Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Das provokative Essay: Verträgt sich Chancengleichheit mit Integration?
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2009
Urs Haeberlin
Die schulische Integration von bisher in Sonderschulen unterrichteten Kindern und Jugendlichen wird oft damit begründet, dass dadurch die Chancengerechtigkeit besser gewährleistet sei. Dies trifft zwar bezogen auf Kinder aus bildungsbenachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Immigrantenkinder und Kinder aus Arbeiterfamilien zu. Aber gleichzeitig besteht die Gefahr, dass der Wert eines Menschen immer stärker am Kriterium der biologischen Ausstattung mit Begabung gemessen wird. Dies kann die Integrationsidee als Inklusion zerstören und die Verehrung einer Elite von Leistungsstarken sowie die Abwertung von durch Bildung nicht veränderbaren Leistungsschwachen begünstigen.
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VHN, 78. Jg., S. 2 - 7 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 2 Verträgt sich Chancengleichheit mit Integration? Urs Haeberlin Universität Freiburg/ Schweiz n Zusammenfassung: Die schulische Integration von bisher in Sonderschulen unterrichteten Kindern und Jugendlichen wird oft damit begründet, dass dadurch die Chancengerechtigkeit besser gewährleistet sei. Dies trifft zwar bezogen auf Kinder aus bildungsbenachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Immigrantenkinder und Kinder aus Arbeiterfamilien zu. Aber gleichzeitig besteht die Gefahr, dass der Wert eines Menschen immer stärker am Kriterium der biologischen Ausstattung mit Begabung gemessen wird. Dies kann die Integrationsidee als Inklusion zerstören und die Verehrung einer Elite von Leistungsstarken sowie die Abwertung von durch Bildung nicht veränderbaren Leistungsschwachen begünstigen. Schlüsselbegriffe: Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit, Integration, Inklusion Does Equal Opportunity Get Along with Integration? n Summary: Integrative schooling of children and youths, formerly taught in special classes is often justified with a better equity of chances. In fact this is true for children of underprivileged population groups such as children of immigrant families or children of unskilled parents. However there is a danger that the value of an individual is increasingly judged by his/ her biological endowment. This may annihilate the integrative idea of inclusion and it may on the one hand promote the reference for an elite of high-performers and on the other hand abet the devaluation of under-performing learners, whose inefficiency cannot be influenced by (school) education. Keywords: Equal opportunities, equity of chances, integration, inclusion Das provokative Essay 1 Chancengleichheit im Bildungswesen In der bildungspolitischen Diskussion dominiert weitgehend die Frage, welcher Bildungsabschluss den Weg zu einem lukrativen Beruf und zu einem angesehenen gesellschaftlichen Status ebnet. Gebildet-Sein dient oft der Rechtfertigung von beruflicher und gesellschaftlicher Privilegierung. Im Sozialbericht 2006 der deutschen Arbeiterwohlfahrt heißt es beispielsweise: „Bildung ist der entscheidende Faktor für individuelle und gesellschaftliche Zukunftschancen“ (Reckmann 2006, 20). Die Kritik am Bildungssystem als ungerechte Institution der Vergabe von Berufschancen und der Ruf nach Veränderungen zwecks Herstellung von Chancengerechtigkeit sind mediale Leitthemen geworden. „Ausschöpfung von Begabungsreserven“ war bereits in den 1960er Jahren zum politischen Schlagwort geworden. Mit einer wirksameren Förderung Begabter sollte vermehrt Elitenachwuchs für Forschung und Sicherung des Technologiefortschritts produziert werden. In diesem Kontext entstand auch das bildungspolitische Postulat der „Verwirklichung von mehr Chancengleichheit“. Heute ist es zu einem von links bis rechts konsensfähigen Postulat geworden. Gemeint ist damit in