eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2009
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Pädagogische Raumgestaltung in der schulischen Erziehungshilfe

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2009
Nicola Unger
Angela Brosch
Raumgestaltung an Schulen unter den Aspekten Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen ist ein in Literatur und Forschung marginal behandeltes Thema. Die Frage nach einer pädagogisch-therapeutisch gestalteten Umgebung ist gerade auch aus dem Blickwinkel der Pädagogik bei Gefühls- und Verhaltensstörungen und ihrer Implikationen für Schule und Unterricht unausweichlich. Es finden sich im Überblick über historische wie aktuelle Raumgestaltungskonzepte durchaus Hinweise auf Gestaltungsfaktoren, die für Schulen in Entstehung, Umgestaltung oder Bewegung hilfreich sein können - nicht nur in der schulischen Erziehungshilfe.
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125 Fachbeitrag VHN, 78. Jg., S. 125 - 138 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Pädagogische Raumgestaltung in der schulischen Erziehungshilfe Nicola Unger, Angela Brosch Universität Halle-Wittenberg n Zusammenfassung: Raumgestaltung an Schulen unter den Aspekten Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen ist ein in Literatur und Forschung marginal behandeltes Thema. Die Frage nach einer pädagogisch-therapeutisch gestalteten Umgebung ist gerade auch aus dem Blickwinkel der Pädagogik bei Gefühls- und Verhaltensstörungen und ihrer Implikationen für Schule und Unterricht unausweichlich. Es finden sich im Überblick über historische wie aktuelle Raumgestaltungskonzepte durchaus Hinweise auf Gestaltungsfaktoren, die für Schulen in Entstehung, Umgestaltung oder Bewegung hilfreich sein können - nicht nur in der schulischen Erziehungshilfe. Schlüsselbegriffe: Raumgestaltung, Lern- und Lebensraum Schule Pedagogically Favourable Classroom Environments for Children with Special Educational Needs n Summary: Design and organisation of classroom environments (Schulraumgestaltung) bearing in mind the education and teaching of children and youths are a marginal topic in (special) education literature and research. Yet particularly from the point of view of children and youths with emotional and behaviour problems and their education and instruction a pedagogic and therapeutic classroom environment is an essential precondition for successful schooling. A survey of historical as well as present concepts of “Schulraumgestaltung” reveals several references to design and organisation factors which can be helpful for schools in development, in transition or in movement - not only for schools for children with special educational needs. Keywords: Organisation of classroom environments, school as learning and living environment Pädagogisch gestaltete Lernumwelten sind keine Selbstverständlichkeit - selbst in Sonderbzw. Förderschulen, die eigentlich als spezialisierte Lernumwelt den besonderen Bedürfnissen der Lernenden entsprechen sollten. Viele Schulen halten modernen Erkenntnissen von Lernen und seinen förderlichen Bedingungen nicht stand. Sie sind Einrichtungen öffentlicher oder privater Trägerschaft und damit Spiegel der Möglichkeiten und Schwerpunktsetzungen ihrer Träger. Lehrer wie Schüler beanspruchen und nutzen Gebäude und Außenflächen (ab). Sie stellen gleichzeitig hohe Anforderungen an Aktualität, Entsprechung, Belastbarkeit und Überschaubarkeit. Ebenso wie im privaten Bereich Menschen ihr Zuhause von Zeit zu Zeit durch Renovierungen, neues Mobiliar oder Farben veränderten Lebensbedingungen anpassen, sind Schulen Spiegel der darin lebenden und arbeitenden Menschen. Oftmals zeigen Schulbauten und deren Innengestaltung aber, dass sich kaum Chancen auf Weiterentwicklung, Anpassung und Veränderung im Sinne der aktuellen Nutzer bieten. Toiletten, Flure und Pausenhöfe sind oft trauriges Beispiel für die Ignoranz der Bedürfnisse auf