Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Dialog: Wie viel Schule braucht der Mensch?
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Lothar Emanuel Kaiser
Der heutige Briefwechsel legt Zeugnis ab von einer Zeit, als Integration noch kein bildungspolitisches und wissenschaftliches Thema war, aber dennoch - vor allem im Dorf - oftmals gelebt wurde. Mancher Hilfsschüler konnte sich mit all seinen Stärken und Schwächen angenommen fühlen und sich den Herausforderungen seiner Umwelt stellen, auch wenn er oft an Grenzen gestoßen ist. Der Brief des ehemaligen Hilfsschülers Ruedi an seinen inzwischen 75-jährigen ehemaligen „Herr Lehrer“ spricht von einem tiefen Vertrauen in Gott, die Mitmenschen und die Umwelt und von der Stärke, sein Schicksal zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Mit dem Briefwechsel möchten wir keine unreflektierte Verklärung der damaligen Zeit verbinden; wir sollten uns bewusst bleiben, dass von Ruedi nicht auf alle ehemaligen Hilfsschüler jener Zeit geschlossen werden darf.
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VHN, 78. Jg., S. 338 - 341 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 338 Dialog Punkt zehn Minuten vor acht am Morgen trafen wir uns immer beim Eingang zum Schulhaus: Ruedi, der dienstbereite Hilfsschüler der Oberstufe, und ich, sein „Herr Lehrer“. Ruedi war etwa 12 Jahre alt. Damals, am Anfang der 60er Jahre, gab es noch keine Lehrmittel für Schulen, die sich sonderbegabten und sonderunbegabten Schülern in den sogenannten Hilfsschulen widmeten. Als frisch diplomierter Hilfsschullehrer produzierte ich jeden Abend bei der Unterrichtsvorbereitung für meine 16 Schüler und Schülerinnen der Oberstufe meine Arbeitsblätter-Lehrmittel. Man kennt das heute nicht mehr, diese primitiven Sprit-Umdrucker mit den violetten Matrizen. Man klemmte das Original auf eine Walze, feuchtete mit einem nach Alkohol riechenden Sprit einen Filz an, der die Blätter befeuchtete. Dann zog man Blatt um Blatt von Hand nach und erhielt gute Kopien. Ruedis Vater besaß ein Schreibmaschinengeschäft, sein Sohn war in dieser Sparte ausgesprochen begabt, weniger in Sprache, Rechnen, Geografie … Darum förderte ich Ruedi auch mit dem Umdrucken, und jeden Morgen war er sehr stolz darauf, dem Herrn Lehrer behilflich zu sein, den Unterricht vorzubereiten. Selbstständig bediente er den Apparat und lieferte tadellose Kopien ab. Und das über drei Jahre hinweg. Das Leben trennte uns. Ruedi begann bei seinem Vater die Lehre als Schreibmaschinenmechaniker. Ich zog nach Hitzkirch als Methodiklehrer. Meine Hilfsschüler hatten mir beigebracht, was das heißt: methodisch vorgehen. Das war jetzt mein Grundwissen. Wir wohnten in Hitzkirch im neuen Haus. Eines Tages läutete es heftig. Vor der Türe stand Ruedi: „Guten Tag, Herr Lehrer. Kann ich eine Zeitlang bei ihnen bleiben? Ich habe ‚Lämpe‘ mit meinem Vater.“ Also mit seinem Lehrmeister. Ich ließ ihn erzählen, telefonierte dann mit seinem Vater, und Ruedi blieb zur Beruhigung der Lage etwa zwei Wochen bei uns. Unsere vier Kinder Lukas, Maria, Martin und Michael kannten ihn, freuten sich. Ruedi, der stets hilfsbereite junge Mann, fragte uns, ob er etwas „machen“ könne. Neben vielen kleinen Hilfsarbeiten war da noch die alte Kücheneckbank aus dem Elternhaus von Heidi. Die wollten wir auf unserem Sitzplatz unter dem Vordach beim Garten einbauen. Der praktisch veranlagte Ruedi maß alles aus, plante und schritt zur Tat. Und siehe da: Alles klappte bestens. Er malte die Bank noch kakaobraun an. Noch heute versieht sie ihren Dienst, und vielen Menschen hat sie gedient. Bravo Ruedi! Die zweite Episode dieses Aufenthaltes war weniger gut geplant. Ruedi vergnügte sich ger- Wie viel Schule braucht der Mensch? Ruedi B. - Denkmal für einen lieben Schüler Lothar Emanuel Kaiser n Vorbemerkung der Redaktion: Der heutige Briefwechsel legt Zeugnis ab von einer Zeit, als Integration noch kein bildungspolitisches und wissenschaftliches Thema war, aber dennoch - vor allem im Dorf - oftmals gelebt wurde. Mancher Hilfsschüler konnte sich mit all seinen Stärken und Schwächen angenommen fühlen und sich den Herausforderungen seiner Umwelt stellen, auch wenn er oft an Grenzen gestoßen ist. Der Brief des ehemaligen Hilfsschülers Ruedi an seinen inzwischen 