eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Trend: Chancengleichheit und Integration als Chance

11
2009
Emil E. Kobi
(Bildungs-)Chancen sind Angebote zur persönlichen Daseinsgestaltung. Sie sollen frei sein von sachfremden Vorbehalten (z. B. bzgl. Geschlecht, Ethnie, Glaube, Rasse, Staatsangehörigkeit, Finanzen) und sich nach der personalen Potenz, Kompetenz, Performanz und Motivation dieses konkreten Menschen ausrichten, der hier und jetzt ein Lernziel anvisiert. Reelle und reale Chancen sind nicht im egalitären Sinne gleich, sondern der jeweiligen „Individuallage“ (Pestalozzi) angemessen. Sie sind ferner, den sich wandelnden Entwicklungsgegebenheiten und Kontextverhältnissen gemäß, wiederholt anzubieten. Gleiches gilt für Ausstiegsszenarien aus missglückten Lebensformen (Suchtverhalten, Schuldenwirtschaft, Beziehungsverstrickungen etc.). Chancengleichheit ist nicht Ergebnisgleichheit; die zielführende personale Anstrengungsbereitschaft bleibt ständiges Erfordernis. Wem eine Chance geboten wird, ist gehalten, diese zu ergreifen, sich führen, begleiten, assistieren, korrigieren …- zu lassen und Tatbeweise zu erbringen, die zeigen, dass er willens ist, auf der Zielstrecke zu bleiben. Wer ein Angebot verschmäht oder aufgibt, vertut damit stets seine Chance. Unsere heutige Bildungslandschaft bietet, im Vergleich zu früher, eine imposante, weit über das Jugendalter hinaus reichende Chancen-Vielfalt für Um- und Neuorientierungen.
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55 VHN, 78. Jg., S. 55 - 57 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Chancengleichheit und Integration als Chance Sieben Thesen zu einigen zentralen Stichworten im Essay von Urs Haeberlin „Verträgt sich Chancengleichheit mit Integration? “ Emil E. Kobi Luzern Trend I. (Bildungs-)Chancen sind Angebote zur persönlichen Daseinsgestaltung. Sie sollen frei sein von sachfremden Vorbehalten (z. B. bzgl. Geschlecht, Ethnie, Glaube, Rasse, Staatsangehörigkeit, Finanzen) und sich nach der personalen Potenz, Kompetenz, Performanz und Motivation dieses konkreten Menschen ausrichten, der hier und jetzt ein Lernziel anvisiert. Reelle und reale Chancen sind nicht im egalitären Sinne gleich, sondern der jeweiligen „Individuallage“ (Pestalozzi) angemessen. Sie sind ferner, den sich wandelnden Entwicklungsgegebenheiten und Kontextverhältnissen gemäß, wiederholt anzubieten. Gleiches gilt für Ausstiegsszenarien aus missglückten Lebensformen (Suchtverhalten, Schuldenwirtschaft, Beziehungsverstrickungen etc.). Chancengleichheit ist nicht Ergebnisgleichheit; die zielführende personale Anstrengungsbereitschaft bleibt ständiges Erfordernis. Wem eine Chance geboten wird, ist gehalten, diese zu ergreifen, sich führen, begleiten, assistieren, korrigieren … zu lassen und Tatbeweise zu erbringen, die zeigen, dass er willens ist, auf der Zielstrecke zu bleiben. Wer ein Angebot verschmäht oder aufgibt, vertut damit stets seine Chance. Unsere heutige Bildungslandschaft bietet, im Vergleich zu früher, eine imposante, weit über das Jugendalter hinaus reichende Chancen-Vielfalt für Um- und Neuorientierungen. II. Ausländer und Immigrant sind weder pädagogische Begriffe noch schulisch brauchbare Kategorien. Sozialpolitische Bedeutung erhalten sie erst aufgrund quantitativer und qualitativer Differenzen zum Kontext einer bestimmten Residenzgesellschaft und innerhalb dieser zu einem konkreten Subsystem wie z. B. dem Schulwesen. Die Begriffe sind ferner zu profilieren: „Ausländer“ nach Nationen, „Immigrant“ nach Motiv und Absicht und beide nach sozial bedeutsamen Attributen wie: Schicht-/ Berufszugehörigkeit, Bildungsniveau, Geschlecht, Alter, kulturelle Verwurzelung, Erfahrungshintergrund. Damit öffnet sich ein breites Spektrum von Jürgen, dem deutschen Gymnasiasten, dessen Vater als Chefarzt berufen wurde, bis zu Hosni aus Somalia, deren Mutter um Asyl ersucht. Ausländer und Immigranten beide! Studien, die lediglich auf Zolldeklarationen fußen, sind (schul-)pädagogisch wertlos. III. Es fragt sich, ob Arbeiter und (internationale) Arbeiterklasse von anno Marx de facto und bezüglich Selbstverständnis noch existent sind. Hisst doch der Facharbeiter als verbürgerlichter Angestellter sogar die Landesfahne in seinem Gärtchen. Desgleichen hat sich das altsozialistische, durch Armut und Rechtsbeschneidung gekennzeichnete Proletariat zum strukturdefizienten und desorientierten Prekariat gewandelt, dessen Not nicht mehr in erster Linie ökonomischer Natur, sondern ökologischer Kultur ist und dessen brokenhome- und patchwork-Verhältnisse wesentlich komplexere, vor allem agogische Anforderungen stellen, als sie Suppenküchen zu bewältigen vermögen. VHN 1/ 2009 56 Emil E. Kobi IV. Pädagogen waren seit je Kulturbeauftragte im Dienste der herrschenden Gesellschaftseliten. Abendländische Pädagogik stand als