ansprechende Lebensräume, aber auch für die kreative, hier meist zerstörerische Kraft unkontrollierter Schülerkunst. Wo schon die Grundsubstanz der Lebensumgebung nicht anspricht, wo Raum auf seine reine Funktion reduziert wird, wird er eben auch umgestaltet: mit Stiften, Fäusten, Füßen. Gelebt wird hier vielleicht auch, aber (was) gelernt? Es gibt aber durchaus Oasen in der Schullandschaft: Schulen, in denen Kinder und Ju- VHN 2/ 2009 126 Nicola Unger, Angela Brosch gendliche eine Heimat finden, die ihnen Raum gibt zum gemeinsamen Lernen, zum zusammen Sein, zum miteinander Leben. Diese Lebens- und Lernräume finden sich ebenso in „Betonschulen“ wie in kreativ und offen konzipierten Schulbauten. Warum glaubt man sich hier geborgener und wärmer empfangen, findet leichter Gesprächs- und Lernpartner, hat bessere Laune und bleibt gern auch länger als unbedingt nötig in der Schule? Neben den inhaltlichen und menschlichen Attraktoren einer Schule, die oft Hand in Hand mit baulichen Angeboten stehen, ist es von der Architektur her betrachtet vor allem eine Öffnung der Schule zum Leben ihrer Bewohner und Besucher hin. Diese ökologisch gedachte Öffnung zeigt sich durch Transparenz zwischen den möglichst flexiblen Funktions- und Erfahrungsräumen, die das Gebäude bietet, aber auch gegenüber den außerschulischen Lebensräumen und Lernorten und nicht zuletzt in der Ausweitung von Zeit für Begegnung in den Nachmittag hinein. Impulse für Raumkonzepte kommen aktuell auch aus der Diskussion um die Ganztagsschule, die sich dem Aspekt der Lebensnähe und erweiterten Raumnutzungsbedürfnissen neu nähern muss. Die Ausgestaltung der Lebensräume von Schulen muss dabei prinzipiell ästhetisch-gestalterischen Gesichtspunkten Genüge tragen. Ästhetik kann ein Schutzfaktor vor Zerstörung sein und zudem Identifizierung erleichtern - und ist eine pädagogische Aufgabe! 1 Pädagogische Raumgestaltung - inhaltliche Bestimmung Der Begriff impliziert die Verbindung von pädagogischen Prozessen und Räumlichkeit, wie die Zusammensetzung der Worte Lernen und Raum deutlich macht. Schule soll in erster Linie Lernräume bieten, die gleichzeitig Erfahrungsräume sind, denn Lernen ist nicht ohne Erfahrung denkbar (Buck 1989). Um Erfahrungen zu machen, braucht es Raum. „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zu Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung machen, daß kein Raum sei […] Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen […] angesehen […]“ (Kant 1976, 72). Jeder Raum wird von uns individuell erlebt und gelebt. Dies impliziert, dass sich sowohl Erfahrungen als auch Handlungen in ihm vollziehen. Es geht hier nicht um die Gestaltung eines speziellen Raumes, sondern um die Gestaltung von Lebensraum (Bollnow 1990). Die Bedeutung pädagogischer Räume ist vor allem seit der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts Teil der fachlichen Diskussion. So beschäftigte sich z. B. Maria Montessori intensiv mit dieser Frage und schuf den Begriff und das Konzept der „vorbereiteten Umgebung“. Sie sah deren Aufgabe nicht darin, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren, und sie betonte, dass eine Lernumgebung, die den Bedürfnissen der Kinder widerspricht, „… nur dazu dient, die Lebensenergien der Kindheit statt anzufachen, auszulöschen“ (Montessori 1928, 15). Célestin Freinet übte scharfe Kritik am Schulkasernenbau des 19. Jahrhunderts (Göhlich 1993, 14ff ) und integrierte in seinem an der Organisation der Schülertätigkeit orientierten Konzept Werk- und Funktionsbereiche. Kurt Hahn betonte den Zusammenhang von Erleben und Lernen und den pädagogischen Stellenwert außerordentlicher Erlebnis- und Erfahrungsräume. Willy Steiger schuf in Hellerau mit seinem „S’ blaue Nest“ eine „Schulheimat“ mit Kindern und für Kinder (Bilstein 2003, 35ff ). Hier durften Schüler mitgestalten, mit einrichten und mitbestimmen und so ihr eigenes „Nest“ erschaffen. In den Kinderrepubliken und ihren