75-jährigen ehemaligen „Herr Lehrer“ spricht von einem tiefen Vertrauen in Gott, die Mitmenschen und die Umwelt und von der Stärke, sein Schicksal zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Mit dem Briefwechsel möchten wir keine unreflektierte Verklärung der damaligen Zeit verbinden; wir sollten uns bewusst bleiben, dass von Ruedi nicht auf alle ehemaligen Hilfsschüler jener Zeit geschlossen werden darf. VHN 4/ 2009 339 Wie viel Schule braucht der Mensch? ne mit seinem Töffli, hängte daran - nicht ganz fachgemäß - unseren uralten Veloanhänger. Unsere Kinder durften abwechslungsweise Taxifahrten mit Ruedi machen, zum Schließbach und wieder zurück. Als er mit Martin zurückkam, war dessen Gesicht blutüberströmt. Die scharfe Kurve hat dafür gesorgt, dass beide im Straßengraben landeten. Noch heute trägt Martin ein Wahrzeichen, eine Narbe davon über dem linken Auge. Wir wurden älter, Ruedi auch. Eines Tages stand ein großes Auto vor unserem Haus, dem Ruedi entstieg. Er läutete, kam herein, und wir bewirteten ihn. Auf einmal sagte er, es sei noch jemand im Auto. Eine junge Frau. Hol sie herein! Er ging und kam mit seiner Freundin zurück. Ruedi und seine Freundin wurden auf einmal unruhig. Sie sagten, es sei noch jemand im Auto. Die junge Frau holte eine Art Tragtasche. Darin lag ihr Kind, das sie doch dem Herr Lehrer zeigen wollten. Ruedi wurde Chauffeur. Wie, das weiß ich nicht. Er machte Fahrten durch ganz Europa und fragte sich einfach durch, schaute auf Wegweiser, kam immer an. Als er mit einem Personenwagen zu uns kam, wieder einmal vor der Haustüre stand, sagte er: Ich muss noch auf die Gotthardstraße. Ich habe dort meine Uhr liegen gelassen. Wo denn, fragten wir ihn. In einer Kurve gibt es doch ein Restaurant, dort habe ich sie liegen gelassen. Wie der Ort heißt? Keine Ahnung. Ruedi fand eine gute und liebe Frau, Uschi, heiratete sie, und sie wurden glücklich miteinander. Sie kamen auch zu uns, und seither gibt es einen losen Briefwechsel. Daraus zitiert: Aus meinem Brief an Ruedi zu seinem 50. Geburtstag: + „Von all den vielen Schülern, die ich in meinem Leben unterrichten durfte, ich schätze, dass es über 1.000 waren, gehörst du, Ruedi, zu den eindrücklichsten, die mir nie aus dem Gedächtnis fielen. Warum? Beeindruckend waren immer Deine Freundlichkeit, Deine so selbstverständliche Hilfsbereitschaft, Deine Offenheit, verbunden mit dem Mut, immer wieder neu zu beginnen, Dich nicht unterkriegen zu lassen. Und dass Du in Freud und Leid immer wieder zu Deinem alten Lehrer zurückgekehrt bist, das war eine besondere Freude für mich.“ Ruedis Brief nach seinem 50. Geburtstag: + „Mit meinen Schwestern bin ich heute am Aufbauen, was seinerzeit in die Brüche ging. Vor 32 Jahren war ich der Einzige von der Familie, der zu unserer Mutter gehalten hat, in einem Moment, als ich begriffen habe, wir brauchen einen Zusammenhalt und als ich mir so etwas wie eine Gruppe, die zusammenhält, nämlich eine Familie, wünschte. Genau zu diesem Zeitpunkt war die Scheidung meiner Eltern und ich kam ins Lehrlingsheim. Ich habe bis heute vor 18 Jahren auch achtzehnmal mein Heim verlassen müssen. Diese Kraft hatte und habe ich nur, weil es so Menschen gibt wie Ihr und ich, meine ganze Familie.“ „Es ist mir ein Vergnügen, an Euch zu denken, an Dein Vertrauen in mich und an diese Dinge, die Du uns beigebracht hast. Jeder Tag, den ich bewältige mit Uschi, ist ein Fest für mich. Du bist mir und auch Uschi immer nahe, weil sie mich kennt und dadurch auch Euch lieb hat. Es geht im Leben nicht nur um uns, und deshalb versuchen wir auch solche Freundschaften zu pflegen und neue aufzubauen. Dieser Samstag, 23. 6. 01 und Euere Worte, die Uschi zuerst vorgelesen hat, waren wunderbar, und ich habe vor Freude geweint über so viel Liebe und Erinnerungen.“ Ruedi und Uschi schrieben: + „Ich hoffe es geht Euch beiden gut, und ihr habt gut angefangen. Auch bei uns ist alles beim Alten geblieben. Stehen aber jeden Tag gerne auf, lernen uns von neuem kennen und lieben. Und wenn dann noch der Frühling VHN 4/ 2009 340 Lothar Emanuel Kaiser kommt, geht die Post so richtig ab. Der Winter ist nämlich nicht mehr meine Zeit wie auch schon, als ich mit dem Vater in die Berge ging. Wir wünschen Euch eine gute Zeit, denn ich gehe jetzt mein bekanntes Niggerli machen.