eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
782

Professionelles Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen zwischen ethischer Begründbarkeit und Berufsmoral?

41
2009
Andrea Dlugosch
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um ethische Orientierungen für das sonder- und heilpädagogische Handeln und auf der Grundlage professionalitätstheoretischer Überlegungen wird das berufliche Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen in seiner inneren Logik zu beschreiben versucht. Hierbei rücken insbesondere berufliche Handlungsdilemmata in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Relationierung eines Fallbeispiels mit anerkennungstheoretischen Impulsen dient zur Verdichtung der Thematik.
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103 Fachbeitrag VHN, 78. Jg., S. 103 - 113 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Professionelles Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen zwischen ethischer Begründbarkeit und Berufsmoral? Andrea Dlugosch Leibniz Universität Hannover n Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um ethische Orientierungen für das sonder- und heilpädagogische Handeln und auf der Grundlage professionalitätstheoretischer Überlegungen wird das berufliche Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen in seiner inneren Logik zu beschreiben versucht. Hierbei rücken insbesondere berufliche Handlungsdilemmata in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Relationierung eines Fallbeispiels mit anerkennungstheoretischen Impulsen dient zur Verdichtung der Thematik. Schlüsselbegriffe: Professionelles Handeln, ethische Orientierungen, Berufsmoral, Anerkennung Between Ethics and Moral Commitment - Professional Acting in the Context of Social and Emotional Difficulties and Behavioural Disorders? n Summary: In her article the author attempts to describe the inner logic of the professional acting in the context of behavioural disorders and social/ emotional difficulties. Her analysis is based on the current debate on ethical orientations for special educational practice and in due consideration of the theory of professionalism. Her attention is especially focused on professional dilemmas in special educational practice. She expounds and summarises this topic by means of a case study referring to theoretical considerations upon esteem and respect. Keywords: Ethical orientation, professional practice, professional moral commitment, behaviour disorders, esteem 1 Aktuelle Aspekte berufsethischer Fragestellungen Im Feld der Sonderbzw. Heilpädagogik rücken jüngst „Kontroversen um einen berufsethischen Eid“ ins Zentrum der Betrachtung (vgl. Meier 2008). Die Vorstellung einer ausgesprochenen berufsethischen Verpflichtung für das berufliche Handeln, analog zum Hippokratischen Eid der Ärzteschaft, steht im Zusammenhang mit einer gesteigerten öffentlichen Sensibilität für Annahmen des Seins und Sollens, die sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in diversen beruflichen Sparten zu beobachten ist. So stellte Hartmut von Hentig bereits in den 1990er Jahren einen „Sokratischen Eid“ für die Lehrer- und Erzieherschaft vor, in dem Verpflichtungsaspekte gegenüber dem Kind, aber auch gegenüber sich selbst zum Ausdruck kamen (v. Hentig 1993, 258). In welcher Hinsicht damit den von jeher immanenten ethischen Grundfragen von Pädagogik und Sonder- und Heilpädagogik adäquat begegnet werden kann, bleibt näher zu untersuchen. Die Aktualität der Debatte lässt jedoch vermuten, dass in Disziplin und Profession das Bedürfnis nach Antworten und Verbindlichkeiten wächst. Aktuell liegen Ausführungen zu einer „heilpädagogischen Haltung“ vor, deren Kernelement die Achtung der menschlichen Würde (anthropologische Perspektive) darstellt, gefolgt von den „miteinander verbundenen Variablen Wertschätzung und emotionale Wärme, Echtsein und Echtheit sowie einfühlendes Verstehen (psy- VHN 2/ 2009 104 Andrea Dlugosch chologische Perspektive). Aus pädagogischer Sicht wird die heilpädagogische Haltung einerseits durch die Elemente Gegenwartsbezogenheit und Zukunftsorientierung, andererseits durch Skepsis geprägt“ (Hofer 2007, 27; Hervorh. i. Orig.). Fengler wählt in seinem Beitrag für pädagogische Nachbarfelder einen anderen Zugriff auf die Thematik. Seine Ausrichtung zielt im Kontext der Diskussion um Qualitätssicherung auf „Ethik-Kriterien“, „deren Erfüllung … mit darüber entscheidet, ob … Helfer in den Bereichen Beratung, Psychotherapie und Supervision ihre Profession verantwortungsbewusst und ethisch begründet ausüben“ (Fengler 2005, 303). Neben einer Basiskompetenz und -performanz im Sinne methodischer Standards führt Fengler als weiteres