Vorläufern war die Frage nach der Pädagogik des Raumes vor allem auch immer eine Frage nach der Einbindung des Individuums in die Gruppe. So finden sich Raumkonzeptionen in den Lern- und Lebensentwürfen für Kinder und Jugendliche bei Hermann Lietz und den Landerziehungsheimen, bei Paul Geheb in der VHN 2/ 2009 127 Pädagogische Raumgestaltung Odenwaldschule, Kurt Hahn auf Schloss Salem, Karl Wilker im Lindenhof, Siegfried Bernfeld im Kinderheim Baumgarten oder Alexander S. Neill in Dresden-Hellerau und Summerhill und bei anderen reformorientierten Pädagogen. Partizipatorische Raumgestaltung und Raumnutzung nach den Bedürfnissen und Entfaltungsansprüchen der Bewohner war grundlegend. Mit der Raumfrage beschäftigt fanden und finden wir zudem Pädagogen des Elementarbereichs: Beispiel hierfür sind die reformorientierten pädagogischen Kindereinrichtungen in Reggio Emilia, die seit den 1970er Jahren die sog. „Reggio-Pädagogik“ leben und umsetzen. Hier gilt der „Raum als dritter Erzieher“ (van der Beek 2001) und wird gezielt den Entwicklungsbedürfnissen entsprechend gestaltet. Diese Aussage liegt auch im skandinavischen Raum innovativer Lernraumgestaltung zugrunde. Raum als dritter Erzieher meint dabei nicht, dass er die „menschlichen“ Erzieher überflüssig macht oder in einer Erzieher-Hierarchie an dritter Stelle steht. „Mit dem Satz soll ausgesagt werden, dass Räume wirken und zwar so stark, dass sich weder Kinder noch die ErzieherInnen ihrer Wirkung entziehen können“ (ebd., 197). Neben den weltweit verbreiteten Einrichtungen der Montessori-Pädagogik oder den nach Rudolf Steiners architektonischen Grundsätzen organisch gestalteten Waldorfeinrichtungen ist ein deutsches reformpädagogisch inspiriertes Raumkonzept das von Hartmut von Hentig erprobte flexible Großraumkonzept der Bielefelder Laborschule. Seine Vorstellung, Schule als Lebens- und Erfahrungsraum im Versuch „neu zu denken“ (1993, 2003), führte ihn zur zentralen Frage für dessen Gestaltung: „Schule als Erfahrungsraum - geht das, und wie geht das? “ (1973, 17). Trotz der reformpädagogischen Bewegungen muss man mit Blick auf die Gestaltung von Schule und Unterricht heute feststellen, dass der pädagogische Alltag sich von Einheitsschule und Frontalunterricht kaum wegbewegt hat. Die nicht erst seit PISA geforderte „Schule der Zukunft“ steht inhaltlich wie baulich großen Anforderungen gegenüber: Die rasanten Veränderungen der Kindheit haben zur Folge, dass Lernen und Leben immer mehr auseinanderdriften (Wittenbruch 1994, VII). Schule wird zum zentralen und gleichzeitig hochselektiven Lernort. Besuche weiterer konzeptionell gebundener Bildungsorte (Musik- oder Ballett-, Frühenglisch- oder Lernförder- Gruppen etc.) sind abhängig von den familiären Ressourcen, ergänzen aber maßgeblich die Bildung des immer wichtiger werdenden „sozialen Kapitals“. Der für alle Kinder verbindliche Sozialraum Schule dient dem organisierten Lernen (Flitner 2004, 182ff ). Er ist durch Stundentakt, Lehrerwechsel, Raum- und Stundenpläne charakterisiert. Viele schulische Lernräume, selbst Kommunikationsorte wie Flure oder Pausenhöfe, sind nicht auf soziales Leben und Interaktion ausgerichtet. „Unmenschliche Architektur“, wie Kükelhaus diese Standardschulen bezeichnet (1974), geht nach wie vor von der Vorstellung gleichförmiger und in allen Klassen gleich ablaufender Lernphasen und Lernwege aus. Dies wird durch ihre unveränderlichen Elemente wie Glocke, fest installierte Möblierung und eindeutige Raumzuordnung (z. B. Chemielabor, Klassenraum, Garderobe) unterstützt. Viele Klassenzimmer sind „lediglich Aufbewahrorte mit fremdbestimmten Verhaltensanweisungen und ohne Möglichkeiten vielfältigen und selbstständigen Tuns“ (Halbfas 1991, 32). Scheren einzelne Klassen oder Gruppen aus den normierten Abläufen (z. B. gemeinsamen Pausen) aus, bedeutet dies meist für die anderen zusätzliche Unruhe. Innovative Lehr- und Lernverfahren wie Projekt- oder offener