eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete78/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte (1/09)

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Menschen mit Behinderung zwischen Abhängigkeit und Autonomie – Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubewertung
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VHN 1/ 2009 65 Aktuelle Forschungsprojekte Menschen mit Behinderung zwischen Abhängigkeit und Autonomie - Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubewertung Hilke Harmel Technische Universität Dortmund Beim nachfolgend vorgestellten Forschungsprojekt handelt es sich um ein Dissertationsvorhaben an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften (Lehrstuhl für Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung) der Technischen Universität Dortmund. Forschungshintergrund Ausgangspunkt des Projektes bildet das Interesse an dem thematischen Zusammenhang von Selbstbestimmung, Fremdbestimmung und Behinderung und eine im Rahmen des ersten Staatsexamens verfasste Hausarbeit zum Thema „Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“. In dieser Arbeit wurde ein erster Versuch unternommen, die Hauptbegriffe aus verschiedenen Perspektiven zu klären. Unter anderem ergab diese erste Analyse, dass die Begriffe in der Literatur der Behindertenpädagogik i. d. R. als Gegensätze verstanden werden, wobei Selbstbestimmung als eine Art Kampfbegriff gegen die als problematisch aufgefassten analysierten Begriffe Fremdbestimmung und Abhängigkeit fungiert. Die Arbeit versuchte, diese dichotome Darstellung kritisch zu betrachten, in Graubereiche, die in dieser Gegenüberstellung nicht bedacht werden, hineinzufragen, um letztlich den vorgefundenen Dualismus zu untergraben und ein Denken im Zwischenraum von Selbst- und Fremdbestimmung vorzuschlagen. Der angedeutete Zusammenhang ist für die Behindertenpädagogik spätestens seit Martin Th. Hahn, der 1981 Behinderung als ein „Mehr an sozialer Abhängigkeit“ definierte, ein diskussionswürdiges Problem. Forschungsfragen Eine intensivere Beschäftigung mit der Thematik führte zu der Frage nach dem menschlichen Subjekt, ließ außerdem weiterführende Fragen aufkommen, die in dem hier beschriebenen Forschungsprojekt thematisiert und diskutiert werden und wie folgt lauten: n Warum kommt es in der Literatur der Behindertenpädagogik zu einer einseitigen Betrachtung und zu einer positiven Überbetonung von Autonomie und Selbstbestimmung? n Welche Problematik ergibt sich aus dieser Darstellung, d. h. in welchen Zusammenhängen ist diese theoretisch und praktisch fruchtbar, in welcher Hinsicht führt sie zu einem unvollständigen Bild des Menschen, überfordert und verfehlt ihn letztlich? n Welche Möglichkeiten ergeben sich für betroffene Menschen mit Behinderung aus einer Überwindung der dualistischen Darstellung des Verhältnisses von Abhängigkeit und Autonomie? n Welche Veränderungen zeigen sich in einem Zusammendenken von Abhängigkeit und Autonomie für (professionelle) Menschen mit Behinderung sowie für (professionelle) Menschen ohne Behinderung bzw. für die Behindertenpädagogik und -hilfe insgesamt? n Welche Veränderungen ergeben sich für die oft genannten, aber nicht eindeutig geklärten Grundbegriffe der Thematik? Forschungsvorgehen In der Dissertation soll zunächst der Fokus auf das menschliche Subjekt gerichtet werden. In einem historischen Abriss soll anhand ausgewählter philosophischer Texte die Geschichte des Subjekts in Bezug auf seine Autonomie kurz dargestellt werden. Erste Ergebnisse der Forschung zeigen, dass es in der Folgezeit der Aufklärung vor allem durch die Neuhumanisten zu einer Überbetonung von subjektiver Autonomie kommt, die u. a. eine Ineins-Setzung mit dem Selbstbestimmungsbegriff nach sich zieht. Der abhängige fremdbestimmte Teil des Menschen gerät in Vergessenheit. Außerdem sollen in diesem ersten Teil die aktuellen Anforderungen an das Subjekt in der heutigen Gesellschaft dargestellt werden. Dieser Teil möchte u. a. dazu dienen, die Bedeutung von subjektiver Autonomie und den Wert menschlicher Abhängigkeit herauszuarbeiten. Erste Ergebnisse zeigen hier, dass die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ein autonomes, souveränes, starkes, flexibles, selbstverantwortliches Subjekt braucht. In dieser Gesellschaft ist die Tendenz zu erkennen, Abhängigkeiten, Schwächen, Bedürftigkeit und Verletzlichkeiten auszublenden und Fremdbestimmungen erneut - und das ist ein weiteres Ergebnis erster Forschung - als störend anzusehen, obwohl sie real sind. VHN 1/ 2009 66 Aktuelle Forschungsprojekte Im weiteren Verlauf der Dissertation soll das Augenmerk auf Texte der Behindertenpädagogik gerichtet werden, welche die Hauptbegriffe Abhängigkeit und Autonomie bzw. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung thematisieren. Hier stellt sich die Frage, wie die Termini in Bezug auf Behinderung diskutiert werden und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Wie oben bereits erwähnt, wird sich zeigen, dass sich die Behindertenpädagogik in einer Alternative von Abhängigkeit und Autonomie bzw. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung verfängt. In diesem Kontext wird der Tatsache wenig Aufmerksamkeit zuteil, dass das menschliche Subjekt kein in erster Linie autonomes Wesen ist, das sich selber konstituiert, wie z. B. die Neuhumanisten behaupteten, sondern dass es vielmehr ein soziales, leibliches Wesen ist, das stets auf eine soziale und kulturelle Um- und Mitwelt bezogen und angewiesen bleibt. Erst im intersubjektiven Austausch formiert es sich als Subjekt. Autonomie ist aus dieser Perspektive nicht in Reinform zu erreichen, sondern bleibt eine Illusion (Käte Meyer-Drawe). Um die geplante Kritik an einer einseitigen Darstellung des Subjekts theoretisch zu untermauern, werden die phänomenologischen Arbeiten Käte Meyer-Drawes (z. B. ihr Buch „Illusionen von Autonomie - Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich“ [2000], sowie diverse andere von ihr verfasste Aufsätze und Artikel zur Thematik) herangezogen. Der Bezug zu den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Aspekten ihrer Arbeiten ist eine der gefundenen Spuren, die Begriffe Abhängigkeit und Autonomie nicht als Dualismus zu begreifen, sondern zusammen zu denken und damit an die Doppeldeutigkeit des Subjektes und seine Verwobenheit mit seinem Gegenüber und der Welt zu erinnern. Im Anschluss daran sollen die Ergebnisse der historischen Analyse des Autonomiebegriffes, die kritische Anschauung der Diskussion der Begriffe in der Literatur der Behindertenpädagogik und die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Meyer-Drawes auf die Behindertenpädagogik bzw. Behinderung zurückbezogen werden. Es sollen mögliche Folgen und Veränderungen für Menschen mit Behinderung und die Behindertenpädagogik und -hilfe herausgearbeitet und diskutiert werden. Die hier angesprochenen Aspekte betreffen unter anderem die Frage, welche Veränderungen ein Zusammendenken von menschlicher Abhängigkeit und menschlicher Autonomie in Bezug auf