Kriterium die „reife Helferpersönlichkeit“ an. Dieses Kriterium zielt auf die Kongruenz zwischen Wissen und Kompetenz und der erforderlichen Aufgabe. Ethisches Handeln sei dann gewährleistet, wenn nur solche Aufgaben des Helfens übernommen werden, „denen sie (z. B. die Berater, d. Verf. ) im Grad ihrer Reifung durch Berufserfahrung gewachsen sind. Denn nur dann werden sie ihren Auftrag in der besten Qualität ausführen können“ (306). Die „Stützung des Klienten“ und das „Wohlbefinden des Helfers“ beschreiben die beiden Pole der Fürsorge für den Anderen einerseits und der Selbstfürsorge andererseits (307f ). Gleichwohl räumt Fengler ein, dass diese Kriterien zwar „ein wenig Orientierung geben“, sie „entlasten aber nicht vor heiklen Entscheidungen im Einzelfall“ (308). Für diese Fälle sei es vielmehr von Vorteil, keine raschen Antworten zu wissen. Die aktuellen Thematisierungen von wert- und normengeleiteten Verbindlichkeiten und der Ruf nach übergreifenden Orientierungen, auch im Fachdiskurs, sind vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen nachvollziehbar. Konsequenzen der Individualisierung wie bspw. der Multioptionalität setzen Chancen und Zwänge und damit einhergehende Unsicherheiten gleichermaßen frei. Technologischer Fortschritt und u. a. hypermediale Vermittlungen lassen ehemals festgefügte Orientierungs- und Begründungsmuster erodieren. Letztbegründungen erscheinen immer weniger wahrscheinlich, und gleichzeitig entsteht ein Orientierungsvakuum, das an die Stelle ehemals eindeutiger Antworten oder übergreifender Erklärungsmuster tritt und das individuell aufgefangen werden muss. Im systemtheoretischen Ansatz nach Niklas Luhmann wird Ethik als Reflexionsinstanz der Moral verstanden. Sie stellt daher eine Subtheorie der Systemtheorie dar (vgl. Horster 2007, 14). Diese Perspektive beschreibt ein paradoxes Verhältnis von gesellschaftlichen Subsystemen und Moral: Einerseits sind die Subsysteme der Gesellschaft wie Erziehung, Wissenschaft, Wirtschaft oder auch Politik aufgrund der eigenen Systemcodes von der Moral abgekoppelt, andererseits sind sie auf die Moral angewiesen (vgl. ebd., 6). Die systemtheoretische Perspektive setzt insbesondere drei Impulse: a) Der Systemcode des Erziehungssystems vermittelbar/ nicht vermittelbar und der Moralcode gut/ schlecht sind inkongruent. Moral kann potenziell irritierend wirken, muss sie aber nicht. b) Gelingende Interaktion und soziales Handeln sind darauf angewiesen, dass manche Optionen wahrscheinlicher sind als andere, d. h., dass Potenzialitäten sich verringern. Die Moral fungiert hier als Filter für die unüberschaubare Anzahl von Möglichkeiten aufgrund der doppelten Kontingenz. c) Achtung und Missachtung geben einen inhaltlichen Hinweis auf den Kernbestand der Moral (vgl. Horster 2007 6ff ). Der Begriff der Achtung stellt in diesem Zusammenhang eine Orientierungsgröße dar, welche im ethischen Diskurs als Regulativ interpersonaler Beziehungen angeführt wird und in der Linie Kants „sogar in dem Sinn die Funktion eines höchsten Prinzips aller Moral (übernimmt), dass er den Kern des kategorischen Imperativs enthält, jeden anderen Menschen nur als Zweck in sich selber zu behandeln“ (Honneth 1997, 25). VHN 2/ 2009 105 Professionelles Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen Im Folgenden kann der detaillierte (sozial-) philosophische Diskurs, auch in seinen Herleitungslinien, nicht umfassend abgebildet werden. Ich beschränke mich daher auf relevante Perspektiven im Rahmen der Professionalitätsdebatte. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die eingebrachten Kategorien, die auch als „Sinnformeln“ verstanden werden können: „Eine Sinnformel ist ein symbolischer Formenkomplex, der eine komprimierte Antwort auf eine oder mehrere Grundfragen darstellt. Sie kann für nur eine soziale Gruppe oder auch für große Kollektive Gültigkeit haben“ (Geideck/ Liebert 2003, 3). „Wenn Sinnformeln in die Diskussion kommen, werden Grundfragen und die bisherigen Antworten und legitimierenden Ideen explizit gemacht. Es werden eine oder mehrere Grundfragen neu aufgeworfen und neu oder anders beantwortet“ (6). Am Übergang zu professionalitätstheoretischen Aspekten pädagogischen Handelns sollen im Hinblick auf die folgenden Ausführungen an dieser Stelle zwei Aspekte hervorgehoben werden: 1. Volkers verweist darauf, dass „die Rolle des Pädagogen als Schnittstelle zwischen Lebenswelt und System (…) den Akteur in einen moralischen Konflikt manövrieren (kann), wenn er einerseits dem berufstypischen Ethos folgen will, ‚für das Kind‘ zu handeln, und sich andererseits gezwungen sieht, die institutionsabhängigen Normen aufrecht zu erhalten, d.h. ‚für die Institution