der Regel die Gleichheit der Chancen beim Erreichen der nach wie vor von einer exklusiven Bildungsschicht geprägten schulischen Standards. Das Postulat fordert eine zur Gesamtverteilung der sozialen und ethnischen Bevölkerungsgruppen sowie der Männer und Frauen proportionale Verteilung der Kinder und Jugendlichen in den Schultypen mit unterschiedlichen Ansprüchen VHN 1/ 2009 3 Verträgt sich Chancengleichheit mit Integration? und beruflichen Aussichten. Von den in den sechziger Jahren aufgedeckten Chancenungerechtigkeiten haben sich einige bis heute erhalten, andere verschoben. Besonders ausgeprägt sind die Verschiebung der Bildungsbenachteiligung auf die Gruppe der Immigrantenkinder und der deutlich erhöhte Anteil der weiblichen Jugend in den Gymnasien (Haeberlin/ Imdorf/ Kronig 2004; Kronig/ Haeberlin/ Eckhart 2007). 2 Sonder- und Hauptschule als Orte der Chancenungerechtigkeit Der weitaus größte Teil der Kinder und Jugendlichen mit „Sonderpädagogischem Förderbedarf“ befindet sich in den Sonderschulen für Lernbehinderte. Bereits Ende der 1960er Jahre war belegt, dass in diesem Sonderschultyp - damals „Hilfsschule“ genannt - 80 bis 90 Prozent der Schüler aus Arbeiterfamilien stammten. 1970 hatte deshalb Begemann den Hilfsschüler als „sozio-kulturell benachteiligt“ charakterisiert (Begemann 1970). Im Verlaufe unseres in den 1980er Jahren gestarteten Freiburger INTSEP- Forschungsprogramms zeigten sich deutliche Veränderungen bezüglich sozialer Herkunft der Schüler in (schweizerischen) Sonderklassen für Lernbehinderte (Haeberlin/ Bless/ Moser/ Klaghofer 2003; Haeberlin/ Imdorf/ Kronig 2004; Kronig/ Haeberlin/ Eckhart 2007; Kronig 2007). Ende der achtziger Jahre begann der Anteil an Immigrantenkindern in den Sonderklassen für Lernbehinderte rasant anzusteigen. Bis 1998 hatte sich ihr Anteil gegenüber 1980 verdreifacht. Da die Zunahme der Immigrantenkinder in den Regelklassen weit weniger stark war, ist der Befund in den Sonderklassen für Lernbehinderte nicht einfach aufgrund einer größeren Zuwanderung von Ausländern erklärbar. Im gleichen Zeitraum hatten die einheimischen Kinder in Sonderklassen für Lernbehinderte um ein Viertel abgenommen. Bedingt durch die Zunahme der Einweisungen von Immigrantenkindern ist die Zahl der Sonderschulklassen nicht nur konstant geblieben, sondern um fast 30 Prozent angestiegen. Entsprechende Entwicklungen sind in den deutschen Sonderschulen für Lernbehinderte beobachtet worden (Kornmann/ Burgard/ Eichling 1999; Kornmann/ Klingele/ Iriogbe-Ganninger 1997; Kornmann/ Klingele 1996). Sonderschulzuweisung erweist sich als Instrument für den Umgang mit sich ändernden gesellschaftlichen Problemen, welche auf die Schule abfärben. Sie unterstützt die Legitimation und Reproduktion von sozialer Ungleichheit und damit von Chancenungerechtigkeit. Dies gilt allerdings nicht nur isoliert für die Sonderschule für Lernbehinderte, sondern für die gesamte Selektion in die Schulzüge unseres Schulsystems. Deshalb ist die Meinung falsch, dass sich mit einer Integration der Sonderschüler in die Regelschule alles zum „Besseren“ wende. Schule als staatlich finanzierte pädagogische Einrichtung hatte in der kapitalistischen Gesellschaft der Neuzeit unter anderem schon immer die Aufgabe, die jeweilige Gesellschaftsstruktur zu sichern und zu rechtfertigen (Diederich/ Tenorth 1997; Fend 1980). Als Folge der Globalisierung der Märkte und der Kommunikationsmittel sowie des Gebrauchs neuer Technologien hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Kapitalismus zum „Flexiblen Kapitalismus“ gewandelt (Haeberlin 2005, 60ff; Sennett 2000). Die sozialen Positionierungen sind nun weniger transparent und weniger stabil als noch vor zwei bis drei Jahrzehnten. Höhere Schulbildung und akademische Bildungstitel haben den Charakter einer Statusversicherung verloren, aber sie sind Voraussetzung dafür geblieben, überhaupt Chancen für Statusgewinn haben zu können. Für