“ „So heimelig wie das Bild auf dieser Karte, ist unser zu Hause! Das ist der Ort, wo wir uns wohl fühlen.“ Zu Beginn des Jahres 2007 schrieb Ruedi mit schöner Handschrift an uns (originale Orthografie): + „Hallo Heidi und Lothar, Vielen Dank für euer schreiben es freute uns von euch zu höhren und die netten Worte aus eurem geist und leben. Lange ist es her das ich was schreibe, bin aber immer wieder bei euch in Gedanken wen es um Leben erfahrung und geschik geht sich durchs gewül des altags zu kämpfen. Es ist ein grosser teil der von euch kommt aus Schuhle und freizeit der unser Weg so manchmal ebnet. Mit meiner Frau Uschi habe ich glück den auch sie stand zu mir. in einer schweren zeit. als sich meine bauchspeicheldrüse und galle fast verabschiedet hat. In der folge kam ich ins Spital, in Lugano 2 tage danach ins Clara spital. zum Glück ohne Operation. Eine menge guter wille, kein wein und wenig fleisch so kam ich wieder auf 65 kg. nicht sehr viel fühle mich aber wohl und Uschi macht auch mit und gibt mir kraft und bereichert mein geist der manchmal am austroknen war sie gab mir balsam für die sehle. Den mein geschäft muste ich 2003 meine treusten mitarbeiter geben und der anteil Haus Sulzerstrasse verkaufen. Auch dies hat geschmerzt, aber brachte es eine gewisse erleichterung für mich. 35 Jahre war es mein Arbeitplatz und auch mein Herzstück, dafür habe ich aber auch viel bekommen und die erinerung von Bettenstr. und auch schule machen uns reich, eine erinerung und erfahrung die nie zu verkaufen ist. Ich vergesse diese Zeit nie sie ist ein Werkzeug das ich mit leib und sele benutzen darf und weiter gebe an die die es spüren möchten. Da ich jetzt leider zeit habe und keine arbeit finde fahre ich für den Sennioren-Dienst Allschwil Schönenbuch betagte Menschen zu Ihrem Ziehl, Dr. Couffeuer usw. Sie sind Dankbar für solche Dienste und viele male ist ein Dr. Besuch der einzige ausgang. Ich habe manchmal hemungen zu sagen es geht mir eigendlich gut Gott sei Dank. Ich habe eine Frau die mein Transport geniest, und mit 97 Jahren noch geistig gut drauf ist. Man redet und Quaselt und ich nehme diese leute ernst den die erfahrungen die ich mache für meinen geist kosten nichts. Habe manchmal das gefühl ich kenne sie schon lange. Eine schöne erfahrung für unser herz und Geist das niemand klauen kan Gott sei Dank. Ein schönes ereignis, mein älterer Sohn ist mit 30 Jahren Vater geworden ein Mädchen ‚Leoni‘ 3,7 Kg. und Claudia ist eine tolle Mutter und dies ereignis führt uns wider ein wenig zusamen. Sie wohnen in Weiningen ZH. Die Bilder zeigen unser zuhause und der ausplick über Allschwil das wir nicht missen möchten. Ich hoffe es geht euch gut und habt viel gesundheit und schöne zeiten, und Grüsse euch aus Allschwil. Ruedi“ Und Uschis kleiner Anhang: + „Liebe Heidi, lieber Lothar, Ruedi hat so toll geschrieben, dass ich gar nichts mehr zu ergänzen habe. Sein Brief baut auch mich auf und freut mich sehr. Er zeigt mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Liebe Grüsse auch von mir Uschi“ Ich habe den Brief gelesen - und geweint. Nachdenkliches vom „Herrn Lehrer“ Wenn man als Mann und „alt Lehrer“ im Alter von bald 75 Jahren einen Brief von einem Ehe- VHN 4/ 2009 341 Wie viel Schule braucht der Mensch? maligen bekommt, dann fragt man sich mit Tolstoi: Wie viel Schule braucht der Mensch? Was bewährt sich in einem einfachen Leben? Die Orthographie und der Dreisatz, die Alpenübergänge im Urnerland, der Felgaufschwung und das Setzen von Kommas? Ruedi schreibt auf seine Art, was ihm geholfen hat. Und das hat mich tief beeindruckt. Nicht das, was wir bewusst sagen, was wir großartig Erziehung nennen! Nein, das, was so nebenbei geschieht und gesehen und gehört wird, wahrgenommen wird. Das ist es. Der Brief Ruedis am Schluss dieses Textes ist in meinen Augen ein großartiges Dokument eines einseitig begabten Menschen, der sein Leben gemeistert hat. Und der genau spürt, worauf es ankommt. Um Ich zu werden brauche ich ein Du. Wir brauchen Menschen, die mit uns sind. Mitmenschen, die wir lieben - möglichst wie uns selbst. Und wir verehren den Lieben Gott. Dieses Dreieck hält uns und bildet letztlich das Dach überm Kopf. Lothar Emanuel Kaiser Luegetenstraße 23 a CH-6102 Malters E-Mail: le.kaiser@malters.net