Unterricht, Freiarbeit und Lernen in freien Lernräumen können nur gelingen, wenn die ganze Schule dafür offen steht. Lehrer selbst stehen sich trotz ihrer kritischen Sicht auf einengende Rahmenbedingungen mitunter im Wege. Schulen in Bewegung und konzeptioneller Umgestaltung aber fragen gezielt nach theoretischen Grundlagen zur konkreten Planung ihrer raumgestalterischen Schritte. Einige sol- VHN 2/ 2009 128 Nicola Unger, Angela Brosch len nachfolgend vorgestellt und zur weiteren Diskussion gestellt werden. Hierbei wird der Schwerpunkt auf Faktoren gelegt, die eine gezielte Förderung des Lernens unter erschwerten Bedingungen ermöglichen und den damit verbundenen Forderungen für ein entsprechend gestaltetes schulisches Erziehungsumfeld entsprechen. 2 Raumgestaltung im Kontext der Förderung emotionaler und sozialer Entwicklung Ein zentrales Merkmal (sonder-)pädagogischer Förderung von Heranwachsenden - gleich, ob mit oder ohne Behinderung bzw. von Behinderung oder Benachteiligung bedroht - ist die Forderung, vielseitiges und nachhaltiges Lernen zu ermöglichen, indem auf der Basis einer differenzierten fortschreibenden Diagnostik individualisierte Maßnahmen angeboten, durchgeführt und evaluiert sowie ständig in Kooperation mit allen an der Erziehung und Bildung Beteiligten (also auch den Schülern) angepasst werden. Unterricht im Stundentakt und Gleichschritt lässt sich damit kaum vereinbaren. Innerhalb dieser speziellen Sicht auf Lernen wird dem Aufbau von Kompetenzen und Kenntnissen über den individuellen Lernweg Zeit und Raum zugestanden, und pädagogische Rahmenbedingungen werden danach ausgerichtet. Individuelles Lernen und Pädagogik der Heterogenität sind sich gegenseitig bedingende Basiselemente. Sozialkontakte und Rückzug sind Grundbedürfnisse des Menschen - und gelten auch innerhalb eines Klassenzimmers. Kinder und Jugendliche mit Gefühls- und Verhaltensstörungen stellen hierbei besondere Herausforderungen an Pädagogik, aber auch an den Raum, in dem sie gemeinschaftlich lernen und leben - gleich, ob dieser Raum einer selektiven oder einer integrativen Zielorientierung zugeordnet ist. Dabei liegt bereits in der Bestimmung des Begriffs dieses speziellen Störungsbildes ein Hinweis auf mögliche Implikationen für die Raumgestaltung (Opp 1998). Verhalten ist demnach multifaktoriell bedingt, und äußere Schulbedingungen wie Räume, Gebäude, Licht oder Geräusche können indirekte Bedingungen für das Verhalten eines Schülers darstellen (Mutzeck 2000). Schul- und Leistungsverweigerung, Schulmüdigkeit, Aggressivität und Gewalt an und in Schulen sind u. a. auch Folgen von aversiven Schulen. Als Grundlage jeglicher Interventionen der schulischen Erziehungshilfe wird der „strukturierte Lebensraum“ betrachtet (Hillenbrand 2002). Dieser ist durch drei Grundprinzipien kennzeichnet: das Primat der Erziehung, eine sozialtherapeutische Orientierung und pädagogisch-therapeutische Maßnahmen. Hierzu gehört neben der Gestaltung von Beziehung auch die Schaffung eines spezifischen „therapeutischen Milieus“, welches Schulraumgestaltung einschließt (Willmann 2006, 78ff ). Ein zentraler Gedanke ist dabei das Verständnis von „Pädagogik als Ortshandeln“, ein Begriff, der in Bezug auf die soziale Arbeit im Heimkontext geprägt wurde (vgl. Opp/ Unger 2003). Dieser als Partner einer Pädagogik als Beziehungshandeln zu betrachtende Begriff beinhaltet mehrere Ebenen der Erziehung: So sollten Orte der Pädagogik stabilisierende Systeme sein, die Schutz und Geborgenheit für die in Risiken (z.B. Armut, Misshandlung, Verwahrlosung) lebenden Kinder und Jugendlichen anbieten. Erziehungshandeln bedeutet in diesem Kontext auch, dass Orte des Lebens- und Alltagshandelns angeboten werden, in denen die emotionale Entwicklung angeregt sowie soziale Lernprozesse ermöglicht werden. Ferner spricht die Vorstellung von Erziehung als Ortshandeln auch den Aspekt des „nahen und fernen Raumes für die Gestaltung sozialer Beziehungen“ an (ebd., 47). Hier wird zum einen die Notwendigkeit eines separierten Ortes zum Gelingen spezieller Förderung deutlich, zum anderen sollte dieser Ort nicht stigmatisierend und die Chance gegeben sein, ihn wieder verlassen zu können (Prinzip des Durchgangs). Er muss folgende Kriterien erfüllen (Winkler 1999): VHN 2/ 2009 129 Pädagogische Raumgestaltung n Sicherheit und Schutz, Geborgenheit und Versorgung bieten, n fehlerfreundlich sein, d. h. Vor- und Rückschritte erlauben, n Perspektiven schaffen, d. h. Ruhezone, aber nicht Moratorium sein, n Entwicklung und Lernprozesse ermöglichen, n Öffnung nach außen (d. h. ein Spiel zwischen Weggehen und Zurückkommen) zulassen und n zum sozialen Leben anregen (d. h. Gelegenheit bieten, um Solidarität und Demokratie zu erfahren und einzuüben). Orte für Kinder und Jugendliche müssen aber nicht idealtypisch vorbereitet sein: „Nur wenige wagen es, unfertige Räume zu übergeben, die Situationen von ihnen selbst bestimmen zu lassen“ (Winkler 1999, 322). Dabei liegt in der Option partizipatorischer Gestaltung schulischer Räume ihr wahres pädagogisches Potenzial. Es ist eine falsche Annahme, dass nur neue Gebäude pädagogische Ansprüche zufriedenstellend erfüllen könnten. So schätzte z. B. Bettelheim die Symbolik alter Gebäude sehr: „Ein neues Gebäude […] macht den Eindruck, als hätte es noch nicht lang genug gelebt, um all die Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, verstehen zu können. Ein älteres Gebäude, das einen bewohnten Eindruck macht, vermittelt das Gefühl, dass es viel durchgemacht und überstanden hat, […]“ (Bettelheim 1990, 116). Der gemeinsame Umbau eines schon vorhandenen Gebäudes vermittle das ermutigende Gefühl, „dass man niemals ganz von vorn anfängt, wenn man die seelische Gesundheit wiedererlangen und das heißt, die Persönlichkeit eines Menschen neu bilden will“ (ebd., 121). 3 Spezifische Raumkonzepte der Pädagogik bei Gefühls- und Verhaltensstörungen Für Kinder und Jugendliche mit Gefühls- und Verhaltensstörungen lassen sich spezifische und für Raumgestaltung bedeutsame Unterrichtskonzepte belegen. Diese sind auf unterschiedliche lerntheoretische, psychodynamische oder entwicklungspsychologische Zugänge ausgerichtet. Allerdings finden wir in Schulen heute kaum konzeptionell gestaltete Klassenräume, die eine ideale „Passung“ auf die Lernsituation extrem auffälliger Schüler anstreben. Separierende Spezial- oder Therapieräume für störende Schüler wie z. B. „Time-out-Räume“, „Cooldown-Inseln“, „Snoezelen-Oasen“ oder „Trainingsräume“, die als Ergänzung zu Klassenräumen theoretisch wie praktisch deutlich Verbreitung finden, oder übliche, an Klassenräume anschließende konzeptfreie Gruppenräume sollen hier nicht im Fokus stehen. Zur Diskussion der konzeptionellen Klassenraumgestaltung sind zwei zentrale Schwerpunkte auszumachen: n Konzepte der Reizreduktion und Strukturierung n Therapeutische/ entwicklungspädagogische Konzepte 3.1 Konzepte der Reizreduktion und Strukturierung William M. Cruickshank entwickelte in Michigan, USA, ein pädagogisches Konzept der Strukturierung und Reizkontrolle zur Förderung lern- und wahrnehmungsgestörter Kinder und Jugendlicher (1977). Er ging von einer spezifisch zu gestaltenden Lernumgebung aus: „Das beste Klassenzimmer für normale Kinder ist gewöhnlich das schlechteste für lerngestörte Kinder. […] Dieser Widerspruch ist leicht verständlich: Die Bedürfnisse dieser beiden Gruppen von Kindern sind fast entgegengesetzt“ (1981, 107). Das Einwirken mannigfacher Reize in anregend gestalteten Klassenzimmern mit bunten Bildern, Kalendern etc. und die beengende Anwesenheit vieler Schüler wirkt sich seiner Ansicht nach äußerst negativ auf die Aufmerksamkeit der Schüler aus. Um die Konzentrationsspanne und den Hauptreiz (die einzelne Lernaufgabe) zu vergrößern, wird in logischer Konsequenz durch Minimierung der Reize Überflüssiges VHN 2/ 2009 130 Nicola Unger, Angela Brosch verringert. Dabei ist das