Aufgaben und Rollen von Pädagog/ innen, Betreuern/ innen, Assistenten/ innen, und Therapeuten/ innen ergeben bzw. welchen Einfluss ein solches Denken auf das Verhältnis von Lehrer/ innen und Schüler/ innen, Betreuer/ innen und Betreuten, Assistent/ innen und Assistenznehmenden hat. An diesem Punkt spielen Professionalisierungsfragen der angesprochenen Gruppen bzw. Personen eine zentrale Rolle. Veränderungen werden sich auch bezogen auf die Klärung der Hauptbegriffe Abhängigkeit, Autonomie, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung zeigen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Arbeit in keiner Weise beabsichtigt, die Relevanz von Selbstbestimmung für ein Leben zu bestreiten, vielmehr zielt sie auf ein differenzierteres, vollständigeres Bild des Zusammenhangs und letztlich des Menschen selber. Die theoretischen Ausführungen der Thematik berühren zum einen auch Fragen der ethischen Legitimierung von Fremdbestimmung in einer (moralischen) Erziehung, die ethisch legitime Nutzung von Macht in asymmetrischen Verhältnissen, die Legitimation von Stellvertretung sowie das Paternalismusproblem im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Zum anderen spricht die Arbeit eine erneute persönliche Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit von Menschen ohne Behinderung an, die vorhanden ist, obwohl das Zeigen dieser „Seite“ in einer Gesellschaft der Autonomie häufig als Manko gilt. Sie bleibt unüberwindbarer Teil eines jeden Menschen, eine Verdrängung bedeutet nur eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt, an dem sie zum Vorschein kommen wird. Weitere Informationen und Literaturangaben können angefordert werden bei hilke.harmel@web.de Effektivität kontextoptimierter Gruppentherapie als Frühtherapie spezifisch spracherwerbsgestörter Kinder - Interventionsstudie im luxemburgischen Sonderschulkindergarten Hans-Joachim Motsch, Marc Schmidt Universität zu Köln Theoretischer Hintergrund Die Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz ist die erste syntaktische Regel, die im normalen Spracherwerb von Kindern zu Beginn des dritten Lebensjahres er- VHN 1/ 2009 67 Aktuelle Forschungsprojekte worben wird: Das flektierte Verb steht als strukturelles Zentrum des Satzes an Zweitposition. Dies gilt nicht nur in der kanonischen Anordnung S-V-O (Bsp. Mama kocht Brei), die nach dem Prinzip der minimalen Anforderung bereits in einer frühen Erwerbsphase bevorzugt wird. Verlässliche Hinweise über die Regelanwendung liefern Kinder erst durch die Inversion von Subjekt und Verb nach Topikalisierung eines w-Fragepronomens, eines Objektes oder einer adverbialen Ergänzung (Bsp.: Was kocht Mama? Brei kocht Mama. Jetzt kocht Mama.). Die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel ist die erste morphologische Regel, die zeitgleich mit der Verbzweitstellungsregel erworben wird. Durch sie wird die strukturelle Übereinstimmungsbeziehung zwischen zwei Phrasenstrukturkategorien hergestellt: Am Verb werden Person und Numerus des Subjekts markiert (Bsp.: / st/ markiert 2. Person Singular: du kochst). Der Erwerb dieser beiden grammatischen Regeln gilt als Hürde der deutschen Sprache (Leonard 1998) und stellt besonders Kinder mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES) vor große Schwierigkeiten (Kracht 2000; Grimm 2000). Nach dem Vergleich der Effekte unterschiedlicher Therapiekonzepte folgert Leonard (2000), dass die Datenlage keine Aussage darüber erlaubt, welche Methode für Kinder mit SSES am effektivsten sei. Dazu trägt sicherlich auch die spärliche Forschungsaktivität im frühtherapeutischen Bereich bei. Die vorherrschende Unsicherheit müsste eigentlich zu erhöhter Forschungsarbeit motivieren, zumal für das spätere schlechte Abschneiden der Schüler in der Schule fehlende frühtherapeutische Maßnahmen verantwortlich gemacht werden. Eine möglichst frühe effektive und effiziente Therapie würde zur Prävention negativer Entwicklungsverläufe der Kinder beitragen, die Grimm (2000) nicht nur im sprachlichen Bereich sieht, sondern auch in der Etablierung eines niedrigen Selbstwertgefühles, sozial-interaktiver und psychischer Störungen und in sozialer Ausgrenzung. Nachdem die Effektivität der Therapiemethode Kontextoptimierung (Motsch 2006) bereits für unterschiedliche Therapieziele im sprachtherapeutischen Unterricht in der Grundschule (Motsch/ Ziegler 2004, Berg 2007, Motsch/ Riehemann 2008) und im Sekundarbereich (Motsch/ Seiffert 2008) nachgewiesen werden konnte, existieren für den vorschulischen Bereich lediglich evaluierte Einzelfallstudien (Motsch 2007). Der empirische Nachweis signifikanter Fortschritte durch kurze Interventionsphasen im gruppentherapeutischen Setting wurde bisher nicht erbracht. Methode, Untersuchungsdesign Hauptziel der randomisierten Interventionsstudie ist es zu untersuchen, ob Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren signifikante Fortschritte im Erwerb der Verbzweitstellungsregel und Subjekt-Verb-Kontroll-Regel erzielen, wenn sie ausschließlich in größeren Gruppen (7 - 9 Kinder) kontextoptimiert gefördert werden und wenn ja, ob diese Intervention effektiver ist als die Förderung mit anderen Methoden in der Kontrollgruppe. Ein zweites Ziel ist es zu überprüfen, inwieweit sich die Intensität (Häufigkeit) der Therapie auf den Lernzuwachs der Kinder auswirkt. Ein weiteres Ziel ist es zu überprüfen, ob sich bei Kindern mit Migrationshintergrund ein Effekt der Förderung in der Zweitsprache (L 2) auf die Erstsprache (L 1) nachweisen lässt. Die Studie fand am Centre de Logopédie (CL), der luxemburgischen Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Sprache, statt. Von den insgesamt 80 Kindergartenkindern des CL nahmen alle Kinder (n = 49) an der Studie teil, die eine oder beide grammatischen Regeln nicht erworben hatten. Etwa die Hälfte der Kinder ist „romanischer“ Herkunft (Portugiesisch oder Französisch als L 1). Nach dem Vortest (T1) zu Beginn des Schuljahres mit Hilfe des ESGRAF Ergänzungstestes 1 (Motsch 2006) und weiteren ursachenbezogenen Verfahren wurden die Kinder einer der beiden Experimentalgruppen oder der KG zugewiesen. Die Experimentalgruppe 1 (Exp 1, n = 15) wurde während 10 Wochen viermal wöchentlich, die Experimentalgruppe 2 (Exp 2, n = 17) während derselben Periode zweimal wöchentlich gefördert. Die KG (n = 17) erhielt während der gesamten Zeit zwischen T 1 und T 4 in Bezug zum erwähnten Lernziel sowohl Einzelals auch Gruppentherapie mit nicht kontextoptimierten Methoden. Als Therapieschwerpunkte der Studie ergibt sich, die Zweitposition des flektierten Verbs zu verdeutlichen, dies parallel zur Etablierung der Subjekt- Verb-Kongruenz. Die Verbzweitstellungsregel wird kontextoptimiert dadurch verdeutlicht, dass das Verb in unterschiedlichen Satztypen, die keine widersprüchlichen Informationen beinhalten, gebraucht wird (Weissenborn 2000; Motsch 2004): „Was malst VHN 1/ 2009 68 Aktuelle Forschungsprojekte du? Du malst Blumen. Blumen malst du. Jetzt singst du.