zu handeln‘. Der Konflikt besteht dann darin, dass er sich gezwungen sehen kann, die erziehungsorientierte Einstellung zugunsten der Machtorientierung aufzugeben“ (Volkers 2004, 177). Bleidick vermutete bereits in den 1980er Jahren zum Konfliktpotenzial von System und Lebenswelt, dass dieses für die Sonderpädagogik in den nächsten Jahrzehnten substanziell werden würde (vgl. Bleidick 1980, 72). Merkmale der formalen Organisation (routinisierte Abläufe wie Anwesenheit, Kontrolle, Verfahren; Inhalte und Raum- und Zeitstrukturen) „schränken die Interaktion systematisch ein“ (Volkers 2004, 163). Damit wird ein Hinweis auf die besondere Anforderungsstruktur pädagogischen Handelns gegeben, die im Rahmen professionalitätstheoretischer Erörterungen weiter zu entfalten ist. 2. Weiter auszuführen ist auch, inwieweit sich im Kontext von Verhaltensstörungen spezifische Problemkonstellationen ergeben, die an professionelles Handeln besondere Ansprüche stellen. Beide Aspekte werden im Folgenden aufgegriffen. 2 Anforderungen an professionelles Handeln Im Rahmen der Professionalitätsdebatte ist seit den 1980er Jahren insbesondere von Interesse, wie das professionelle Handeln in seiner Struktur beschrieben werden kann, das heißt, wie sich die innere Logik, je nach spezifischem Handlungsfeld, darstellt. Pädagogisches Handeln als face-to-face-Handeln stellt Pädagogen, im Gegensatz zu lediglich anwendungsorientierten Berufen, vor die Aufgabe, Antworten auf widersprüchliche, zum Teil paradoxe Anforderungen zu finden. Es changiert u. a. zwischen Fallbezug und Begründungswissen sowie zwischen Rolle und Person und ist aufgrund seiner emergenten Struktur als fehleranfällig und ungewiss einzuschätzen. Die Figur professionellen Handelns ist von daher von vielen Unwägbarkeiten durchzogen und auf personelle und institutionelle Kapazitäten angewiesen, die das Aushalten und Austarieren von Widersprüchen ermöglichen (vgl. Dlugosch 2003, 2005, i. V.). Ethische Orientierungen oder moralische Verpflichtungsaspekte finden ebenfalls Eingang in die in der Debatte vorgestellten Entwürfe, insbesondere für das schulische Handlungsfeld und das Handeln als Lehrperson. Combe setzt den folgenden inhaltlichen Akzent: „Und wenn VHN 2/ 2009 106 Andrea Dlugosch es einen Bereich gibt, der sich als berufsethischer Kern der pädagogischen Professionalität bezeichnen ließe, so ist das genau dies: ein lebendiges Interesse an Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch an spezifischen Nöten und Schwierigkeiten, die Schülerinnen und Schüler in ihrer psychischen Entwicklung und in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Schule haben“ (Combe 1996, 511f ). Im Hinblick auf die professionelle Kompetenz von Lehrkräften werden die Fragen von Werthaltungen und Überzeugungen für pädagogische Zusammenhänge ebenfalls diskutiert. Baumert und Kunter betrachten in ihrem „generischen Modell professioneller Handlungskompetenz … Wissen und Können (knowledge) einerseits und Werthaltungen (value commitments) und Überzeugungen andererseits“ als „kategorial getrennte Kompetenzfacetten“ (Baumert/ Kunter 2006, 496; Hervorh. i. Orig). Ihrer Ansicht nach „(beanspruchen) Wissen und Überzeugungen (…) einen unterschiedlichen epistemologischen Status, auch wenn die Übergänge fließend sind“ (496). Sie stellen fest, dass es bis heute unklar sei, „welche Auswirkungen spezifische Wertpräferenzen für das professionelle Handeln haben und inwieweit diese Präferenzen im Zusammenhang mit den institutionellen Selektionsregeln des Systems stehen“ (498). Sie gehen jedoch davon aus, „dass die Ausprägungen der Berufsmoral sowohl für den Umgang mit Heterogenität als auch für Unterstützungsqualität von Lernumgebungen oder die bevorzugten Referenznormen bei der Leistungsbewertung bedeutsam sind“ (498). Die Autorenschaft weist darauf hin, dass es, obwohl eine Orientierungsfunktion der Berufsethik für alle Professionen angenommen werden kann, hierzu „(…) bemerkenswert wenige Arbeiten (gibt), die Wertbindungen im Lehrerberuf in ihrer Bedeutung für professionelles Handeln untersuchen“ (497). Eine Ausnahme stellt für sie die Theorie der Berufsmoral von Lehrkräften nach Oser (1998) dar, „in deren Zentrum die Verpflichtung auf Fürsorge, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit steht“ (Baumert/ Kunter 2006, 497). Die genannten Verpflichtungsaspekte stehen zueinander ggf. in einem widersprüchlichen Verhältnis. In professionellem Handeln geht es deshalb um deren Ausbalancierung und diskursive Begründung (vgl. Baumert/ Kunter 2006, 497). Oser (1997), verabschiedet sich von einer „Heldenmoral“, da diese Überforderungen produziere, und will auch den Begriff des Ethos, entgegen der philosophischen Tradition, anders akzentuieren. Er favorisiert vielmehr professionsmoralische Verfahren, „welche auf Verantwortungswissen basieren“ und welche „(…) angewendet werden (können), um Gefahren des kommunikativen Scheiterns vorauszusehen, Verletzungen mittels Diskurs gutzumachen und moralische Qualität zu sichern“ (Oser 1997, 225). 