Modell eines reizarmen Klassenraumes entstanden. Dieser enthält Lernkabinen für jeden Schüler, in denen gearbeitet, gegessen und ggf. Mittagsschlaf gehalten werden kann. Des Weiteren kennzeichnen den Raum milchverglaste Fenster, geschlossene Schränke, Schall schluckende textile Fußböden und schlichte Möbel. Die angebotenen Materialien werden auf einen oder wenige sich steigernde Reize minimiert, sodass der Hauptreiz besser diskriminiert werden kann. Somit wird die Wahrnehmung der Kinder voll auf das Lernmaterial gerichtet (ebd., 123ff ). Ziel dieser Raumgestaltung ist es, Lernerfolge zu vermitteln und zur (Selbst-)Strukturierung zu verhelfen. Ein Lernen in diesem Raum ist als Therapeutikum für wenige Tage bis hin zu einigen Wochen, nicht aber als Ersatz für soziale Begegnungen konzipiert. Obwohl der soziale Kontext in diesem medizinisch-defektologisch argumentierenden Theoriekonzept vernachlässigt wird, ist das „Reizvakuum“ nur solange angezeigt, bis das Kind „Erfolgserfahrungen machen konnte und bis sein Ich so stark ist, dass es selbstbewusster ist und sich sicher fühlt“ (ebd.). Heutigen Ansprüchen an Lebensnähe und Sozialraumorientierung erscheint die konsequent reizarme Gestaltung zu einseitig und unflexibel. In Evaluationsstudien war die Wirksamkeit auch nicht nachweisbar. Die hohe Akzeptanz der Schüler gegenüber ihren Lernkabinen und der für Pädagogen unmittelbar beobachtbare Erfolg von Strukturierungsmaßnahmen im Unterricht bleiben aber bemerkenswert. Auch die neuere Hirnforschung regt an, über Reizreduzierung im Klassenzimmer nachzudenken. So betont der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, dass das Ausmaß des Behaltens von Inhalten davon abhängig ist, „wie sehr wir uns diesem Material zuwenden, d. h. von Aufmerksamkeitsprozessen. […] Ohne die Hinwendung der Aufmerksamkeit zu den zu lernenden Inhalten geschieht - auch bei massiver ‚Bombardierung‘ des Gehirns mit Reizen - nichts. Der Grund hierfür liegt in mangelnder selektiver Aufmerksamkeit und damit in der geringeren Aktivierung derjenigen Areale, die für das Lernen der entsprechenden Inhalte zuständig gewesen wären“ (2002, 155). Zwei für einzelne Schüler bzw. Aufgaben vorgesehene Lernkabinen („Lernbüros“) und weitere Reizreduzierungsmaßnahmen finden sich auch im Strukturierungsmodell von Frank M. Hewett (1968, 1974/ 1976). Daraus hat Gerhard Schumacher das deutsche Konzept des „durchstrukturierten Klassenraums“ entwickelt, das auf einer psychologischen Entwicklungs- Abb. 1: Der durchstrukturierte Klassenraum nach Schumacher (1979, 125) VHN 2/ 2009 131 Pädagogische Raumgestaltung theorie aufbaut, die durch ein Stufenmodell gekennzeichnet ist (1975). Durch räumliche Funktionsteilung und detailliert beschriebene Interventionsmaßnahmen sollen die Schüler Kompetenzförderung erfahren, um so wieder am Regelunterricht teilnehmen zu können. Unter räumlichen Aspekten heben wir die auf Entwicklungsstufen zugeschnittene Gestaltung dreier großer Lernzentren und weiterer Arbeitsbereiche im Klassenzimmer sowie die Präsentation von Verstärkerplänen und Tokensystemen („Tauschbrett“) hervor und vernachlässigen die inhaltliche Kritik an diesem Modell, die v. a. die theoretische Fundierung betrifft. Die Raumaufteilung bei Hewett und Schumacher zeigt ihre Vorteile vor allem in flexiblen und vielfältigen Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung. So können Schüler zeitgleich individuelle Aufgaben auf unterschiedliche Art bearbeiten, sind räumlich aber nicht voneinander getrennt. Wie Abbildung 1 zeigt, bietet der durchstrukturierte Klassenraum gute Voraussetzungen für freie und kooperative Lernformen wie zum Beispiel Gruppenarbeit, Selbsttätigkeit etc. Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch im Lernzonenkonzept britischer Schulen wieder. Hier lernen bereits Kleinkinder in der „nursery school“, indem sie sich je nach Interessenlage z. B. in der „sand area“, „writing area“ oder auch „listening area“ mit unterschiedlichem Lernmaterial beschäftigen. Dies geschieht immer freiwillig, im Schutz der Gemeinschaft und mit der Sicherheit von Unterstützungsmöglichkeiten durch die Lehrpersonen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch das spezifisch strukturierte Raumkonzept, das innerhalb des TEACCH-Ansatzes (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children, vgl. Häussler 2005) realisiert wird. Dieser heute weit verbreitete Ansatz wurde in North Carolina, USA, vor vierzig Jahren für Kinder mit Autismus und ähnlichen Kommunikationsstörungen entwickelt und ist für die Zielgruppe gut evaluiert. Das Prinzip der Reizreduzierung gilt innerhalb dieser Methode „strukturierten Lernens“ ebenfalls als elementar, um störende Ablenkung weitestgehend zu vermeiden. Durch die Einrichtung von Funktionsbereichen für Einzelarbeit, Essen, Unterricht und individuelle Förderung etc. werden räumliche Doppelfunktionen vermieden, da die Schüler der Zielgruppe gerade beim Rollenwechsel Schwierigkeiten und Orientierungsprobleme zeigen. Durch die gezielte Organisation der Umwelt (z. B. visuelle Markierungen einzelner Bereiche), die eng verzahnt ist mit der Arbeitsorganisation und ihren Routinen, der Materialdarbietung und der Zeitplanung sollen Sicherheit und Klarheit geschaffen werden, die dem Kind ermöglichen, funktionale Verhaltensweisen zu erlernen, um selbstständiger zu handeln. Festzuhalten ist, dass Strukturierung und Reizreduzierung für Kinder und Jugendliche allgemein Orientierungshilfe und Verhaltenssicherheit bieten und die Wahrnehmung lenken sowie die Aufmerksamkeit erhöhen helfen. Für Schüler mit besonderen Störungen in diesen Bereichen können Lernboxen und Verstärkerpläne zusätzliche Lernhilfen darstellen. Sichtbar wird dies z. B. in der „Förderschule mit Ausgleichsklassen Tangermünde“ (Sachsen-Anhalt). Die Klassenräume dieser Schule zur Erziehungshilfe sind reizarm (überschaubare Wand- und Fenstergestaltung), mit Teppichböden (Lärmreduzierung) und jeweils drei Funktionsbereichen ausgestattet: Es gibt a) Einzeltische für Frontalphasen (Lehrervortrag, Einzelarbeit), b) einen runden Tisch mit einem festen Platz für jeden Schüler (Sozialzentrum) sowie c) zusätzlich ein Lernbüro für jeden Einzelnen (Stillarbeit) (vgl. Abb.2). Dabei sind in dieser Schule, welche die Jahrgangsstufen 1 bis 6 umfasst, die Anzahl der Lernbüros pro Klasse gestuft und bis in Klasse 6 auf zwei Boxen reduziert, da hier die Kinder zielgerichtet an Regelunterricht (Standardunterricht) gewöhnt werden. Zusätzlich gewinnen in diesen reizarmen Räumen Verstärkerpläne an Bedeutung, da sowohl die Dokumentation der erreichten Ziele wie die Präsentation der zu erarbeitenden Belohnungen („Preise“) zentrale Plätze an der Frontseite einnehmen. VHN 2/ 2009 132 Nicola Unger, Angela Brosch 3.2 Therapeutische/ entwicklungspädagogische Konzepte Als umfassendes Konzept in Bezug auf schulische Erziehungshilfe gilt das „Therapeutische Milieu“, welches in neueren Publikationen als eines der Grundprinzipien der Schule zur Erziehungshilfe beschrieben wird (Willmann 2007, 52ff ). Hierbei geht es vor allem um die pädagogisch-therapeutische Arbeit und ihre Einbettung in den Erziehungsalltag. Mit dem Begriff verbinden sich die Namen Bruno Bettelheim und Fritz Redl, die als „Pioniere einer psychoanalytisch orientierten Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen“ gelten (Flosdorf 1988, 102). Zurückgehend auf Denkanstöße August Aichhorns entwickelten sie in den 1940er Jahren in den USA psychoanalytisch orientierte therapeutische Konzepte für die Heimerziehung. Bettelheim leitete zu dieser Zeit die Orthogenic School für psychotische Kinder in Chicago. Redl gründete das Pioneer House in Detroit für dissoziale und delinquente Kinder. Die beiden Wegbereiter haben sich in ihrer Arbeit gegenseitig stark beeinflusst und äußern sich in ihren Arbeiten auch in Bezug auf Raumgestaltung. So betont Redl das große