Exekutivorgan noch bis ins 19. Jh. unter kirchlicher Obhut, und Schulmeister pflegten entsprechend von Pfarrherren inspiziert zu werden. Freiräume boten erst demokratische Strukturen und ergeben sich heute durch Konkurrenz in der Vielheit der Auftraggeber von Staaten, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Verbänden, Elternschaften … Angesichts der gigantischen Bildungsbürokratie ist ferner Luhmann beizupflichten (Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt 1988, 378), der der Pädagogik den Wissenschaftscharakter aberkennt und sie der Verwaltungslehre zuordnet. Staatlich alimentierte Bildungsverwalter sind heute fleißig damit befasst, dem Parteien übergreifenden Credo progressiver Ausbeutung kindhafter Human- Ressourcen nachzuleben. Vor dem Hintergrund dieser Obsession mag denn die Erfahrung besonders stoßend sein, dass Schule nicht in allen Kulturen dermaßen zentral positioniert wird wie in unsern Breitengraden, wo der forsche Blick nach vorn vergessen lässt, dass Teile unserer Bauernsame lange Zeit nicht erfreut waren ob der Allgemeinen Schulpflicht, die sich denn auch nur zähflüssig durchsetzte. Heute ist es das Gewerbe, das der forcierten Akademisierung mit zunehmendem Misstrauen begegnet. So dürfte die Frage gestattet sein, ob Gymnasialbildung denn - außerhalb der Funktionärselite - tatsächlich eine Himmelsleiter, ein Maturitätszeugnis Eintrittsticket in ein universitäres Paradies, ein akademischer Titel Zierde fürs ganze Leben sei? Mondiale „Bolognisierung“ der Bildung? Mit lohnenden Zielen auch fürs „Lumpenproletariat“ (Kommunistisches Manifest) oder kleinbürgerliche Projektion? V. Die gleichfalls dem Egalitarismus entsprungene Idee, kulturfreie Beurteilungen vornehmen zu können, erwies sich - vor Jahrzehnten bereits in der Test-Psychologie - als naiv. Kulturelle Einflüsse können nicht ausgeklammert werden; sie sind, ganz im Gegenteil, pädagogisch zu thematisieren. Dies ist auch notwendig, um den (z. B. christlich abendländischen) Ethnozentrismus und Kulturimperialismus reflektierend in Grenzen zu halten und so eine Fremdkultur, trotz abweichender Lebensformen, existenziell würdigen zu können. VI. Die von Haeberlin in Frage gestellte Vereinbarkeit von Integration und Chancengleichheit würde meines Erachtens dadurch ermöglicht, dass Integration als Chance und nicht in ideologischer Verzwängtheit als alternativloser, identitätsbedrängender Wert „an sich“ verstanden wird. Lautete die bittere Lebensweisheit unter den Siedlern der Neuen Welt einst: Der ersten Generation der Tod, der zweiten die Not, der dritten das Brot! ist man heutzutage im Bestreben, Immigranten in schulischen Durchlauferhitzern Instant-Lösungen zuzumuten, beim Gegenextrem angelangt. Doch kritische Stimmen werden präventiv in pedagogical correctness erstickt. So blieb es neulich dem türkischen Präsidenten Erdogan vorbehalten, integrationistischen (Alb-)Traumtänzereien Luft abzulassen mit der Aufforderung an seine Landsleute in Deutschland: „Lernt Deutsch, aber bleibt Türken! “ VII. Heilpädagogik bewegt sich aus historischen Gründen noch zu sehr auf dem Schlappseil zwischen Medizin und Theologie: Sie verfällt immer wieder dem Bann materialistischer Attraktoren (wie aktuell der Neurophysiologie) oder glaubt sich mit parareligiösem Gutmenschentum unterfüttern zu müssen. Ihr Thema und Ansprechpartner bleibt jedoch, so sie tatsächlich Päd-Agogik sein will, die menschliche Person im Kontext des naturhaft Gegebenen und kulturell Aufgegebenen. Sie hat entsprechend, in der Art der modernen Ethnologie, voranzuschreiten in Richtung einer Kulturanthropologie des Behindertseins. Als solche sucht sie ihr Aus- und Fortkommen im Schatten der Leitkultur und beschäftigt sich mit der Kultivation des befremdlich Kulturwidrigen. Sie ist dezi- VHN 1/ 2009 57 Chancengleichheit dierte und programmatische Solidarität bis zu den Extremen des als sinn-, wert-, zwecklos und mithin verzichtbar Geltenden. Die Ursachenfrage ist dabei motivational ohne Belang und bio-physisch bedingte Einschränkungen pädagogisch ohne klassifikatorische Bedeutung. Gemeinsame, verwandtschaftlich artgemäße (d. h. diesfalls: humane) Daseinsgestaltung bleibt für die Heilpädagogik, wo und wann auch immer, immanenter kultivatorischer Auftrag. Vertiefungen dieser Gedanken findet man in folgenden Publikationen des Autors: Grundfragen der Heilpädagogik. 6., ergänzte Aufl. (Berlin 2004); Kulturhindernde Existenzen und Leiden als kultureller Stimulus. In: Greving, H. u. a. (Hrsg.): Zeichen und Gesten - Heilpädagogik als Kulturthema (Giessen 2004); Inklusion: Ein pädagogischer Mythos? In: Dederich, M. u. a. (Hrsg.): Inklusion statt Integration? (Giessen 2006); Daseinsgestaltung. In: Greving, H.: Kompendium der Heilpädagogik, Bd. I und II (Troisdorf 2007). PD Dr. Emil E. Kobi Unter-Geissenstein 8 CH-6005 Luzern