eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Aktuelle Forschungsprojekte (4/09)

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2009
Der Wortschatz-Sammler: Interventionsstudie zum Vergleich lexikalischer Strategie- und Elaborationstherapie
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VHN 4/ 2009 346 Aktuelle Forschungsprojekte Der Wortschatz-Sammler: Interventionsstudie zum Vergleich lexikalischer Strategie- und Elaborationstherapie Hans-Joachim Motsch, Tanja Brüll Universität zu Köln Theoretischer Hintergrund Störungen des Wortschatzes sind häufige Teilsymptome einer Sprachentwicklungsstörung bei Kindern. Sie zeigen sich als Störungen in der Produktion und/ oder im Verstehen von Wörtern aufgrund von fehlendem, unzureichendem oder nicht abrufbarem semantischem oder lexikalischem Wissen (Glück 2007). Die Kinder verfügen zumeist über einen geringeren Wortschatzumfang als ihre Altersgenossen. Zudem sind die vorhandenen lexikalischen Einträge unzureichend differenziert und mit anderen Einträgen vernetzt, was in der Folge zu Schwierigkeiten beim Zugriff (Wortfindungs- und Wortabrufstörungen), zu Fehlbenennungen, Umschreibungen oder anderem Kompensationsverhalten führen kann. Trotz des häufigen Vorkommens lexikalischer Störungen (zwischen 23 % und 40 % der sprachauffälligen Kinder, Dockrell 1998; German 1994) treten diese im Rahmen der komplexen sprachlichen Symptomatik spracherwerbsgestörter Kinder meist weniger offensichtlich zutage als Störungen der Aussprache oder der Grammatik. Entsprechend dünn ist die bisherige Forschungslage bezüglich der Effektivität der in der Praxis eingesetzten sprachtherapeutischen Methoden (Glück 2003). Es existieren nur wenige Interventionsstudien, die in der Regel an kleinen Stichproben durchgeführt und teilweise methodisch lückenhaft beschrieben sind. Die häufig eingesetzte Elaborationstherapie führt in den meisten Fällen zu einem unmittelbaren Lerneffekt für den exemplarisch geübten Wortschatz, zeigt aber nur geringe Generalisierungseffekte auf ungeübtes Wortmaterial. Die therapeutische Hoffnung, den Selbstlernmechanismus der Kinder durch die auf einen kleinen exemplarischen Wortschatz beschränkte Elaboration zu „deblockieren“ (Anstoßfunktion), blieb somit unerfüllt. Bedenkt man, dass Kinder bis zur Einschulung über einen aktiven Wortschatz von 3.000 - 6.000 Wörtern verfügen sollten, wird deutlich, dass dies nicht über die Erarbeitung einzelner Wörter im therapeutischen Setting zu leisten ist. Insofern bleibt im Sinne der Evidenzbasierung der Nachweis der klinisch bedeutsamen Verringerung einer lexikalischen Störung durch sprachtherapeutische Intervention offen (Glück 2003). Autoren wie German (2002) und Glück (2007) vermuten, dass Therapieansätze, die den Kindern Strategien zum Erwerb, zur Vernetzung und zum Abruf lexikalischen Wissens vermitteln, zu besseren Transfereffekten auf ungeübtes Material führen könnten. Dies bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen Therapiemethode „Der Wortschatz-Sammler“ (Motsch 2008). Sie beinhaltet Elemente des Selbstmanagements, indem sie die Kinder über das lustvolle Entdecken der eigenen lexikalischen Lücken zu eigenaktivem Lernen anregt und befähigt. Zu diesem Zweck werden den Kindern Fragestrategien zur semantischen und phonologischen Elaboration und zur Kategorisierung neuer lexikalischer Einträge sowie Strategien zur Erleichterung des Abrufs bei fehlendem Zugriff auf vorhandene lexikalische Einträge vermittelt. Über den Einbezug der Eltern soll zudem der Übertrag