3 Sonderpädagogische Zuspitzungen Für die Behindertenbzw. Sonder- und Heilpädagogik ergibt sich unter den Bedingungen von Benachteiligungs- und Exklusionsrisiken und der Krisenhaftigkeit von Lebenspraxen allgemein eine erhöhte Sensibilität für die ethische Reflexion herrschender Wertvorstellungen und in der Praxis geltender und wirksamer Normen. Im Vergleich zu allgemein pädagogischen Handlungsfeldern scheint sich das beschriebene Anforderungsprofil zu verschärfen: „Sonderpädagogisches Handeln geschieht unter einer existentiell zugespitzten Bildungsparadoxie: Akzeptieren oder Fördern. … Die Paradoxie ist dieselbe, wenn es sich um ein schwerbehindertes Kind handelt, das nur dann Entwicklungsfortschritte macht, wenn dafür ein Bedarf entstanden ist, oder um ein Kind mit Verhaltensproblemen, das mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert wird. Sonderpädagogische Professionalität muss stets Halten und Zumuten, Anerkennen und Konfrontieren aufeinander beziehen und Unvereinbares aushalten. Sicherlich ist diese Spannung auch im ‚Normalfall‘ der Erziehung vorhanden, doch nicht in diesem Ausmaß und VHN 2/ 2009 107 Professionelles Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen in dieser existentiellen Bedeutung“ (Dlugosch/ Reiser i.V.). Im Arbeitsfeld der schulischen Erziehungshilfe ergeben sich besondere Spannungsfelder zwischen dem unterrichtlichen Sachbezug und der Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung, die zumeist dyadisch konzipiert wird (vgl. Dlugosch 2008, 238ff ). Für Opp ist es „unabweisbar, dass die Komplexität von Unterricht für Kinder und Jugendliche mit Gefühls- und Verhaltensstörungen massiv gesteigert ist. Die Erziehung und Unterrichtung dieser Schüler ist gerade dadurch charakterisierbar, dass mit extremen Reaktionen auf Normalsituationen und durch den weitgehenden Zusammenbruch normativer und konventioneller Rahmenbedingungen gerechnet werden muss, die eigentlich die unabdingbare Voraussetzung geordneten Unterrichts darstellen“ (Opp 2007, 187). Auch Volkers diskutiert im Kontext von Verhaltensstörungen die zugespitzte Fragestellung der „Normabweichung in formaler Erziehung“ (Volkers 2004, 165ff ). Er resümiert bewusst offen formuliert, „dass die Aufrechterhaltung der erziehungsorientierten Einstellung einen flexiblen Umgang mit institutionsabhängigen Normen verlangt“ (180). Opp vermutet hinter dem Entschluss, mit den schwierigsten Kindern zu arbeiten, eine ethische Entscheidung (vgl. Opp 2007, 189). „Dies beinhaltet nicht nur eine grundsätzliche Anerkennung des Hilfeanspruchs dieser Kinder und Jugendlichen, deren Biographien von Missachtungen, Misshandlungen, Missbrauch und traumatischen Beziehungsabbrüchen durchzogen sind. Diese Entscheidung beinhaltet die Bereitschaft, sich mit diesen Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen, es auszuhalten, beschimpft und angegriffen zu werden, ohne als Person gemeint zu sein“ (189f ). Die spezifische Konstellation, die sich zum Teil zwischen Missachtungserfahrungen der Klientel einerseits und den Antworten des Pädagogen andererseits herstellt, soll im Folgenden anhand eines erläuterten Fallbeispiels verdeutlicht werden. 4 Pädagogisches Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen - anerkennungstheoretische Impulse In Bezug auf das fragile professionelle Handlungsgeschehen verweisen Combe und Helsper unter Rekurs auf Axel Honneth auf den „Interaktionsmodus der Anerkennung“ (2002, 43). Im Hinblick auf eine professionelle Entwicklung zwischen ethischer Begründbarkeit und Berufsmoral erscheint der Ansatz von Honneth als ein Zugang erster Wahl, da damit das Interaktionsgeschehen in seinen unterschiedlichen Dimensionierungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Deshalb sollen anerkennungstheoretische Impulse im Anschluss an die Fallsequenzen einer vertiefteren Durchdringung der Thematik dienen. Erstkontakt - Missachtung und Ablehnung Das Fallbeispiel, das ich an dieser Stelle in Ausschnitten schildere, bezieht sich auf ein förderdiagnostisches Praktikum einer Studentin (B.) im Bereich emotionale und soziale Entwicklung. Für das genannte Kind wird zeitgleich das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs von der nachfragenden Institution angestrebt. Insofern handelt es sich um eine durchaus typische berufliche Anforderungssituation. B. kommt als Studentin der