Abgänger von Sonderschulen für Lernbehinderte und von Hauptschulen hat sich im flexiblen Kapitalismus die berufliche Perspektive nicht verbessert, sondern weiter verdüstert. Diese Schulzweige bereiten heute insbesondere Immigrantenkinder wie früher Arbeiterkinder auf soziale Benachteiligung nach dem Schulaustritt vor und sollen möglichst die soziale Ruhe trotz Chancenungerechtigkeit durch internali- VHN 1/ 2009 4 Urs Haeberlin sierte Rechtfertigung der eigenen Benachteiligung sichern. Die relative Zufriedenheit ehemaliger Schüler aus Sonderschulen für Lernbehinderte mit ihrer beruflichen Benachteiligung (Riedo 2000) belegt, dass die Sonderschule ihre Integrations- und Legitimationsfunktion besser zu erfüllen scheint, als dies ein integrierendes Schulsystem täte. So wird politisch erklärbar, warum trotz der pädagogischen Integrationsbewegung der Anteil der Sonderschulen und Sonderschüler nicht abnimmt. Aus allgemeiner schul- und gesellschaftstheoretischer Sicht greift isolierte Sonderschulforschung zu kurz. Unser INTSEP-Forschungsprogramm (Überblick: http: / / www.schule-integ ration.ch/ 4_Information/ IntSep_Programm.pdf sowie http: / / www.urshaeberlin.ch>Forschung) musste sich zwangsläufig von dieser Begrenzung lösen und sich auf Untersuchungen zur Situation von Immigrantenkindern in weiteren Teilen der Schule sowie beim Übergang ins Berufsleben ausweiten. Und es zeigten sich verschiedene weitere Dimensionen der Chancenungerechtigkeit für Immigrantenkinder. Die Wahrscheinlichkeit für eine Übertrittsempfehlung in einen weiterführenden Schulzweig erwies sich für ausländische Jugendliche als bedeutend geringer als für einheimische Jugendliche, wobei Geschlecht und Sozialstatus ebenfalls eine Rolle spielten. Die Überrepräsentation ausländischer Jugendlicher nimmt nicht nur in den Sonderklassen, sondern auch in der schweizerischen Realschule (entspricht in etwa der Hauptschule in Deutschland) laufend zu. Heute besucht die Hälfte der ausländischen gegenüber einem Viertel der Schweizer Jugendlichen nach der Grundschule eine Realschule. Besonders betroffen von der Chancenungerechtigkeit waren in der Schweiz in den Neunzigerjahren die Schüler und Schülerinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien (Imdorf 2001). Dass Immigrantenkinder besonders stark von Chancenungerechtigkeit betroffen sind, zeigt sich denn auch beim Übertritt von der Schule ins Berufsleben (Haeberlin/ Imdorf/ Kronig 2005, 2004; Imdorf 2008, 2007 a, 2007 b, 2006, 2005). Sie sind bei der Lehrstellensuche sogar noch dann benachteiligt, wenn sie einen üblicherweise Erfolg versprechenden Sekundarschulzug besucht haben. Unter den Abgängern aller Sekundarschulzüge haben die einheimischen männlichen Jugendlichen die besten Lehrstellenchancen, ausländische Jugendliche, am ausgeprägtesten jene der ersten Generation, die geringsten. Die schlechten Lehrstellenchancen ausländischer Jugendlicher lassen sich selten mit mangelnden Schul- und Sprachleistungen erklären (Imdorf 2005). In unseren Interviews mit Lehrlingsverantwortlichen in Betrieben kehrte immer wieder ein ähnlich lautender Satz wieder: „Wissen Sie, wir haben nichts gegen Ausländer, aber …“ (Imdorf 2007 a, 2007 c). Danach wiesen die Interviewpartner auf Probleme hin, die bei der Einstellung von „Ausländern“ zu befürchten seien. Bei den am häufigsten als Gründe genannten sprachlichen und schulischen Defiziten handelt es sich nachweislich um Scheinargumente. Die Ergebnisse der von uns durchgeführten Schulleistungs- und Sprachtests zeigten, dass ausländische Bewerber oft gleich gut oder besser Deutsch sprachen und gleiche oder bessere Schulleistungen zeigten als Bewerber aus einheimischen Familien. Aufgrund der Benachteiligung von Jugendlichen aus Immigrantenfamilien bei der Lehrstellensuche geraten diese jungen Menschen in einen eigentlichen Teufelskreis: Sie müssen sich häufiger bewerben als inländische Jugendliche. In der Folge