der erlernten Strategien in den Alltag erleichtert werden. Der „Wortschatz-Sammler“ ist die erste strategieorientierte Therapiemethode, die für lexikalisch gestörte Vorschulkinder entwickelt wurde. Die bisher in der Fachliteratur vorherrschende Annahme, Speicherstrategien könnten erst von Schulkindern aufgrund verbesserter metalinguistischer Fähigkeiten umgesetzt werden, fand in einer ersten Pilotstudie zur Erprobung des Konzepts mit drei Vorschulkindern keine Bestätigung (Zimmermann 2008). Neben der Strategietherapie „Wortschatz-Sammler“ wurde eine weitere Therapiemethode, der „Wortschatz-Finder“, entwickelt. Dabei handelt es sich um eine semantisch-phonologische Elaborationstherapie. Diese wurde von Glück (2003) als bisher effektivste Methode zur Therapie lexikalischer Störungen eingeschätzt, ihre Effektivität wurde bisher aber nur anhand von kleinen Fallstudien nachgewiesen. Das Forschungsprojekt beschäftigt sich folglich mit dem Vergleich der Effektivität einer strategieorientierten lexikalischen Therapie mit der Effektivität einer semantisch-phonologischen Elaborationstherapie. Neben den unmittelbaren Therapieeffekten auf die geübten Wörter sollen insbesondere langfristige Generalisierungseffekte erfasst werden. VHN 4/ 2009 347 Aktuelle Forschungsprojekte Methode Im Zeitraum 2009 - 2010 wird eine randomisierte und kontrollierte Gruppenstudie durchgeführt. Dabei wird die Effektivität der „Wortschatz-Sammler“- Methode (Experimentalgruppe 1) mit der Methode „Wortschatz-Finder“ (Experimentalgruppe 2) verglichen. Zusätzlich sollen unspezifische Effekte über den Vergleich mit einer unbehandelten Kontrollgruppe ausgeschlossen werden. Pro Gruppe wird eine Größe von n = 30 Probanden angestrebt, sodass insgesamt 90 Kinder an der Interventionsstudie teilnehmen. Die Probanden sind sprachentwicklungsgestörte Kinder im Alter von 4; 0 - 4; 11 Jahren, die monolingual deutsch aufgewachsen sind und deren Therapiebedürftigkeit im lexikalischen Bereich über einen T-Wert < 40 im AWST-R (Aktiver Wortschatz-Test, Kiese-Himmel 2005) nachgewiesen ist. Die Kinder werden aus Kindertagesstätten der Stadt Köln rekrutiert. Dort findet auch die Intervention statt. Sie wird über den Zeitraum von fünf Wochen mit einer Frequenz von drei Therapieeinheiten à 30 Minuten pro Woche durchgeführt und beinhaltet 13 Einzeltherapien mit den Kindern sowie ein bis zwei Termine zur Anleitung und Beratung der Eltern. Die Therapieeffekte werden zum einen unmittelbar durch einen Vergleich der Benennleistung für die Therapie-Items vor und nach der Therapie überprüft. Entscheidender ist jedoch der Vergleich der Werte in standardisierten und normierten Testverfahren (aktive und rezeptive Wortschatztests), die jeweils vor der Therapie sowie sechs und zwölf Monate nach der Intervention für alle Kinder verblindet erhoben werden. Varianzanalytisch wird ebenfalls der mögliche Einfluss mehrerer im Prätest erhobener Parameter (u. a. nonverbale Intelligenz, Kapazität des Arbeitsgedächtnisses) überprüft. Erwartungen Es ist davon auszugehen, dass beide Therapiemethoden zu guten unmittelbaren Lerneffekten für die exemplarisch elaborierten Therapie-Items führen werden. Darüber hinaus erwarten wir bessere langfristige Generalisierungseffekte durch die strategieorientierte lexikalische Therapie, was sich in signifikant besseren Wortschatz- Leistungen in den Nachtests für die „Wortschatz- Sammler“-Gruppe niederschlagen würde. Diesbezüglich sind erste Ergebnisse Ende 2010 zu erwarten. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei j.motsch@uni-koeln.de Zusammenhang von Schriftsprachkompetenz und Lebensbewältigung Sandra Deneke, Natalie Pape Leibniz Universität Hannover Ausgangslage In der heutigen Wissensgesellschaft gewinnen Selbstorganisation und Selbstsorge zunehmend an Bedeutung. Im Rahmen einer veränderten Lernkultur spielt somit die Grundbildungskompetenz „Lernen lernen“ neben personalen, sozialen Kompetenzen und den traditionellen und modernen Kulturtechniken eine besondere Rolle. Schriftsprachkompetenz stellt diesbezüglich ein zentrales und notwendiges Element für lebenslanges Lernen und Lebensbewältigung dar. Sie ist trotz Schulpflicht jedoch keine Selbstverständlichkeit. In Deutschland gibt es laut einer Schätzung des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. vier Millionen funktionale Analphabeten. Die Betroffenen verfügen zwar über Lese- und Schreibkenntnisse, diese reichen jedoch häufig nicht aus, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Entscheidung für die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs bedeutet für viele Betroffene einen tiefen Einschnitt in ihrem bisherigen Leben und kann sowohl positive als auch negativ erlebte Folgen nach sich ziehen. So kann die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs einerseits den Weg aus der sozialen Isolation unterstützen, das Selbstwertgefühl steigern und eine persönliche Entwicklung zu mehr Selbstständigkeit begünstigen. Andererseits können diese Veränderungen in der Lebenssituation in Widerspruch zu bestehenden Beziehungsmustern und bewährten Lebensbewältigungsstrategien geraten. Der Erfolg der erneuten Auseinandersetzung mit Schriftsprache lässt sich jedoch erst im Zusammenhang mit der Anwendung der Schriftsprache außerhalb des Kurses und der Selbsteinschätzung der Lernenden beurteilen. Bisher liegen nur wenige qualitative Untersuchungen zum Schriftspracherwerb Erwachsener vor. Sie thematisieren vorrangig den schriftsprachlichen Lernprozess, vernachlässigen jedoch die Übertragbarkeit der schriftsprachlichen Fähigkeiten auf Alltagssituationen und die Wechselwirkungen zwischen Schriftsprachkompetenz und Lebensbewältigung. An dieser Forschungslücke setzt das vom Bundesmi- VHN 4/ 2009 348 Aktuelle Forschungsprojekte nisterium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt „Interdependenzen von Schriftsprachkompetenz und Aspekten der Lebensbewältigung“ (Laufzeit Juli 2008 - Juni 2011) unter der Leitung von Prof. Dr. S. Deneke an. Zielsetzung Das an der Leibniz Universität Hannover angesiedelte Forschungsprojekt untersucht mit Hilfe von Leitfadeninterviews die Lernbiografien und Lebenswelten von Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Alphabetisierungskursen der Volkshochschule im Raum Hannover. Im Mittelpunkt stehen vor allem die Wechselwirkungen zwischen Schriftsprachkompetenz und Lebensbewältigung unter besonderer Berücksichtigung des schriftsprachlichen Lernprozesses, des Lernverständnisses und der Lernstrategien der Erwachsenen. Hierbei ist vor allem die subjektive Einschätzung der Betroffenen hinsichtlich ihrer Lebens- und Lernsituation von Interesse. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf den persönlichen Lernzielen, dem Selbstbild und der subjektiven Handlungskompetenz sowie auf erlebten Einschränkungen in Alltagssituationen und eingesetzten Bewältigungsstrategien. Dabei sind insbesondere sich im Laufe des Kursbesuchs vollziehende Veränderungen dieser Aspekte von Interesse. Die Interdependenzstudie ist ein Teilprojekt der laufenden „Verbleibsstudie zur biographischen Entwicklung ehemaliger Teilnehmer/ innen an Alphabetisierungskursen“, die im Rahmen des Förderschwerpunkts „Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Bereich Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene“ in einem Projektverbund mit den Universitäten Hamburg, Frankfurt und Berlin, TNS- Infratest sowie dem Deutschen Volkshochschulverband durchgeführt wird (vgl. http: / / dvv.vhs-bil dungsnetz.de/ servlet/ is/ 42072/ ). Forschungsfragen Die Interdependenzstudie setzt sich im Einzelnen mit folgenden Forschungsfragen auseinander: Wie setzen sich die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mit dem Lerngegenstand Schriftsprache auseinander? Welche Strategien der Lebensbewältigung setzen sie ein? Welchen Einfluss hat der Lernprozess auf die Lebensbewältigung der Befragten? Mit welchen positiven, aber auch negativen Konsequenzen sehen sich die Lernenden durch die Erweiterung ihrer Lese- und Schreibkenntnisse in ihrem Alltag sowie beim Lernen an der Volkshochschule konfrontiert? Lassen sich Typen hinsichtlich der Form der Auseinandersetzung mit Schriftsprache wie auch hinsichtlich der Anwendung von Schriftsprache im Alltag bilden? Unter welchen Lern- und Lebensbedingungen führt Schriftspracherwerb zu einem Zuwachs an subjektiv erlebter Handlungskompetenz, und welche Bedingungen erweisen sich dafür als nachteilig? Ein an das Forschungsprojekt angelehntes Dissertationsvorhaben von N. Pape geht hier unter anderem den Fragen nach, welche Rolle der im Herkunftsmilieu erworbene Habitus der Betroffenen für den Aneignungsprozess von Schriftsprache spielt und welche Auswirkungen das Erlernen des Lesens und Schreibens im Erwachsenenalter auf die langfristig angelegten Strategien und milieuspezifischen Prinzipien der Lebensführung der befragten Personen hat. Untersuchungsdesign Im Rahmen des Forschungsprojekts werden eine Basis- und eine Folgebefragung mit jeweils 20 - 30 Kursteilnehmer/ innen der Volkshochschule im Raum Hannover durchgeführt. In der Stichprobe befinden sich Erwachsene, die den gesellschaftlichen Mindestanforderungen an Schriftsprache teilweise oder gar nicht gerecht werden können und die aufgrund ihrer als unzureichend empfundenen Lese- und Schreibkenntnisse einen Leidensdruck verspüren. Befragt werden nur Erwachsene, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben. Die Basisbefragung wird im ersten Halbjahr des Jahres 2009 durchgeführt, die Folgebefragung ein Jahr später im Jahr 2010. Die Interviews basieren auf einem Gesprächsleitfaden, der in der Interviewsituation flexibel zum Einsatz kommt. Der Interviewleitfaden erhebt neben Daten zur Lebensgeschichte und der Motivation zur Kursaufnahme schwerpunktmäßig die Lernsituation und das Lernverständnis der Befragten sowie Veränderungen in der Lern- und Lebenssituation. Außerdem wird begleitend zu der Basis- und Folgebefragung jeweils eine Lernstandsdiagnose in den Bereichen Lesen und Schreiben durchgeführt, die den Lernfortschritt dokumentiert und der Selbsteinschätzung der Befragten in der Analyse gegenübergestellt wird. Die transkribierten Interviews werden mit Hilfe eines kodierenden Analyseverfahrens in Anlehnung an Gegenstandsbezogene Theoriebildung interpretiert. Es VHN 4/ 2009 349 Aktuelle Forschungsprojekte geht bei der Auswertung um die Rekonstruktion der subjektiven Perspektive der Lernenden sowie um eine fallübergreifende Betrachtung im Hinblick auf Typenbildung. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei sandra.deneke@ifs.phil. uni-hannover.de