Sonderpädagogik an eine Grundschule in einem großstädtischen Raum. Ihr wird ein Schüler vorgestellt, der im Folgenden Norman genannt wird. Norman hat bereits einen Schulwechsel nach den ersten Tagen der ersten Klasse an einer anderen Grundschule hinter sich. Die Lösung der jetzigen Grundschule heißt bis auf Weiteres: Vorklasse. Norman wird B. als ein extrem auffälliger Schüler beschrieben, der andere Kinder, auch oft unvermittelt, schlage. In solchen Situationen zur Rede gestellt, ducke er sich, und es sehe so aus, als ob er sich nun selbst vor körperlicher Bestrafung fürchte, wie B. im weiteren Verlauf selbst beobachten könne. Bei jeglicher Berührung „raste er aus“. Er spucke andere Kinder an. Er sei, so die Grundschullehrerin, eigentlich nicht tragbar. B. kommt am verabredeten Termin in die Vorklasse. Die Grundschullehrerin stellt ihr Norman vor. Norman formt symbolisch mit seinen Händen eine Pistole und „knall B. ab“. Dieses Muster beherrscht die Erstkontaktsituation. B. hat VHN 2/ 2009 108 Andrea Dlugosch den Eindruck, dass das Verhalten keinesfalls nur als Spiel zu verstehen sei. Sie ist erschüttert über die von ihr erlebte Ablehnung und auch irritiert. Der Fallausschnitt verdeutlicht, dass sich professionelle Interaktionsbeziehungen in einem Medium ereignen (können), das von Beginn an im Erleben gegenseitige Anerkennungsformen in Zweifel ziehen lässt. Die im Allgemeinen vorauszusetzende basale Sicherheit und Gegenseitigkeit ist gerade nicht gegeben. Jeder Versuch der Kontaktaufnahme vonseiten der Studentin wird mit einer„symbolischen Vernichtung“ beantwortet, wodurch ihre eigene Integrität erschüttert wird. Im Kontext der Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist davon auszugehen, dass einem Großteil der Kinder und Jugendlichen jene intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen nicht zuteil wurden, „deren Existenz zusammengenommen die Voraussetzung für die Integrität des Menschen bilden“ (Honneth 1990, 1048; Hervorh. d. Verf.). Vor diesem Hintergrund können Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen als gegenwärtige Bewältigungsformen von Missachtungserfahrungen verstanden werden. Honneth erläutert drei Missachtungsweisen oder -typen, die er graduell im Hinblick darauf unterscheidet, wie sie „die praktische Selbstbeziehung einer Person dadurch erschüttern können, dass sie ihr die Anerkennung bestimmter Identitätsansprüche entziehen“ (1045). Die basalste Ebene der Missachtung „(berührt) die Schicht der leiblichen Integrität einer Person (…): jene Formen der praktischen Misshandlung, in denen einem Menschen alle Möglichkeiten der freien Verfügung über seinen Körper gewaltsam entzogen werden“ (1045f ). Ist bei erwachsenen Personen davon auszugehen, dass Missachtungsformen wie Folter oder Missbrauch dazu führen, dass eine „gelungene Integration von leiblichen und seelischen Verhaltensqualitäten (…) gewissermaßen nachträglich von außen aufgebrochen und damit die elementarste Form der praktischen Selbstbeziehung, das Vertrauen in sich selber, nachhaltig zerstört (wird)“, so wird in den frühesten Stadien der menschlichen Entwicklung ein „früherlernte(s) Vertrauen in die Fähigkeit der autonomen Koordinierung des eigenen Körpers“ soweit verhindert, dass der Aufbau einer kohärenten Identität als solche auf dem Spiel steht (Honneth 1990, 1046). Honneth unterscheidet zwei weitere Formen der Missachtung: „Von diesem extremen Typ der Missachtung, der die Kontinuität eines positiven Selbstbildes schon auf der leiblichen Ebene unterbricht, sind jene Formen der Erniedrigung abzugrenzen, die das normative Selbstverständnis einer Person betreffen … Das Besondere an solchen Formen der Missachtung … stellt daher nicht die vergleichsweise Einschränkung der persönlichen Autonomie alleine dar, sondern deren Verknüpfung mit dem Gefühl, nicht den Status vollwertiger, moralisch gleichberechtigter Interaktionspartner zu besitzen … Gegenüber diesem zweiten Typ der Missachtung … lässt sich schließlich noch eine letzte Art der Erniedrigung ausmachen, die sich negativ auf den sozialen Wert von Einzelnen oder Gruppen bezieht“ (1046f ). Liebe, Recht und Solidarität stellen nach Honneth hingegen die korrespondierenden Anerkennungsformen dar, die eine positive Selbstbeziehung befördern. Mit ihnen „sind diejenigen formalen Bedingungen von Interaktionsverhältnissen festgelegt, in deren Rahmen sich menschliche Wesen ihrer ‚Würde‘ oder Integrität sicher sein können“ (Honneth 1990, 1051). Die erste Form der „emotionale(n) Bejahung“, wie sie unter günstigen Bedingungen für Primärbeziehungen gilt, unterscheidet sich von den anderen Anerkennungsformen dadurch, dass die Personen unmittelbar als leibliche