werden Bewerbungen unsorgfältiger und weniger motiviert gestaltet. Es werden Bewerbungen auf räumlich immer weiter entfernte Stellen notwendig; aber die Ausbildungsbetriebe stellen am liebsten Lernende aus der näheren Umgebung ein. Der erfolglose Bewerbungsprozess erreicht einen Zeitpunkt, zu welchem im Jahresverlauf bereits viele Lehrstellen vergeben sind. Damit verkleinern sich die Chancen weiter. Schließlich bleibt den Betroffenen nichts anderes übrig, als sich auf ein unspezifisch breites Spektrum von Berufen zu bewerben, was aus betrieblicher Sicht als fehlendes Interesse VHN 1/ 2009 5 Verträgt sich Chancengleichheit mit Integration? und als mangelnde Berufswahlreife gedeutet wird. Die Chancenungerechtigkeit wird zur Chancenlosigkeit (vgl. zu diesem Absatz: Imdorf 2007 a, 2007 c). 3 Gefahren der Verbindung von Chancengerechtigkeit mit Integration Chancengerechtigkeit im Sinne der aktuellen Bildungspolitik wäre realisiert, wenn sich die schulische und berufliche Selektion durch landes-, europa- oder gar weltweit standardisierte Begabungs- und Leistungsdiagnostik von allen bekannten Herkunfts-, Geschlechts- und sonstigen Umweltbarrieren abkoppeln ließe. Die Positionierung jedes Individuums in gesellschaftlicher Ungleichheit wäre allein durch dessen Begabung und Tüchtigkeit legitimiert. Als Erklärungsmöglichkeit für gesellschaftliche Ungleichheit bliebe dann nur die biologische Ausstattung mit besserer oder schlechterer Begabung. Genetik würde zum Schlüssel für gute und schlechte Chancen im Wettlauf um gesellschaftlichen Status. Gerechtigkeit der Bildungschancen bleibt mit Selektion von gesellschaftlichen Gewinnern und Verlierern verknüpft. Aber die Konzentration auf die biologische Begabungsausstattung verändert die Konkurrenzverhältnisse. Jede Gewinnerin verlangt einen männlichen Verlierer. Jeder Gewinner und jede Gewinnerin aus einer Arbeiterfamilie verlangt einen Verlierer oder eine Verliererin aus der bisherigen sozialen Mittel-/ Oberschicht. Jeder Gewinner und jede Gewinnerin aus einer Immigrantenfamilie verlangt einen Verlierer oder eine Verliererin aus einer Familie mit heimischen Wurzeln. Angesichts der von der Forschung nachgewiesenen und publik gemachten schulischen und beruflichen Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus Arbeiterfamilien und heute noch in weit höherem Maße aus Immigrantenfamilien erhält das Chancengleichheitspostulat zunehmende politische Brisanz. Es ist abzusehen, dass herkunfts- und kulturbedingte Chancenungleichheit von Betroffenen mit zunehmendem Unwillen als moralische Ungerechtigkeit interpretiert werden wird. Die Zustimmung in den meisten Parteiprogrammen zum Chancengleichheitspostulat wird sich leicht mit der Zustimmung der aus anderen Kulturkreisen zugezogenen Immigranten - einem wachsenden parteipolitischen Potenzial - verbinden. So kann sich ein bildungs- und gesellschaftspolitisches Ziel etablieren, das trotz der zunehmenden Kulturenheterogenität allgemein anerkannt wird. Als Ideologie der Gerechtigkeit bezüglich Verteilung von Bildungs-, Berufs- und Statuschancen erhält Chancengerechtigkeit moralische Legitimierung und kann so die sonst auseinanderdriftenden kulturellen Wertsysteme zusammenhalten. Die kulturverbindende Ideologie ist genährt vom Glauben an meritokratische Selektion und Allokation im Bildungswesen und im Berufswesen. Als Indikatoren für Fortschritte zur Gerechtigkeit gelten in Relation zum Anteil in der Gesamtbevölkerung wachsende Anteile von Kindern aus Arbeiterfamilien und Immigrantenfamilien sowie von Frauen in den weiterführenden Schulen und in höheren beruflichen Positionen. Das biologische Prinzip der ererbten Begabung und Tüchtigkeit verbindet zunehmend das Denken von Menschen aus sonst unterschiedlichen Lebenswelt- und Kulturzusammenhängen. Die verbindende Meinung lautet: Wer trotz bester Förderung den Schritt in nach oben weisende Bildungswege und Berufslaufbahnen nicht