass die Schüler und Schülerinnen einer Schule für Lernhilfe sich nicht als „behindert“ sahen und sehen, sondern sich als „Schulversager“ in unterschiedlicher Weise von der Schule und/ oder den Eltern im Stich gelassen fühlen bzw. sich selbst für das Versagen verantwortlich machen. Diese unterschiedlichen Attribuierungen werden nicht unerheblich das weitere Erleben von Erfolg und Versagen beeinflussen. Zu folgenden Fragen werden Daten erhoben: n Wie verlaufen die Biografien der ehemaligen Schüler der Schule für Lernhilfe? n Welche biografischen Verlaufsmuster können identifiziert werden? n Welche Bedeutung haben „critical life events“ in diesem Zusammenhang? n Welche können identifiziert werden? n Wie wird mit ihnen umgegangen? n Welche Konsequenzen haben diese? n Welche Rolle hat der Sonderschulbesuch im Leben der Befragten gespielt? n Welche Merkmale können in den Erzählungen identifiziert werden, die als „behindernde“ Faktoren in den Biografien gelten können? Welche werden von den Biografieträgern selbst genannt, welche können interpretativ erschlossen werden? n Welche Gewichtungen können bezüglich ausgewählter Themenbereiche vorgenommen werden, z. B. frühe Kindheit, Kindergarten, Schule, Elternhaus und Erziehungsstil, Ausbildung, Arbeitsleben und Arbeitslosigkeit, Freunde, Rolle von Institutionen, eigene Familie (Ehe, Kinder, Trennung, Scheidung), Kontakt zur Herkunftsfamilie (Eltern, Geschwister), Krankheit, Kirche, Vereine, Integration in Dorfgemeinschaft, Sucht (v. a. Alkohol), finanzielle Situation, Wohnung, Mobilität, Umgang mit Raum und Zeit? n Wie bewerten die Biografieträger ihre Biografien? Welche Auswirkungen hatten diese auf das Selbstkonzept der Befragten? Methodisches Vorgehen Für die Durchführung der Untersuchung kann eine gute Kooperation mit den Probanden vorausgesetzt werden. Die meisten der ermittelten ehemaligen Sonderschüler/ innen sind in ihrem Dorf bzw. im engeren Umfeld des Heimatortes geblieben, zu dem immer noch gute regionale Kontakte bestehen. Die Studie ist zweischrittig geplant: Zunächst sollen alle Probanden/ innen der Experimental- und der Kontrollgruppe mit einem Fragebogen zu den festen Daten zu ihrer Lebenssituation und mit einem Fragebogen zur Lebenszufriedenheit (Fahrenberg u. a. 2000) befragt werden. In einem zweiten Schritt wird bei 15 bis 20 Personen zusätzlich eine qualitative Befragung vorgenommen, die in Form eines narrativen Interviews eine Bilanzierung des eigenen Lebens unter dem Kriterium von „Erfolg“ bzw. „Misserfolg“/ „Zufriedenheit“ bzw. „Unzufriedenheit“ vorsieht. Die Probanden/ innen geben bei der ersten Befragung ihre Zustimmung zu diesem zweiten Interviewtermin, haben aber auch die Möglichkeit, diesen abzulehnen. Zum Abschluss des biografischen Interviews wird der Lebenslauf - unter dem Leitaspekt des Erfolgs - bilanziert. Dabei werden die Biografieträger zunächst aufgefordert, im Sinne einer subjektiven Definition zu beschreiben, was sie selbst unter Erfolg verstehen bzw. welche Eigenschaften/ Besitztümer einen erfolgreichen Menschen ausmachen. Anschließend wird eine selbstreflexive Einschätzung der eigenen Biografie vor diesem Hintergrund vorgenommen. VHN 3/ 2009 256 Aktuelle Forschungsprojekte Auswertung und Interpretation der Ergebnisse Vor der Betrachtung einzelner Themenbereiche und spezifischer Problemstellungen soll zunächst eine Kurzbiografie jedes Untersuchungsteilnehmers stehen, um so einen ersten groben Überblick über die Gesamtgestalt aller Fälle zu ermöglichen. Dabei sollen auch die Prozessstrukturen des Lebenslaufs nach Schütze (1981) einer analytischen Betrachtung unterzogen werden. Demzufolge kann ein Erzähler seine Biografie „1. im Sinne eines ,biographischen Handlungsschemas‘ als gewollt, geplant und angestrebt, 2. im Sinne eines ,institutionellen Ablaufmusters‘ als vorgegeben, hingenommen und absolviert, 3. im Sinne einer Verlaufskurve als übermächtig, bedrängend und ausgeliefert, 4. im Sinne eines ,Wandlungsprozesses‘ als überraschend, herausfordernd und befreiend“ betrachten (Schütze 1981). Ein besonderes Augenmerk soll auf eventuell auftretenden behindernden bzw. als behindernd erlebten Faktoren liegen, die auch nach dem Abschluss der Schule für Lernhilfe im Leben der Biografieträger eine Rolle spielten bzw. immer noch spielen und die Entscheidungsfreiheit und die potenziellen Lebensmöglichkeiten im Sinne einer selbstbestimmten und individuellen Ausgestaltung der Biografien nachhaltig einschränkten bzw. immer noch einschränken. In diesem Zusammenhang sollen auch „critical life events“ innerhalb der Biografien identifiziert und die je individuellen Bewältigungsstrategien herausgearbeitet werden, die einander mittels der im Folgenden dargestellten dokumentarischen Methode vergleichend gegenübergestellt werden können. In einem nächsten Schritt soll die Fallrekonstruktion mit der dokumentarischen Methode erfolgen, die weniger die Betrachtung der einzelnen Interviews als vielmehr eine Analyse einzelner Themenbereiche in den Mittelpunkt stellt. Am Ende der biografisch-narrativen Interviews werden die Biografieträger aufgefordert, die eigenen Lebensläufe zu bilanzieren und das „Erreichte“ zu bewerten. Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass bei einer Bewertung des eigenen Lebenserfolgs von den Biografieträgern unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, die sich z. T. erheblich voneinander unterscheiden und evtl. auch überhaupt nicht mit den üblichen Assoziationen von Karriere, vertikaler Mobilität und materiellem Wohlstand einhergehen. Daher sollen die Untersuchungsteilnehmer aufgefordert werden, die den subjektiven Definitionen von „Erfolg“ zugrunde liegenden Kriterien offenzulegen. Da einigen der Befragten eine solche Definition erwartungsgemäß schwerfallen wird, erhalten sie bei Bedarf Hilfestellungen. Nur auf der Grundlage solcher Definitionen können die weiteren Ausführungen der Biografieträger verstanden, untersucht und innerhalb der Stichprobe verglichen werden. Mit diesem multimethodischen Vorgehen wird eine Annäherung an das Problem der Beschreibung subjektiven Lebenserfolgs der befragten Biografieträger im Sinne einer Methodentriangulation erhofft. Weitere Informationen und Literaturhinweise können eingeholt werden bei christiane.hofmann@ uni-giessen.de