Gegenüber gemeint sind (1049). „Die positive Einstellung, die der Einzelne gegenüber sich selber einzunehmen vermag, wenn er solche affektive Anerkennung erfährt, ist die des Vertrauens in sich selber; damit ist die Grundschicht einer emotionalen, leibgebundenen Sicherheit in der Äußerung eigener Bedürfnisse und Empfindungen gemeint, die die psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung bildet“ (1049). VHN 2/ 2009 109 Professionelles Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen Für professionelles pädagogisches Handeln stehen für Combe und Helsper, im Unterschied z. B. zur naturwüchsigen Erziehung, zwei der drei Anerkennungsbeziehungen im Zentrum: Wenn Honneth „zwischen der primären, auf Sorge und Leiblichkeit beruhenden Anerkennung, der moralischen Anerkennung des Anderen als eines Gleichberechtigten und der Anerkennung des Anderen in seiner Besonderheit und Differenziertheit verweist …, so beziehen sich die pädagogischen Anerkennungsbeziehungen vor allem auf die zweite und die dritte Dimension. Sie berühren dort allerdings die emotionale, fürsorgliche Anerkennung, wo es um die professionelle Sorge um die Adressaten geht, die den Aufbau von Interesse impliziert. In diesem Sinne ‚wiederholt‘ sich die primäre Anerkennung auf einem höheren, professionellen Niveau und wird dabei stärker in den universalistischen Raum einer Fürsorgeethik gestellt, d. h., diese Fürsorge des Professionellen steht prinzipiell allen Hilfsbedürftigen ohne Ansehen der Person zur Verfügung“ (Combe/ Helsper 2002, 42). An den Grenzen der Erziehung verlangt diese Form fürsorglicher Anerkennung jedoch von den Pädagogen ein hohes Maß an Selbstdistanzierung, sodass ein Fürsorgebestreben auch unter hohen emotionalen Anforderungen aufrechterhalten werden kann. Gegenseitigkeit herstellen Auf die von B. gestellte Frage, warum er sie abschieße, entgegnet Norman: „Weil ich dich nicht will! “ B. wird im Verlauf deutlich, dass sie dem Jungen von der Grundschullehrerin als eine Person vorgestellt worden war, die ihn „untersuchen“ soll. Wie sich herausstellt, hat Norman einen Krankenhausaufenthalt hinter sich. Er steht wegen seines ausbleibenden altersangemessenen Wachstums weiterhin unter ärztlicher Kontrolle. Seine Körpergröße ist für ihn ein andauerndes Thema. Er wirkt selbst gegenüber den anderen jüngeren Kindern der Vorklasse zierlich und klein. B. verfolgt die Hypothese, dass sie für Norman in die gleiche, zumindest bei ihm Misstrauen erweckende Kategorie einer untersuchenden Ärzteschaft fällt. In Gesprächen und durch ihr Verhalten versucht sie, ihm zu verdeutlichen, dass er keine Angst vor ihr zu haben brauche. In einer darauf folgenden Situation, in der die Grundschullehrerin der ganzen Klasse eine Geschichte vorliest, setzt sich Norman unvermittelt auf B’s Schoß, schmiegt sich an sie und will nicht mehr von ihr lassen. Obwohl sich B. zugesteht, dass sie zunächst erleichtert war, dass Norman sie wohl doch nicht ganz ablehne, empfindet sie dieses extreme Näheverhalten im weiteren Verlauf als unangenehm. Zwar ist damit eine Annäherung geschehen, aber diese stellt den anderen Extrempol des Nähe- Distanz-Verhältnisses dar. B. merkt, dass sie ein Regulativ braucht, damit überhaupt ein für sie angemessener Kontakt zustande kommen kann. Am nächsten Tag bringt sie eine Papiertüte mit einem bunten aufgedruckten Bären in die Schule mit. Sie erklärt Norman, dass dieser Bär nun jeden Tag dabei sei und darauf aufpasse, dass mit Norman nichts geschehe, was er nicht wolle. Der Kontakt lässt sich über die „Bär-Instanz“ besser regulieren, auch wenn die geschilderten ambivalenten Verhaltensweisen noch vorkommen. Für B. ist so annähernd eine erste Arbeitsgrundlage hergestellt. Am Folgetag bringt Norman seinen eigenen Stoff-Bären von zu Hause mit und zeigt ihn B. Diesem erzähle er immer zu Hause, was ihn beschäftige. Die Bären-Tüte stellt etwas gemeinsames Drittes dar, worauf sie sich beiderseits beziehen können. Auch wenn Combe und Helsper für pädagogisches Handeln aufgrund der Rollenhaftigkeit die Fürsorge auf einem „höhere(n), professionellen Niveau“ (Combe/ Helsper 2002, 42) konstatieren, so wird durch das Fallbeispiel deutlich, dass sich Pädagogen im Interaktionsgeschehen unvermittelt in der Position eines „leiblichen Gegenübers“ wiederfinden können, das Nähebedürfnisse über Körperlichkeit und Emotionalität befriedigen soll. „Weil Bedürfnisse und Affekte in gewisser Weise überhaupt nur dadurch ‚Bestätigung‘ erhalten können, dass sie direkt befriedigt oder erwidert werden, muss die Anerkennung hier selber den Charakter affektiver Zustimmung und Ermutigung besitzen; insofern ist dieses Anerkennungsverhältnis auch an die leibhaftige Existenz