schafft, den hat die biologisch-genetische Ausstattung nicht zu mehr befähigt und der hat deshalb nicht mehr verdient. Aber es gibt auch Kinder - ich denke insbesondere auch an jene mit geistiger, psychischer und mehrfacher Behinderung -, deren auf schulische Inhalte bezogener Förderung engste Grenzen gesetzt sind, die oft die in der Schule vermittelten Kulturtechniken gar nicht erlernen, ja, manchmal nicht einmal die die Kultur prägende Sprache erwerben können. Sie drohen zu Opfern des politischen Konsenses und zur Restgruppe der „Minderbegabten“ zu VHN 1/ 2009 6 Urs Haeberlin werden. Ihre Resistenz gegen schulische Förderung wird als genetischer Defekt negativ gewertet. Die in unserer Kultur schon immer schlecht verankerte Idee ihrer Gleichwertigkeit mit allen anderen Menschen droht sich erneut zu verflüchtigen. Schon lauert wieder das Gespenst der „Nicht-Bildbarkeit“. Die Diskussion der Frage nach gesellschaftlichem Nutzen und in der Folge nach Lebensrecht von Behinderten wird wieder einmal gesellschaftsfähig. Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit der Frage einer Bildungspolitik für die im Kampf um Chancengleichheit Chancenlosen auseinanderzusetzen beginnen, damit das ungewollte Abdriften in eine barbarische Kultur der Leistungsstarken noch rechtzeitig verhindert werden kann. Aus den skizzierten Überlegungen ergibt sich das folgende Fazit: Das Postulat der Chancengleichheit ermöglicht zwar kulturelle Integration auf der Grundlage einer biologistisch fundierten Leistungsideologie. Aber die Verbindung von Integration und Chancengleichheit kann die Entwertung jener zur Folge haben, welche sich in die Kultur des flexiblen Kapitalismus nicht einfügen können, weil sie mit den erforderlichen Fähigkeiten zu wenig ausgestattet sind. Damit wird Integration zu einem zwiespältigen Begriff. Ursprünglich meinten viele Idealisten mit „Integration“ den Einbezug aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in Bildungs- und Lebensgemeinschaften, in welchen jeder und jede bei aller Verschiedenheit als Partner geachtet ist. Dass nun einige Sonderpädagogen bereits wieder „Integrationspädagogik“ in „Inklusionspädagogik“ umtaufen wollen, hat mit der Zwiespältigkeit des Integrationsbegriffs zu tun. „Inklusion“ soll verstärkt die ethische Dimension betonen, welche im Integrationsbegriff verloren zu gehen droht. Die inklusionspädagogische Vision erfordert eigentlich in erster Linie eine Revision des traditionellen europäischen Bildungsbegriffs hin zu einem basalen Verständnis von Bildung und eine Entkoppelung vom Postulat der Chancengleichheit. Im Zentrum einer basal verstandenen Bildung stehen Pflege und Reifenlassen von zwischenmenschlichen Beziehungen. Darauf aufbauende Merkmale wie kognitives Lernen, Sprache, kulturelles Tun sowie beruflicher und materieller Erfolg dürfen nicht weiterhin Bewertungskriterien für Gebildetsein und für wertvolleres Menschsein sein. Immer wieder hat sich in der Geschichte Europas gezeigt, dass Bildung mit ihrer normativen Bindung an Sprache, Kulturtechniken, kulturelle Wertungen und gesellschaftliches Ansehen angeblich „ungebildete“ und „nicht bildbare“ Menschen entwertet. Daran müssen wir vermehrt denken, wenn wir voreilig Chancengerechtigkeit mit Integration und Inklusion in bildungspolitischen Programmen zusammenführen. Literatur Begemann, Ernst (1970): Die Erziehung der soziokulturell benachteiligten Schüler. Hannover: Schroedel Diederich, Jürgen; Tenorth, Heinz-Elmar (1997): Theorie der Schule. Ein Studienbuch zu Geschichte, Funktionen und Gestaltung. Berlin: Cornelsen Fend, Helmuth (1980): Theorie der Schule. München: Urban und Schwarzenberg Haeberlin, Urs (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. UTB 2631. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Haeberlin, Urs; Imdorf, Christian; Kronig, Winfried (2005): Verzerrte Chancen auf dem Lehrstellenmarkt. Untersuchungen zu Benachteiligungen von ausländischen und von weiblichen Jugendlichen bei der Suche nach beruflichen Ausbildungsplätzen in der Schweiz. In: Zeitschrift für Pädagogik 51, 116 - 134 Haeberlin, Urs; Imdorf, Christian; Kronig, Winfried (2004): Von der Schule in die Berufslehre. Untersuchungen zur Benachteiligung von ausländischen und von weiblichen Jugendlichen bei der Lehrstellensuche. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Haeberlin, Urs; Bless, Gérard; Moser, Urs; Klaghofer, Richard (2003): Die Integration von Lernbehinderten. 4. Aufl. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Imdorf, Christian (2008): Der Ausschluss „ausländischer“ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl - ein Fall von institutioneller Diskriminierung? VHN 1/ 2009 7 Verträgt sich Chancengleichheit mit Integration? In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Frankfurt a. M.: Campus Imdorf, Christian (2007 a): Weshalb ausländische Jugendliche besonders große Probleme haben, eine Lehrstelle zu finden. In: Grunder, Hans- Ulrich; von Mandach, Laura (Hrsg.): Auswählen und ausgewählt werden. Integration und Ausschluss von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Schule und Beruf. Zürich: Seismo, 100 - 111 Imdorf, Christian (2007 b): Die Bedeutung sonderpädagogischer Bildungstitel bei der Lehrstellenvergabe in KMU. In: VHN 76, 165 - 167 Imdorf, Christian (2007 c): Lehrlingsselektion in KMU. Kurzbericht zu den Forschungsergebnissen. http: / / www.lehrlingsselektion.de/ documents/ selektion_d.pdf Imdorf, Christian (2006): Der Ausschluss „ausländischer“ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl. Ein Fall von institutioneller Diskriminierung? Working paper: http: / / www.lehrlingsselektion. ch/ documents/ Imdorf_DGS06.pdf Imdorf, Christian (2005): Schulqualifikation und Berufsfindung. Wie Geschlecht und nationale Herkunft den Übergang in die Berufsbildung strukturieren. Wiesbaden: VS-Verlag Imdorf, Christian (2001): Von der Schulbank in die Berufswelt - Ungleiche schulische und berufliche Integration von in- und ausländischen Jugendlichen auf den Sekundarstufen I und II. In: VHN 70, 256 - 267 Kornmann, Reimer; Burgard, Peter; Eichling, Hans- Martin (1999): Zur Überrepräsentation von ausländischen Kindern und Jugendlichen in Schulen für Lernbehinderte. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 50, 106 - 109 Kornmann, Reimer; Klingele Christoph; Iriogbe- Ganninger, Julian (1997): Zur Überrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher in Schulen für Lernbehinderte: Der alarmierende Trend hält an! In: Zeitschrift für Heilpädagogik 48, 203 - 207 Kornmann, Reimer; Klingele, Christoph (1996): Ausländische Kinder und Jugendliche an Schulen für Lernbehinderte in den alten Bundesländern: noch immer erheblich überrepräsentiert und dies mit steigender Tendenz. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 47, 2 - 9 Kronig, Winfried (2007): Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs - Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Kronig, Winfried; Haeberlin, Urs; Eckhart, Michael (2007): Immigrantenkinder und schulische Selektion. 2. Aufl. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Reckmann, Christian (2006): Streitschrift Bildung: Warum und wofür wir streiten. In: AWO Bundesverband e.V. (Hrsg.): Chancengerechtigkeit durch Bildung - Chancengerechtigkeit in der Bildung. Bausteine einer sozialen Bildungspolitik. Essen: Klartext-Verlag, 17 - 28 Riedo, Dominicq (2000): „Ich war früher ein sehr schlechter Schüler …“. Schule, Beruf und Ausbildungswege aus der Sicht ehemals schulleistungsschwacher junger Erwachsener. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Sennett, Richard (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, Ausgabe 2006 Prof. Dr. Urs Haeberlin Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ Schweiz Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: urs.haeberlin@unifr.ch