“ Die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel wird durch den kontrastiven Gebrauch der uniken Markierung der 2. Person Einzahl zur 1. oder 3. Person Einzahl prägnant dargestellt: „Ich male. Du malst.“ bzw. „Ich male. Er malt.“ Jede Therapieeinheit umfasste kontextoptimierte Aktivitäten von 40 Minuten. Die einzelnen Therapieeinheiten wurden ausführlich schriftlich dokumentiert und illustriert (Fotos und Filmausschnitte). Nach fünf Wochen wurden die Kinder einem Zwischentest (T2) unterzogen, nach zehn Wochen (Interventionsende) einem ersten Posttest (T3). Zum Beweis der therapeutischen Nachhaltigkeit diente am Ende des Schuljahres, ca. vier Monate nach T3, ein Follow-up-Test (T4). Zu denselben Zeitpunkten wurden auch die Fortschritte der KG überprüft. Die Kinder romanischer Herkunft wurden zusätzlich jeweils mit dem an das Französische und Portugiesische adaptierten ESGRAF-Ergänzungstest 1 überprüft. Ergebnisse Bereits nach fünf Wochen (T 2) konnten in beiden Experimentalgruppen höchst signifikante Fortschritte festgestellt werden, und dies sowohl in Bezug zum morphologischen (Subjekt-Verb-Kongruenz) als auch zum syntaktischen (Verbzweitstellung) Therapieziel. Im Posttest (T 3) erreichte Exp 1 einen gemittelten Wert von fast 90 % (T 1: 30 % ), Exp 2 einen Wert von etwa 72 % (33 % ), während sich die KG in dem Zeitraum nicht signifikant verbesserte. Die Ergebnisse der Exp 1 lagen bereits beim Zwischentest (T 2) über den Ergebnissen der Exp 2 nach Interventionsende (T 3). In der individuumorientierten Evaluation (exakter Fisher-Test) konnte aufgezeigt werden, dass höchst signifikante Fortschritte - mit drei Ausnahmen - nur Kinder der Experimentalgruppen erzielen konnten. Die Stabilität der Effekte wurde durch den Follow-up-Test (T 4) bestätigt. Die Ergebnisse der Studie belegen zudem die Effektivität der Kontextoptimierung bei Kindern mit Risikofaktoren, und dies unabhängig davon, ob die Therapie in der Erst- oder Zweitsprache stattfindet. Es konnte zudem gezeigt werden, dass auch die Kinder in der L 2 höchst signifikante Fortschritte erzielen, welche die entsprechenden Entwicklungsschritte in der L 1 noch nicht vollzogen haben, und dass einige dieser Kinder signifikante Fortschritte beim Erwerb der entsprechenden Regel in der L 1 zeigen. Fazit Da Gruppentherapie im Kindergarten nach kontextoptimierten Prinzipien in kurzen, intensiven Therapiephasen zu sehr signifikanten Fortschritten bei Kindern mit SSES führt, könnte dies neue Wege sehr effizienter Therapie in vorschulischen und schulischen Institutionen mit dem Förderschwerpunkt Sprache eröffnen. Die höheren Fortschritte der Exp 1 nach fünf Wochen im Vergleich zur Exp 2 nach zehn Wochen Intervention bei gleicher Zahl der Therapieeinheiten (n = 20) sprechen für den Einsatz intensiver Therapiephasen in der Gruppentherapie. Flankierende einzeltherapeutische Maßnahmen würden Kindern, die mehr Zeit für die Überwindung der grammatischen Lernblockade benötigen, zusätzliche Hilfestellung bieten. Hierbei könnte auch der Erstsprache der Kinder mit Migrationshintergrund vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden, z. B. durch den Einbezug sprachvergleichender Elemente. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei marc.schmidt@education.lu Schulische Unterforderung und Entwicklungsbeeinträchtigungen Dominik Gyseler Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Forschungshintergrund Verschiedene aktuelle Studien legen nahe, dass eine Unterforderung im schulischen Unterricht in der Schweiz ein häufiges Phänomen ist. Zu einem sonderpädagogischen Problem wird eine schulische Unterforderung dann, wenn die persönliche und schulische Entwicklung schulisch unterforderter Kinder und Jugendlicher beeinträchtigt verläuft oder voraussichtlich verlaufen wird. Am Beispiel hochbegabter Schülerinnen und Schüler konnte in den letzten Jahren gezeigt werden, dass eine schulische Unterforderung bei einer bemerkenswert hohen Anzahl zu Verhaltensauffälligkeiten oder schulischen Minderleistungen und in der Folge zur Zuschreibung besonderer Bildungsbedürfnisse führt. Allerdings gilt das Prinzip der Kontingenz: Schulische Unterforderung kann zu Entwicklungsbeeinträchtigungen führen, muss es aber nicht notwendigerweise. VHN 1/ 2009 69 Aktuelle Forschungsprojekte Forschungsvorgehen Im Projekt wird untersucht, was hochbegabte Schülerinnen und Schüler, die in Folge einer länger andauernden schulischen Unterforderung schulische Minderleistungen zeigen, von jenen unterscheidet, die trotz ähnlicher Unterforderung eine vergleichsweise erfolgreiche persönliche und schulische Entwicklung auszeichnet. Der leitenden These nach unterscheiden sich die beiden Gruppen in ihrem emotionalen Erleben von schulischer Unterforderung. Gerade diese emotionalen Prozesse sind aber dem bewussten Erleben oftmals nicht zugänglich. Im Zentrum der Studie steht deshalb der Einsatz moderner bildgebender Verfahren der Neurowissenschaften. Im Einzelnen wird die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) eingesetzt. Mit diesem Verfahren können die neuronalen Prozesse untersucht werden, die während bestimmten Tätigkeiten ablaufen. In der vorliegenden Studie werden die Teilnehmenden mit Aufgaben konfrontiert, die verschiedene Aspekte des emotionalen Erlebens umfassen - vom emotionalen Bewerten über das emotionale Empfinden bis hin zur emotionalen Kontrolle. Auf der neurowissenschaftlichen Ebene stehen dabei verschiedene Strukturen des limbischen Systems im Zentrum des Interesses. Darüber hinaus werden aber auch die Schullaufbahnen und Entwicklungsverläufe dieser beiden Gruppen systematisch untersucht. Damit kann festgestellt werden, inwieweit eine erfolgreiche Schulkarriere bzw. Persönlichkeitsentwicklung überzufällig oft mit bestimmten schulischen Maßnahmen einhergeht oder ob bei Kindern mit einer beeinträchtigten Entwicklung über eine schulische Unterforderung hinaus häufig andere Formen von Misfits festgestellt werden können. Zur Analyse der Schullaufbahnen stellen zwei renommierte Institutionen ihre Datenbanken für eine inhaltsanalytische Auswertung zur Verfügung. Forschungsziel Ziel des Projekts ist es einerseits, Risikofaktoren zu bestimmen, die im Falle einer schulischen Unterforderung zur Erklärung, aber auch zur Prognose von Entwicklungsbeeinträchtigungen herangezogen werden können. Andererseits werden aber auch Resilienzfaktoren bestimmt, die mit einer erfolgreichen persönlichen und schulischen Entwicklung unterforderter Schülerinnen und Schüler in Zusammenhang stehen. Diese Faktoren dienen als Grundlage für eine gezielte Beratung und Unterstützung dieser Gruppen. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei dominik.gyseler@hfh.ch Der Einfluss familien- und schulergänzender Betreuung auf den Schulerfolg Andrea Lanfranchi Hochschule für Heilpädagogik Zürich Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Daten, die im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts „Langfristige Effekte familienergänzender Betreuung im Vorkindergartenalter auf die Schulleistungen“ (SNF-Nr. 100013-113909) in den Jahren 2007/ 2008 erhoben worden sind. Es handelt sich um ein Follow-up der Studie „Schulerfolg von Migrationskindern - Auswirkungen transitorischer Räume“, die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 39 im Bereich Migration durchgeführt wurde (SNF-Nr. 4039-048959). Problemstellung In der NFP-39-Studie wurde untersucht, wo und wie die vier- und sechsjährigen Kinder in drei Schweizer Städten (im deutschen, französischen und italienischen Sprachraum) betreut werden. Eine erste Erhebung bei einer Stichprobe von 876 schweizerischen, albanischen, türkischen, portugiesischen und italienischen Kindern fand 1998 in Winterthur, Neuchâtel und Locarno statt. Ein Jahr später - die jüngeren Kinder waren nun im Kindergarten und die älteren in der ersten Klasse - wurden die Lehrpersonen zum Leistungsstand der jeweiligen Kinder befragt. Diese Resultate wurden mit der früheren Betreuungsform (zu Hause mit der Mutter, Krippe, Spielgruppe, Tagesmutter, Verwandte oder Nachbarn) in Verbindung gebracht. Als Hauptergebnis stand fest, dass familienergänzend betreute Kinder von ihren Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen der ersten Primarschulklasse in den sprachlichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten signifikant besser beurteilt wurden als Kinder, die ausschließlich im Kreise der eigenen Familie aufwachsen. Insbesondere Kinder aus Migrationsfami- VHN 1/ 2009 70 Aktuelle Forschungsprojekte lien hatten dank dem Übergangsraum einer familienergänzenden Einrichtung die Einschulung deutlich besser bewältigt als Kinder, die sich ohne diesen vermittelnden Bezug in einer für sie zunächst fremden Lebenswelt behaupten müssen. Ob die quantitativ und qualitativ gewonnenen Ergebnisse wissenschaftlich gültige Schlussfolgerungen zu nachhaltigen Effekten hinsichtlich des Erfolgs der untersuchten Kinder im weiteren Schulverlauf zulassen, konnte nicht endgültig beantwortet werden: Der Zeitraum der longitudinalen Studie war zu kurz, um auch längerfristig valide Aussagen über die Variable Schulerfolg machen zu können. Mit der hier vorgestellten Follow-up-Studie konnten wir nun die Kinder aus dem damaligen Sample ein drittes Mal erfassen, um die Frage nach möglichen Langzeiteffekten zu überprüfen. Die Hauptfragestellung lautete: Hat familienergänzende Betreuung im Vorschulalter (in Kindertagesstätte usw.) nachhaltige Effekte auf den Schulerfolg, d. h. können die in der Schuleintrittsphase festgestellten positiven Effekte auch nach einer Zeitspanne von sieben Jahren noch nachgewiesen werden? Stichprobe und Methode Zur Verfügung stand ein Sample mit breit gefächerten Daten von 642 Kindern, ihren Familien sowie Lehrpersonen aus dem Jahr 1999/ 2000. Für die Follow-up-Studie haben wir uns auf die Population von Winterthur und Locarno beschränkt (N = 535). Aufgrund verschiedener Faktoren wie Mobilität der Familien, Rückkehr von Migranten und Teilnahmeverweigerung mussten wir einen kalkulierten Stichprobenschwund von 19.8 % in Kauf nehmen, sodass nun N = 429 Kinder zur Verfügung standen (336 Schweizer und 93 ausländische Kinder). Ihre Eltern wurden mittels einer telefonisch durchgeführten Fragebogenerhebung befragt. Ergänzend zu der quantitativen Erhebung wurden aus den Daten aufgrund eines qualitativen Stichprobenplanes Familien mit Migrationshintergrund und den Merkmalen Bildungsnähe, Schulerfolg, Nutzung von familienergänzender Betreuung für eine Fallstudie ausgewählt. Für diese qualitative Teilstudie konnten sieben albanische und neun türkische Familien zu Hause besucht und ausführlich interviewt werden. Neben der ethnischen bzw. nationalen Herkunft haben wir verschiedene Variablen in Bezug auf ihren Prädiktorwert bezüglich Schulerfolg (gemessen an der zuletzt erreichten Leistungsstufe bzw. Leistungsniveau-Einteilung) durch logistische Regression geprüft: (1) die Bildungsdistanz, die wir theoretisch gestützt als Bildungsnähe/ Bildungsferne - gemessen am Schulabschluss der Mutter und am Berufsstand des Vaters - operationalisiert haben; (2) die Bildungsaspiration, d. h. das Streben der Eltern nach einer anspruchsvollen Ausbildung für ihre Kinder; (3) die erlebten oder noch laufenden Formen regelmäßiger familien- und schulergänzender Betreuung, operationalisiert duch „Transitorische Räume“: TR 1 (wie Krippe, Spielgruppe, Tagesfamilie im Vorkindergartenalter), TR 2 (wie Hort, Mittagstisch, Tagesschule während der Primarschule), TR 3 (aktuelle schulergänzende Betreuung) und TR 4 (vereinsmäßig organisierte Freizeitaktivität). Erste Ergebnisse Es war schon aus dem NFP-39-Projekt bekannt, dass Schweizer Familien institutionelle familien- und schulergänzende Betreuungsangebote viel häufiger beanspruchen als Migrationsfamilien. Die Wahrscheinlichkeit der Nutzung eines oder mehrerer transitorischer Räume (TR 1 bis 3) ist bei ihnen doppelt so hoch wie bei Migranten. Fast zwei Drittel aller Familien aus unserer Stichprobe haben im Laufe der Entwicklung ihrer Kinder einen TR benutzt: am häufigsten im Vorschulalter (27 %). Mit 11 % kommt auch die Kombination einer vorschulischen Betreuung mit einer Betreuung während der Primarschulzeit häufig vor. Lediglich 8 % haben eine durchgehende Betreuung gewählt. In der Ausgangslage wurden die vier TR auf ihre Wirkung bei der Vorhersage von Schulerfolg hin überprüft. Mit dieser Variablengruppe können aber lediglich 10 % der Varianz des Schulerfolgs aufgeklärt werden. Wird die elterliche Bildungsaspiration in die Berechnung mit einbezogen, steht mit 40 % aufgeklärter Varianz ein aussagekräftigeres Modell zur Verfügung: Wer bei Eltern aufwächst, die für ihre Kinder mehr als einen Sek I- oder Lehrabschluss anstreben, hat eine um zwölf Mal erhöhte Wahrscheinlichkeit, Schulerfolg zu haben als Kinder mit Eltern ohne entsprechende Bildungsaspiration. Das passendste Vorhersagemodell von Schulerfolg in unseren Daten setzt sich aus den Variablen TR 1 bis 4, Bildungsaspiration und Migrationshintergrund zusammen. Damit können 45 % der Varianz aufgeklärt werden. Sowohl der Bildungshintergrund („Bildungsnähe - Bildungsferne“)) wie auch der Migrationshintergrund („Schweizer - Ausländer“) korre- VHN 1/ 2009 71 Aktuelle Forschungsprojekte lieren stark mit dem Schulerfolg. Der Migrationshintergrund hat aber hinsichtlich des Schulerfolgs einen viel höheren Vorhersagewert als der Bildungshintergrund. Den transitorischen Räumen kommt entgegen unserer Erwartungen eine marginale Bedeutung zu, die zudem davon abhängig ist, ob die Gesamtstichprobe oder die bildungsnahen bzw. bildungsfernen Familien gesondert betrachtet werden. Am ehesten von Bedeutung ist TR 4 (organisierte Freizeitgestaltung), bei dem sich die Wahrscheinlichkeit für Schulerfolg bis zu dreifach erhöht. Vorläufiges Fazit Die 1999 in der Einschulungsphase festgestellten positiven Effekte von Kindertagesstätten, Spielgruppen, Tagesfamilien (TR 1) auf den Schulerfolg sind sieben Jahre später nicht mehr feststellbar, weil sie von anderen, gewichtigeren Faktoren überlagert worden sind. Auch Effekte der im Kindergarten und in der Primarschule erlebten familienbzw. schulergänzenden Betreuung (TR 