konkreter Anderer gebunden, die einander Gefühle VHN 2/ 2009 110 Andrea Dlugosch besonderer Wertschätzung entgegenbringen“ (Honneth 1990, 1049). Ist die Erfüllung dieses primären Bedürfnisses zu verwehren, wenn anzunehmen ist, dass bisherige Erfahrungen in Primärbeziehungen hierfür nicht auszureichen scheinen und wenn es doch die „psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung bildet“ (1049)? Honneth weist darauf hin, dass dieser Modus der reziproken Anerkennung über die Primärbeziehungen hinaus nicht zu verallgemeinern sei, „weil Einstellungen der emotionalen Bejahung an die individuell unverfügbaren Voraussetzungen von Sympathie und Anziehung gebunden sind“ (ebd., 1049). In dem geschilderten Fall wählt die Studentin einen Interaktionsmodus, der durch die Einbeziehung eines (altersabhängig modifizierten) „unabhängigen Dritten“ eine neue Qualität der Beziehung ermöglicht. Es eröffnet sich die Chance von gegenseitiger Verlässlichkeit und Vertrauen auf einem anderen als dem leibgebundenen affektiven Niveau. Honneths Ausführungen lassen auch die Frage aufscheinen, inwieweit „ein Verhältnis der solidarischen Zustimmung zu alternativen Lebensweisen“ (Honneth 1990, 1050), das er mit dem dritten Anerkennungsmodus der Solidarität assoziiert, möglich scheint. Im Kontext von Verhaltensstörungen setzt die Anerkennung des Anderen in seiner „Besonderheit und Differenziertheit“ (Combe/ Helsper 2002, 42) eine Einstellung voraus, die sich nicht in negativer Konnotierung und Sanktionierung des Störungsverhaltens erschöpft, sondern darin die Besonderheit biografischer Erfahrungsaufschichtung (an)erkennt. Diese Anteilnahme (vgl. Honneth 2005, 56ff in Verweis auf Cavell 2003) ist nicht im Sinn von „positive(n), freundliche(n) Gefühlsregungen“ zu verstehen, „gemeint ist damit nur die existentielle, bis ins Affektive hineinwirkende Tatsache, dass wir den Wert des Anderen in der Einstellung der Anerkennung bejahen müssen, selbst wenn wir ihn im Augenblick verfluchen oder hassen“ (ebd., 59f ). Berufliche Handlungsdilemmata B. versucht in Bezug auf ihren Auftrag, ein förderdiagnostisches Gutachten zu erstellen, voranzukommen. Hierfür will sie weitere Daten anhand von Übungen und auch Testverfahren sammeln. Gemäß ihrer Zusage fragt sie Norman bei jedem Schritt für die Datensammlung, ob er damit einverstanden sei. Norman lehnt fast alle ihre Vorschläge ab. Insbesondere bei vorgeformten Aufgaben (z. B. Arbeitsblätter) oder auch Testaufgaben verweigert er seine Mitarbeit. B. merkt, dass sie sich in einem Zwiespalt und unter Druck befindet: Einerseits hat sie Norman zugesichert, dass er nichts zu machen braucht, was er nicht will, andererseits sieht sie sich ihrer Aufgabe verpflichtet, zumal ja ein diagnostischer Prozess gerade im Dienst der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen steht und hierzu wichtige weitere Erkenntnisse liefern kann. B. entschließt sich, ihr Wort zu halten, auch auf die Gefahr hin, dass für sie selbst Nachteile entstehen. Sie entscheidet, dass die Verlässlichkeit auf sie als Interaktionspartnerin in diesem Fall wichtiger ist als der Prozess der Gutachtenerstellung. Der hier eingeleitete Transfer des Anerkennungskonzeptes auf die Frage professionellen Handelns ist durchaus nicht unumstritten. Eine Schwierigkeit ergibt sich z. B. dann, wenn davon auszugehen ist, dass Anerkennung „sich als Ausdruck einer eigenständigen Absicht begreifen lassen muss“, d. h. wenn wir es „nur dann mit einem Fall von ‚Anerkennung‘ zu tun (haben), wenn ihr primärer Zweck in irgendeiner Weise affirmativ auf die Existenz der anderen Person oder Gruppe gerichtet ist“. Das würde ausschließen, „als eine Form von ‚Anerkennung‘ positive Einstellungen zu begreifen, die zwangsläufig mit der Verfolgung einer Reihe von anderen Interaktionsinteressen einhergehen“ (Honneth 2003, 319). Pädagogisches Handeln ist immer zielgerichtet und aufgabenbezogen und steht im Spannungsfeld auch anderer Interaktionsinteressen. Insbesondere diagnostische Prozesse scheinen die Sachlage zuzuspitzen, da sie auf Erkenntniswissen und Prozesse der Verobjektivierung angewiesen sind. In seiner anerkennungstheoretischen Studie zur „Verdinglichung“ verweist Honneth da- VHN 2/ 2009 111 Professionelles Handeln im Kontext von Verhaltensstörungen rauf, „dass die Frage nach den Kriterien für Prozesse der Verdinglichung überhaupt anders gestellt werden muss: Solange wir an der simplizistischen Vorstellung festhalten, der zufolge jede Form des teilnahmslosen Beobachtens in einem Gegensatz zur vorgängigen Anerkennung steht, tragen wir dem Gedanken zu wenig Rechnung, dass die Neutralisierung jener Anerkennung und Anteilnahme im Normalfall dem Zweck intelligenter Problembewältigung dient“ (2005), 67). Eine Verdinglichung bedeutet nach Honneth vielmehr, „das Faktum ihrer vorgängigen Anerkennung aus den Augen zu verlieren“ (76), es handelt sich also um eine „Anerkennungsvergessenheit“ (62). Damit wird die einfache oppositionelle Anordnung von Anerkennung einerseits und zweckorientierten Erkenntnisweisen andererseits auf eine höhere Ebene transformiert: „Auf dieser höheren Ebene, auf der es um Modi der Beziehung geht, lassen sich zwei Pole ausmachen, die die einfache Oppositionsbildung ersetzen können …: Den anerkennungssensitiven Formen des Erkennens auf der einen Seite stehen solche Formen des Erkennens auf der anderen Seite gegenüber, in denen das Gespür für ihre Herkunft aus der vorgängigen Anerkennung verloren gegangen ist“ (67). Im zweiten Fall haben wir es „mit einer Vereinseitigung oder Verhärtung der erkennenden Haltung durch die Verselbständigung ihres Zweckes zu tun oder aber... mit der nachträglichen Leugnung der Anerkennung um eines Vorurteils oder Stereotyps willen“ (72). Insofern wäre in dem beschriebenen Fallbeispiel zu beleuchten, inwieweit die zweckorientierten Erkenntnisweisen des diagnostischen Prozesses im Bewusstsein einer vorgängigen Anerkennung erfolgen, Letztere also gerade nicht in Vergessenheit gerät. Aber auch wenn wir eine Anerkennungspräsenz unterstellen, bleibt ein Dilemma bestehen. Die Studentin entscheidet, dass sie der versprochenen Verlässlichkeit den Vorrang einräumt. Welcher der Anerkennungsmodi, insofern eine konfligierende Konstellation besteht, vorzuziehen ist, lässt sich nicht im Voraus bestimmen (vgl. Honneth 1997, 39). „Die Entscheidung bleibt der individuellen Verantwortung übereignet“ (Katzenbach 2004, 133). Reflexionsszenarien B. begleitet Norman beim Schwimmunterricht. Sie stellt fest, dass er extrem ängstlich ist, sich nicht zutraut, ins Wasser zu gehen. Ähnliches gilt für den Sportunterricht. In einer Besprechungssituation mit Kommilitonen wird B. darauf hingewiesen, dass sie selbst kaum noch aktiv sei, sich nicht traue, Norman auch zu fordern, ihn „in Watte packe“. Durch diese Beschreibung der Situation wird ihr klar, dass sie sich immer weiter zurückgenommen hat, eigentlich nur noch reagiert und mehr und mehr in Passivität verfallen ist. Sie erkennt Normans Ängstlichkeit bei sich wieder. Insbesondere im Kontext von Verhaltensstörungen, in denen affektive Zustände unterschiedlicher Qualitäten an der Tagesordnung stehen, sind Pädagogen vermehrt auf Unterstützungsszenarien angewiesen (vgl. Opp 2007, 190). Diese können Verdinglichungsprozessen, auch der „Selbstverdinglichung“ (vgl. Honneth 2005, 78ff ), entgegenwirken. Interaktionsgeschehen im Kontext von normabweichenden Verhaltensweisen, das zudem das eigene Integritätsgefühl des Pädagogen in Frage stellen kann, ist als eine gesteigerte Herausforderung an professionelles Handeln zu betrachten. Für pädagogische Professionalität gilt es deshalb, „in Antinomien denken zu können und dennoch handlungsfähig zu bleiben. Dazu braucht es - mindestens - zweierlei: Zum einen Begriffe für die widersprüchliche Einheit der Praxis und zum anderen methodisch kontrollierte Verfahren der (Selbst-)Reflexion“ (Katzenbach 2004, 142). 5 Resümee Erziehungs- und Bildungsprozesse im Rahmen professionellen Handelns orientieren sich über eine reine Sachorientierung hinaus daran, dass die Möglichkeiten für Emanzipation und Partizipation wachsen. Initiierte Lern- und Bil- VHN 2/ 2009 112 Andrea Dlugosch dungsprozesse verlaufen in einem Medium der Gegenseitigkeit, eine durchaus nicht immer leicht herzustellende und zu bewältigende Aufgabe. Die im Handeln auftretenden Geltungsbereiche stehen ggf. zueinander in einem Spannungsverhältnis. Aufgrund der Mehrdeutigkeit im Entscheidungshandeln sind eindeutige Lösungen oftmals gerade nicht klar vor Augen, sondern es kommt auf die Qualität einer abwägenden Entscheidung an, die z.T. nicht allen geforderten Dimensionen des Berufshandelns gleichermaßen gerecht werden kann. Davon können auch berufsethische Eide nicht entlasten, auch wenn ihnen durchaus andere positiv wirkende Funktionen zugesprochen werden können. Es bleibt bei der Aufforderung der Verantwortungsübernahme im Einzelfall. Daher gilt es, Personen anerkennungssensibel auf die widersprüchlichen beruflichen Anforderungen aufmerksam zu machen und sie in ihrer Fähigkeit der Verantwortungsübernahme zu stärken. Literatur Baumert, Jürgen; Kunter, Mareike (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9, 469 - 520 Bleidick, Ulrich (1980): Ethos, Caritas, System oder der Versuch, pädagogische Hilfe für Behinderte auf einen kategorialen Begriff zu bringen. 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