2) sowie der aktuell erlebten Betreuung in Horten, Tagessschulen oder Tagesfamilien (TR 3) scheinen gar nicht oder sogar in negativer Ausprägung vorhanden zu sein. Eine genauere Interpretation dieser Daten ist erst in einer Triangulation mit den qualitativen Analysen (in Bearbeitung) möglich. Der Schlussbericht zu diesem Forschungsprojekt ist auf Ende 2008 zu erwarten. Weitere Informationen können eingeholt werden unter andrea.lanfranchi@hfh.ch. Website: www.hfh. ch > Forschung > D 6. Elternwünsche hinsichtlich nachschulischer Angebote für mehrfachbehinderte Schülerinnen und Schüler mit Sehschädigungen - Ergebnisse einer Befragung in Berlin Judith Riegert, Friederike Beyer Humboldt-Universität zu Berlin Im Jahr 2007 führten die Abteilungen Geistigbehindertenpädagogik und Blinden-/ Sehbehindertenpädagogik des Instituts für Rehabilitationswissenschaften mit Unterstützung der Paul und Charlotte Kniese-Stiftung eine Befragung von Eltern mehrfachbehinderter Kinder mit Sehschädigungen im Schulalter durch. Die Fragestellung richtete sich auf nachschulische Bedarfe dieser Familien vor dem Hintergrund der Wohnheim-, WfbM- und Tagesförderstättensituation in Berlin. Problemstellung Die Nachfrage nach WfbM-Plätzen in Berlin übersteigt das Angebot deutlich (vgl. con_sens 2003), bei der Platzanzahl in Relation zur Einwohnerzahl liegt Berlin bundesweit auf dem vorletzten Platz. Daher nutzten 2001 bereits 1.250 Menschen mit Behinderung eine WfbM in anderen Bundesländern (v. a. in Niedersachsen, Bayern, Hessen, Schleswig-Holstein; Stand Ende 2001). Bis zum Jahr 2018 wird für Berlin ein steigender Bedarf an WfbM-Plätzen prognostiziert. Der zusätzliche Bedarf wird mit 2.300 Plätzen beziffert. Für den Bereich der Tagesförderstätten stellte die Berliner Senatsverwaltung fest, dass hier (bzw. unter dem „verlängerten Dach der WfbM“, die Begriffe werden im Folgenden synonym gebraucht) keine Zuwächse erwartet würden (vgl. Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz 2006). Dies widerspricht jedoch dem zweifellos steigenden Bedarf und ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass Sozialhilfeträger in Berlin sich zunehmend weigern, Personen aus stationären Wohnangeboten den Besuch einer Tagesförderstätte als zweiten Lebensraum zu ermöglichen (vgl. Forner 2005). Auch im Wohnbereich ist von einem steigenden Bedarf auszugehen; bis zum Jahr 2015 müssen in Berlin ca. 1.800 neue Wohnplätze geschaffen werden (vgl. con_sens 2005). Nach verschiedenen Berichten ist der Bedarf an Wohnplätzen für Menschen mit schwerer oder mehrfacher Behinderung bereits jetzt nicht gedeckt. Besonders für sehgeschädigte Schulabgänger mit hohem Pflege- oder zusätzlichem Hilfebedarf, beispielsweise wegen Autismus, gestaltet sich die Suche nach einem Wohnplatz schwierig. Als besonders kritisch ist die in Berlin immer noch geduldete Praxis einer Fehlplatzierung junger Menschen mit hohem Hilfebedarf in Pflegeheimen zu sehen. Die Absichtserklärung der Senatsverwaltung, diesem Missstand mit Sonderregelungen über eine zusätzliche „behinderungsspezifische Betreuung“ in diesen Pflegeheimen zu begegnen (vgl. Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz 2006), ist aus fachlicher Sicht als völlig unzureichend zu bewerten. VHN 1/ 2009 72 Aktuelle Forschungsprojekte Forschungsdesign Ziel der Studie war es, alle Eltern mehrfachbehindert-sehgeschädigter Kinder vom Vorschulalter bis zum Ende der Schulzeit mit einem Fragebogen zu erreichen und zu ihren Bedarfen hinsichtlich nachschulischer Angebote zu befragen. Es nahmen insgesamt 68 Eltern teil. Sie erhielten einen Fragebogen (wahlweise deutsch, türkisch, arabisch) mit geschlossenen Fragen und Multiple-Choice-Antworten zu ihren Zukunftswünschen in den Bereichen Arbeit und Wohnen. Zudem sollten sie Lücken im bestehenden Angebot aus ihrer Sicht frei benennen. An zwei Elternabenden an den Schulen für den Förderschwerpunkt Sehen wurde darüber hinaus das direkte Gespräch mit den betroffenen Eltern gesucht. Ergebnisse Die meisten an der Befragung teilnehmenden Eltern von Kindern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sahen die Zukunft ihres Sohnes/ ihrer Tochter nicht in einer WfbM, sondern in einer Tagesförderstätte. Dies spricht für die Schwere der Behinderungen dieser Schülerinnen und Schüler, jedoch auch gegen die Annahme offizieller Stellen, dass es in diesem Bereich keinen wachsenden Bedarf gebe (s. o.). Etwas mehr als die Hälfte der Eltern wünschte sich grundsätzlich, dass ihr Kind nach Ende der Schulzeit oder einige Jahre später den elterlichen Haushalt verlässt, jedoch zeigte sich auch bei einer fast ebenso großen Gruppe der Vorsatz, das Kind „so lange wie möglich zu Hause“ zu behalten. Der Wunsch nach einer speziellen Ausrichtung von WfbM, Tagesförderstätte oder Wohnheim auf die Belange sehgeschädigter Menschen bestand ungefähr bei der Hälfte der Befragten, darunter häufiger Eltern blinder (nicht: sehbehinderter) Kinder. Auf die Frage nach dem gewünschten Wohnangebot präferierte eine relative Mehrheit der Eltern eine Wohngruppe, darunter auch viele Eltern von Kindern mit hohem Hilfebedarf. Ein Wohnheim wurde deutlich seltener gewünscht. Interessant erscheinen die Kriterien, die für Eltern bei der Auswahl eines Wohnangebots wichtig waren: Es dominierten hier die optimale Pflege, Betreuung und Förderung, gefolgt von der Elternhausnähe, einem „kleinen und familiären“ Charakter und der Ausrichtung auf sehgeschädigte Menschen. Die Lage - innerhalb oder außerhalb der Stadt - war irrelevant. Hinsichtlich weiterer Bedarfslagen wurden wiederholt fehlende Wohnangebote für Schulabgänger mit hohem Pflegebedarf, mit Verhaltensauffälligkeiten sowie mit Autismus genannt. Darüber hinaus bewerteten die Eltern das Angebot an Freizeitmöglichkeiten für mehrfachbehindert-sehgeschädigte Kinder und Jugendliche als unzureichend. Zudem wurden ein Bedarf an umfassenderen Beratungsangeboten sowie der Wunsch nach Fachleuten verschiedener Professionen (Pädagog/ innen, Mediziner/ innen, Therapeut/ innen, Optiker/ innen) angemeldet, die sich explizit auf den Adressatenkreis schwer mehrfachbehinderter Kinder und Jugendlicher einstellen. Bewertung und Fazit Die oben beschriebene Mangelsituation bezogen auf Wohn-, WfbM- und Tagesförderstättenplätze in Berlin führt offensichtlich zu einer tendenziellen Benachteiligung von Schulabgängern mit zusätzlichem Hilfebedarf wegen Blindheit/ hochgradiger Sehbehinderung, Verhaltensauffälligkeiten, Mobilitätseinschränkungen und/ oder hohem Pflegebedarf bei der Suche nach adäquaten nachschulischen Angeboten. Schwierigkeiten beginnen bereits gegen Ende der Schulzeit bei der Suche nach Praktikumsplätzen in WfbM oder Tagesförderstätten. Wenig förderlich für eine Vorbereitung der Zeit nach der Schule erscheint auch der Befund, dass eine nennenswerte Anzahl von Eltern keine klare Angabe zu der von ihrem Kind besuchten Schulart und dem Bildungsgang machen konnte. Die fehlende blinden-/ sehbehindertenspezifische Qualifikation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Wohnheim- und WfbM-Bereich führt zusätzlich zu Benachteiligungen des Personenkreises mehrfachbehindert-sehgeschädigter Menschen. Diese Problematik äußert sich beispielsweise darin, dass Verhaltensauffälligkeiten nicht im Hinblick auf einen möglichen blindheitsspezifischen Kontext hinterfragt werden können oder dass auch Schulabgängern unter Umständen mangels blinden-/ sehbehindertenpädagogischer Handlungskompetenz des Personals keine Werkstattfähigkeit zuerkannt wird. Für den Wohnbereich ist in Berlin eine weitere Zunahme der Fehlplatzierungen in Pflegeheimen zu befürchten. In diesem Zusammenhang muss kritisch gefragt werden, inwiefern die angespannte Angebotssituation bereits jetzt eine verantwortliche Gestaltung von Ablöseprozessen der jungen Erwachsenen vom Elternhaus behindert. VHN 1/ 2009 73 Aktuelle Forschungsprojekte Festzuhalten bleibt: In Berlin fehlen flexible bedarfsgerechte Strukturen, die mehrfachbehinderten Schulabgängern mit Sehschädigung eine sichere Option auf Arbeit bzw. weitere Förderung und Anregung eröffnen und es ihren Eltern ermöglichen, ein Wohnangebot zu einem für sie und ihre Kinder passenden Zeitpunkt nach Qualität auszuwählen. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei judith.riegert@cms.hu-ber lin.de. Der Bericht ist online verfügbar unter www. reha.hu-berlin.de/ blind/ sonstiges/ Bedarfsanalyse_ Juni08.html Zweijährige berufliche Grundbildung und Arbeitsmarktfähigkeit - Eine Längsschnittstudie über die berufliche Laufbahn von schulisch schwächeren Jugendlichen Marlise Kammermann, Claudia Hofmann Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Jacques Amos Service de la recherche en éducation Genève Ausgangslage Die berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) ist eine zweijährige standardisierte Berufsausbildung, die im neuen schweizerischen Berufsbildungsgesetz von 2002 geregelt wird. Sie richtet sich an schulisch schwächere Jugendliche und ist vorwiegend auf praktische Tätigkeiten fokussiert. Die Standardisierung der Ausbildung soll sicherstellen, dass die jungen Berufsleute mit einem eidgenössischen Berufsattest die auf dem Arbeitsmarkt geforderten Voraussetzungen zur Ausübung der Berufstätigkeit mitbringen. Damit verknüpft ist die Erwartung, dass die Integration in den Arbeitsmarkt sowie die Durchlässigkeit zu weiterführenden Ausbildungen - beispielsweise der Übertritt in die Ausbildung mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) - gewährleistet wird. Die Anlehre, die vor der Inkraftsetzung des neuen Berufsbildungsgesetzes im Jahr 2004 eine berufliche Ausbildung für eher praktisch begabte leistungsschwächere Jugendliche sicherstellte, war auf die individuellen Fähigkeiten der Lernenden ausgerichtet und führte im Gegensatz zur neuen zweijährigen Grundbildung nicht zu einem standardisierten eidgenössisch anerkannten Abschluss. Im Sommer 2007 haben die ersten Absolventinnen und Absolventen eine zweijährige berufliche Grundbildung mit EBA in den Berufen des Verkaufs (Detailhandelsassistentinnen und -assistenten) und des Gastgewerbes (Küchen-, Restaurations- und Hotellerieangestellte) abgeschlossen. Zielsetzungen Ziel des vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie mitfinanzierten Forschungsprojektes ist, die berufliche Entwicklung dieser jungen Berufsleute mit eidgenössischem Berufsattest zu verfolgen und sie mit der beruflichen Entwicklung von jungen Erwachsenen zu vergleichen, die eine Anlehre in denselben Berufsfeldern abgeschlossen haben. Die Studie liefert durch einen Längsschnitt- und vergleichenden Ansatz Daten zur Beschäftigungssituation, Mobilität und Flexibilität von Personen mit der neuen zweijährigen beruflichen Qualifikation, aktuelle Informationen über die berufliche Laufbahn von schulleistungsschwächeren Jugendlichen und erste Erkenntnisse über die neue Ausbildungsform. Vorgehen Im Zentrum der Untersuchung stehen die Perspektiven von Absolventinnen und Absolventen des letzten Durchganges einer Anlehre sowie der ersten Durchführung der zweijährigen beruflichen Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest - erhoben am Ende und ein Jahr nach Abschluss der Ausbildung. Ebenfalls erhoben werden die Meinungen und Erfahrungen von Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern aus Berufsfachschulen und Betrieben sowie von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern der jungen Berufsleute mit eidgenössischem Berufsattest. Erste Ergebnisse Eine Stichprobe von 319 Lernenden der zweijährigen Grundbildung aus sieben Kantonen der Deutschschweiz, vier Kantonen der Romandie und dem Tessin wurde kurz vor Ausbildungsabschluss im Mai und Juni 2007 zu ihrer Herkunft, ihrer Einschätzung der beruflichen und persönlichen Situation sowie zu ihren Zukunftsperspektiven befragt. Die Ergebnisse dieser Erhebungen werden verglichen mit den Resultaten einer Befragung von 183 Anlehrlingen derselben Kantone im Mai und Juni 2006. VHN 1/ 2009 74 Aktuelle Forschungsprojekte Erste Analysen zeigen, dass die Mehrheit der befragten Lernenden der zweijährigen Grundbildung wie auch der Anlehrlinge ihre Ausbildung positiv beurteilen - die Zufriedenheit mit der Ausbildung ist groß, die eigene Leistungseinschätzung recht gut. Die Resultate der Befragung von 43 Lehrpersonen aus Berufsfachschulen und 47 betrieblichen Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern im Sommer 2007 bestätigen diese Einschätzungen - die Befragten sind mehrheitlich zufrieden mit der neuen zweijährigen Ausbildung. Allerdings wird, vorwiegend von den Lehrpersonen, auf Probleme bei der Förderung von leistungsschwächeren Lernenden hingewiesen. Lernende der zweijährigen Grundbildung und Anlehrlinge unterscheiden sich signifikant in Bezug auf schulische Herkunft und Migrationshintergrund - in der zweijährigen Grundbildung mit EBA sind Schülerinnen und Schüler aus Kleinund/ oder Sonderklassen sowie Migrantinnen und Migranten weniger vertreten als in der Anlehre. Bezüglich sicherer Berufsperspektiven kurz vor Ausbildungsabschluss unterscheiden sich Lernende der zweijährigen Grundbildung und Anlehrlinge nicht - weniger als die Hälfte der jungen Berufsleute in beiden Gruppen verfügen kurz vor Ausbildungsabschluss über eine sichere berufliche Anschlusslösung. Die Chancen für das Absolvieren einer weiterführenden Ausbildung scheinen sich mit der neuen Ausbildung jedoch verbessert zu haben - signifikant mehr Lernende nehmen nach einer zweijährigen Grundbildung eine Ausbildung in Angriff, die zum EFZ führt. Zusammenfassend weisen diese Ergebnisse auf die Schwierigkeit hin, die zentralen Ansprüche an die zweijährige berufliche Grundbildung - einen niederschwelligen Eintritt in die Berufsbildung einerseits und eine verbesserte Arbeitsmarktfähigkeit andererseits - erfüllen zu können. Ausblick Erste Hinweise aus der Nachbefragung der Anlehrlinge ein Jahr nach Ausbildungsabschluss - 80 % der Befragten gehen zum Zeitpunkt der Nachbefragung einer bezahlten beruflichen Tätigkeit nach - lassen darauf schließen, dass sich die Situierung auf dem Arbeitsmarkt in den Monaten nach Ausbildungsabschluss klärt. Verlässliche Ergebnisse zur Arbeitsmarktintegration der jungen Berufsleute nach einer zweijährigen Grundbildung werden im Rahmen des Forschungsprojektes deshalb erst nach der Nachbefragung im Spätsommer 2008 vorliegen. Um nachhaltige Aussagen zu ermöglichen, wird eine weitere Nachbefragung ein oder zwei Jahre später ins Auge gefasst. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei marlise.kammermann@hfh.ch Chancen in der beruflichen Bildung und Rehabilitation durch Kommunikationstraining - das Projekt DoKoTrain Horst Biermann Technische Universität Dortmund Peter Piasecki Christliches Jugenddorfwerk Deutschland (CJD) Dortmund Einleitende Informationen zum BMBF-Projekt Im Jahre 2007 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Bereich „Alphabetisierung/ Grundbildung für Erwachsene“ ausgeschrieben, angeregt durch die UN-Weltdekade der Alphabetisierung (2003 - 2012). In diesem Rahmen werden jetzt von 2008 an bis 2010 die Technische Universität Dortmund und das CJD Dortmund im Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands ein Verbundvorhaben umsetzen, welches unter dem Titel „Forschungs- und Umsetzungskonzept zur Verbesserung der Chancen in vorberuflicher und beruflicher Ausbildung sowie im Arbeitsleben für junge Erwachsene“ firmiert und die Teilprojekte „Wissenschaftliche Begleitung“ (TU Dortmund) sowie „Entwicklung und Umsetzung“ (CJD Dortmund) ausweist. Das übergeordnete Projektziel von DoKoTrain (Dortmunder Kommunikationstraining) besteht in der Entwicklung, Erforschung und Umsetzung eines Förderansatzes für funktionale Analphabeten, die sich in vorberuflicher oder beruflicher Ausbildung (Berufe für Menschen mit Behinderungen gem. § 66 BBiG bzw. § 42 m HwO) befinden oder zur Gruppe der jungen Menschen ohne Ausbildung gehören. Angestrebt wird die qualitative Verbesserung einer hier im Ansatz über die reine Lese- und Schreibfertigkeit hinausgehenden berufsorientierten Kommunikationsfähigkeit, damit erstens das Erreichen des VHN 1/ 2009 75 Aktuelle Forschungsprojekte angestrebten Zieles des erfolgreichen Abschlusses einer Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, eines Berufsausbildungsabschlusses oder einer Arbeitstätigkeit gefördert und zweitens eine verbesserte Teilnahme der Jugendlichen und jungen Erwachsenen am beruflichen und gesellschaftlichen Leben perspektivisch entwickelt wird. Projektziele In dem angestrebten Verbundvorhaben soll neben der Vermittlung von Schreib-, Lese- und mündlicher Kommunikationskompetenz sowie der Fähigkeit zum Lesen und Anfertigen von Technischen Zeichnungen implizit auch die Verbesserung der Chancen zum Bestehen einer Berufsabschlussprüfung als weiteres Ziel angestrebt werden. Die Förderung berufsbezogener Sprachkompetenz ist darüber hinaus eine notwendige Voraussetzung für Vermittlung und auch eine Erfordernis mit Blick auf Berufsbewährung, Beschäftigungschancen und Weiterbildung. Ziel des Projektes ist es, alle Projektanteile berufsbezogen und integrativ unter dem Aspekt der Verminderung des funktionalen Analphabetismus zu realisieren, sodass in den berufsbezogenen Fächern sowie in weiten Bereichen der zu vermittelnden Berufspraxis der Aspekt der Verbesserung der Lese-, Schreib- und mündlichen Kommunikationsfähigkeit als zentrale Rolle gesehen wird. Dieser ganzheitliche Ansatz ist im Bereich lernbehinderter und/ oder benachteiligter junger Erwachsener im Hinblick auf vorberufliche bzw. berufliche Ausbildung gem. § 66 BBiG bzw. § 42 m HwO bislang nicht umgesetzt worden. Hypothesen und Erprobungsaktivitäten Durch eine Optimierung des Lehr-/ Lernangebots in der beruflichen Erstausbildung lese- und schreibungewohnter Auszubildender und junger Erwachsener soll eine umfassende und nachhaltige Kompetenzförderung bewirkt werden, die den Ausbildungsabschluss und situationsangemessenes Arbeitsverhalten ermöglicht. Der wechselseitige Zusammenhang von Sprache - Denken - Handeln ist auf der theoretischphilosophischen Makroebene seit langem diskutiert. Auch liegen Arbeiten, z. B. von Walter Volpert, vor, die Sprache als Ersatzhandeln sehen und grammatikalische Strukturen auf Berufshandeln übertragen. Es fehlen aber Erfahrungen, wie über das Medium des beruflichen Sprachhandelns systematisch Sprachkompetenz angeeignet werden kann. Diese Kompetenz ist eine zentrale Querschnitts- und Längsschnittsqualifikation und eröffnet die Teilhabe am Beruf und den Zugang zu Arbeit. Exemplarisch soll für die Gruppe der „funktionalen Analphabeten“ untersucht werden a) der Lernzuwachs in der Sprachkompetenz durch berufssprachliche Inhalte und b) der Lernzuwachs in der Sprachkompetenz durch aktive, handlungsorientierte Methoden des Sprachtrainings. Bezogen auf das Ausbildungspersonal sollen auf der Grundlage der Eckpunkte und der Fortbildungsinputs der wissenschaftlichen Begleitung durch Einzelqualifizierung des Ausbildungspersonals sprachdidaktisch und berufspädagogisch-fachdidaktisch begründete Ausbildungsmaterialien und Lernsoftware entwickelt und erprobt werden, die ausbildungsbegleitend funktionalem Analphabetismus entgegenwirken. Ein weiterer Schwerpunkt ist mit Blick auf die Anwendung der Ausbildungsmaterialien zur Sprachförderung das Methodentraining. Hierzu ist ein Methodenbaustein zu entwickeln. Dabei ist der Gestaltung der Module zur berufsbezogenen Sprachförderung, die sich auf Fachtexterkennung, schriftliche und mündliche Sprachkompetenz in der Berufsbildung und auf technische Kommunikation beziehen, besonderer Wert beizumessen, weil Fachsprache - im Gegensatz zur Alltagssprache - andere und kompliziertere Strukturen aufweist. Modularer Aufbau des Curriculums Das Curriculum des Verbundprojektes ist modular aufgebaut. Es enthält vier Module: Modul 1: Förderung der Lesefertigkeit berufsspezifischer Texte; Modul 2: Förderung der Schreibkompetenz von Texten mit berufsspezifischen Inhalten; Modul 3: Förderung der mündlichen Sprachkompetenz durch berufssprachliche Inhalte; Modul 4: Interpretation von Diagrammen und Technischen Darstellungen. Nachhaltigkeit Das geplante Forschungs- und Umsetzungskonzept zwischen der Technischen Universität Dortmund und dem CJD Dortmund (Teil eines bundesweit an über 150 Standorten tätigen Bildungs- und Ausbildungsträgers) soll in enger Verzahnung von Grundlagenforschung (Eruierung von Art und Umfang des funktionalen Analphabetismus bei jungen Erwachsenen), angewandter Forschung (Entwicklung inno- VHN 1/ 2009 76 Aktuelle Forschungsprojekte vativer Konzepte und Konzeptmaterialien) und Intervention (Arbeiten mit funktionalen Analphabeten im CJD Dortmund) erfolgen. Ein besonderer Aspekt der Nachhaltigkeit besteht darin, dass der Transfer des gesamten Projektes in einem BA-Studiengang der Technischen Universität Dortmund erfolgen soll. Bachelor-Studiengänge sehen Theorie-Praxis-Module vor, sodass auch nach dem Modellversuch die Thematik weiter systematisch im Bereich der Organisationen von Universität und CJD durchgeführt werden kann. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei horst.biermann@tu-dortmund.de oder Peter.Piasecki@cjd.de (Internetseite: www.dokotrain.de) Formale Bildung im Jugendstrafvollzug Susann Reinheckel Justus-Liebig-Universität Gießen Forschungshintergrund und Forschungsstand Ausgehend von Norbert Myschker gehören Delinquenz und Kriminalpädagogische Institutionen zu den Arbeitsbereichen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen (vgl. Myschker 2005, 341ff; 448ff ). Myschker definiert Delinquenz als „[…] ein gegen geltende Gesetze verstoßendes Verhalten“ (ebd., 448). Delinquenz will er als Synonym für Kriminalität verstanden wissen (vgl. ebd.). Dazu bedarf es aber der Ergänzung, dass mit geltenden Gesetzen v. a. das Strafgesetzbuch gemeint ist und beispielsweise Ordnungswidrigkeiten vom Gesetzgeber nicht als kriminell angesehen werden (vgl. Ostendorf 1999, 3ff ). Jugendliche und Heranwachsende, die nach § 1 I JGG eine nach allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedrohte Verfehlung begangen haben, können gemäß § 17 II JGG zu einer Jugendstrafe verurteilt werden. Die Jugendstrafe ist nach § 17 I JGG eine Freiheitsstrafe, die in bestimmten Einrichtungen bzw. kriminalpädagogischen Institutionen (z. B. Jugendstrafanstalten bzw. Justizvollzugsanstalten für Jugendliche und/ oder Heranwachsende) vollzogen wird. Für den Vollzug der Jugendstrafe gelten seit dem 1. Januar 2008 die Jugendstrafvollzugsgesetze. Laut Leo Montada ist Schulabbruch und damit Vollzielschulversagen ein Risikofaktor für Jugendkriminalität bzw. Delinquenz (vgl. Montada 2002, 860). Myschker weist darauf hin, dass Gefangene ohne Schulabschluss in den Jugendstrafanstalten überrepräsentiert sind (vgl. Myschker 2005, 455). Eine umfassende Literaturanalyse in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen und anderen wissenschaftlichen Disziplinen ergab, dass zur Bestätigung dieser Allgemeinaussage keine empirischen Daten vorliegen. Im Gesamten gesehen ist über den Bildungsstand und Bildungsbedarf der Gefangenen nur wenig bekannt. Gemäß Friedrich Lösel und Doris Bender ist Erfolg in der Schule und damit das Erreichen eines Schulabschlusses ein Schutzfaktor vor Jugendkriminalität (vgl. Lösel/ Bender 2005, 625). Das Ziel des Jugendstrafvollzugs besteht darin, den Gefangenen auf ein Leben ohne Straftaten vorzubereiten. Zur Erreichung dieses Vollzugsziels sehen die Jugendstrafvollzugsgesetze Bildungsangebote vor, die somit als tertiäre Präventionsmaßnahmen bzw. Interventionsmaßnahmen verstanden werden können. Einige dieser Bildungsangebote haben das Erreichen eines Schulabschlusses zum Bildungsziel. Der gegenwärtige Zustand dieser Bildungsangebote kann mittels vorhandener Literatur der Pädagogik bei Verhaltensstörungen und anderer wissenschaftlicher Disziplinen nur beispielhaft beschrieben werden. Da die Bildungsangebote in den Jugendstrafanstalten aber sehr unterschiedlich sind, kann kein Bildungsangebot exemplarisch für die Angebote in anderen Jugendstrafanstalten stehen. Demnach besteht ein großes Forschungsdefizit hinsichtlich des Bildungsstandes und Bildungsbedarfs der Gefangenen und der Bildungsangebote in den Jugendstrafanstalten. Das Erkenntnisinteresse der Pädagogik bei Verhaltensstörungen kann diesbezüglich als hoch eingeschätzt werden. Forschungsfrage und Forschungsziel Es steht die unbewiesene, generalisierte Behauptung im Raum, dass der Großteil der Gefangenen in den Jugendstrafanstalten keinen Schulabschluss vorweisen kann. Der Beweis dieser Behauptung würde die Aussage, dass Vollzielschulversagen ein Risikofaktor für Jugendkriminalität ist, untermauern. Demnach stellt sich die Frage: Welchen Bildungsstand haben die Gefangenen? In den Jugendstrafanstalten gibt es Bildungsangebote, die das Erreichen eines Schulabschlusses VHN 1/ 2009 77 Aktuelle Forschungsprojekte während des Vollzugs der Jugendstrafe ermöglichen und somit einen Schutzfaktor vor Delinquenz und damit vor dem Rückfall erzeugen wollen. Über die Bildungsangebote im Jugendstrafvollzug ist jedoch - wie bereits gesagt - wenig bekannt, sodass folgender Frage nachgegangen werden muss: Welche Bildungsangebote, insbesondere zum Erreichen von Schulabschlüssen, gibt es im Jugendstrafvollzug? Zusammenfassend kann der Bildungserfolg von Gefangenen zum Zeitpunkt ihrer Entlassung aus der Jugendstrafanstalt sowohl als Risikofaktor als auch als Schutzfaktor gesehen werden. Also folgt daraus eine übergeordnete allgemeine Frage: Inwiefern trägt formale Bildung zur Entstehung und Vermeidung von Jugendkriminalität bei? Mit der Beantwortung dieser Fragen soll dem Erkenntnisinteresse der Pädagogik bei Verhaltensstörungen Rechnung getragen werden. Des Weiteren zielt dieses Forschungsprojekt auf das Nutzeninteresse der Praxis ab. Das Bundesverfassungsgericht gab in seinem Urteil vom 31. Mai 2006 vor, dass das Bildungs- und Ausbildungsangebot im Jugendstrafvollzug ausreichend sein soll (vgl. BVerfG 2006, Abs. 61). Das Wort „ausreichend“ wurde jedoch nicht näher erläutert, sodass auch nicht ersichtlich ist, ob dies qualitativ oder quantitativ gemeint ist. Bei der Betrachtung der Bildungsangebote zum Erreichen von Schulabschlüssen könnte zum Beispiel folgende Frage gestellt werden: Reicht das Bildungsangebot zum Erreichen von Schulabschlüssen quantitativ aus, um den Anteil der Gefangenen mit Schulabschluss während der Haftzeit zukünftig vergrößern zu können? Zur Beantwortung der Frage, die eine Bewertung der Quantität des Bildungsangebots ermöglicht, müssen zum einen der Bildungsbedarf der Gefangenen und zum anderen der gegenwärtige Zustand des Bildungsangebots bekannt sein. Bei diesem Forschungsprojekt handelt es sich aufgrund des hohen Erkenntnis- und Nutzeninteresses um anwendungsorientierte Grundlagenforschung (vgl. Fischer/ Wecker 2006), die Ausgangspunkt für eine Evaluationsforschung (vgl. Rossi 1988) sein kann. Evaluationsforschung im Jugendstrafvollzug ist notwendig, um den Beitrag des Bildungsangebots im Jugendstrafvollzug zur tertiären Prävention erhalten und stärken zu können. Forschungsdesign und Forschungsmethoden Zur Beantwortung der Forschungsfrage und zum Erreichen des Forschungsziels sollen im Rahmen der Dissertation „Das schulische Angebot in den Jugendstrafanstalten der Bundesrepublik Deutschland - eine bundesweite Totalerhebung“ (Arbeitstitel) zum einen eine umfassende Literaturanalyse und zum anderen eine empirische Untersuchung durchgeführt werden. Um generalisierbare Aussagen treffen zu können, ist es notwendig, die Grundgesamtheit im Querschnitt zu erfassen und demzufolge eine Totalerhebung durchzuführen. Für diesen Zweck wurde als Erhebungsmethode die Befragung gewählt. Zur Erfassung des Bildungsstandes und Bildungsbedarfs der Gefangenen wurde ein Fragebogen konstruiert. Der gegenwärtige Zustand der Bildungsangebote in den Jugendstrafanstalten wird durch eine schriftliche (Fragebogen) und eine mündliche (Experteninterview) Befragung der Schulleitung erfasst (Mixed-Methods-Design). Literatur und weitere Informationen können angefordert werden bei: Susann.Reinheckel@erziehung. uni-giessen.de (Internetseite: http: / / www.uni-giessen. de/ graduiertenzentrum/ home/ profil-sreinheckel.html)