Gewicht, das „äußerliche Gegebenheiten“ bei der therapeutischen Arbeit haben. Seiner Meinung nach sind diese in großem Maße mitverantwortlich für den Erfolg der Maßnahmen (1987, 72f ). Aus diesen Gedanken heraus entwickelte er konkrete Ansprüche an den Raum wie etwa die Befriedigung der kindlichen Grundbedürfnisse oder die Erfüllung einer Schutzfunktion (ebd., 75ff ). Dies beinhaltet zum Beispiel, den Raum so zu gestalten, dass er viele Bewegungsmöglichkeiten offen hält, dass aber auch Verletzungsmöglichkeiten vermieden werden. Leider gibt Redl kaum konkrete Hinweise auf Gestaltungsprinzipien. Einen Schutzraum zu schaffen ist auch das Anliegen Bettelheims (1973, 24ff ), der selbst die Wirkung der Umgebung durch eigene negative Erlebnisse erfahren musste: „Die Umwelt - und das ist es, was ich im Konzentrationslager gelernt habe - kann also eine ungeheuer zerstörerische Macht haben. […], dann Abb. 2: Lernbüros der Grundschulstufe der Förderschule mit Ausgleichsklassen Tangermünde VHN 2/ 2009 133 Pädagogische Raumgestaltung müsste es möglich sein, eine Umgebung aufzubauen, die einen ebenso machtvollen Einfluss zum Guten hin haben würde, […]“ (Bettelheim/ Karlin 1983, 112). Bettelheim sieht es als grundlegend für seine Milieutherapie an, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Er spricht von „stummen Botschaften“, die durch die Gestaltung des Gebäudes oder der Räume gesendet werden. Besonders eindrucksvoll beschreibt er den Empfangsraum, in dem die erste Begegnung mit den Kindern und ihren Eltern stattfindet, sodass es wichtig ist, hier Vertrauen aufzubauen. Dieser Raum enthält bei ihm ungewöhnliche Möbelstücke (z. B. einen geschnitzten Thron, eine alte Wiege, ein viktorianisches Puppenhaus, die zum Spielen einladen sollen), aber auch Gegenstände wie offene Schalen mit Süßigkeiten, bequeme moderne Sitzmöbel, Bilder und Borde voller Bücher. Als eine der stummen Botschaften, die dieser Raum aussendet, nennt Bettelheim einen besonderen Lebensstil, der kindliche wie erwachsene Bedürfnisse gleichermaßen einbezieht (vgl. Otto 1993, 65ff ). Obwohl bei Bettelheim oder Redl wenig konkrete Beschreibungen der Unterrichtsräume vorliegen, gelten auch hier die Prinzipien der Bedürfnisbefriedigung, der Sicherheit und der Balance von Nähe und Distanz. Therapeutische Raumgestaltung sollte so vor allem durch positive Emotionalisierung Raum für Erfolgserlebnisse geben und Struktur schaffen, um Ich-Stärke zu gewinnen. Ein komplexes integratives und zugleich systematisches Konzept zur Förderung „emotional gestörter Kinder“ ist das auf der Grundlage der Entwicklungstherapie von Mary Wood (1975 Georgia, USA) basierende „entwicklungstherapeutisch-entwicklungspädagogische Modell“ (ETEP), das Marita Bergsson 1991 auf Deutschland übertragen und weiterentwickelt hat. Dieses Modell integriert behaviouristische und psychodynamische Theorien und beruht auf einem hierarchischen Entwicklungscurriculum, das ähnlich Hewett/ Schumacher auf einem entwicklungspsychologischen Stufenmodell, hier für die Bereiche Sozialisation, Kommunikation, Verhalten und Kognition, basiert. Innerhalb dieses Konzepts kommt neben der Strukturierung der Zeit, der Inhalte oder der Interventionsstrategien auch der Strukturierung des Raumes eine gezielte Rolle zu. Durch dessen Aufteilung und Gestaltung Abb. 3: Der Unterrichtsraum im ETEP-Konzept (Quelle: Wedel, P. [1996], 17, In: www.etep.org/ Seiten/ raum.htm) VHN 2/ 2009 134 Nicola Unger, Angela Brosch je nach diagnostizierter Stufenzuordnung und der daraus operationalisierten Zielstellung für jeden Schüler werden bestimmte Kernaktivitäten und Materialien in entsprechende Raumareale verwiesen (vgl. Abb. 3). Dies impliziert, dass in einem Zimmer Schüler der gleichen Entwicklungsstufe zusammengefasst werden, bzw. Schüler, für die in den gleichen Bereichen ähnliche Förderziele bestimmt wurden. Der Vorschlag für eine ideale Raumgestaltung ist daher auf eine spezifische Fördermaßnahme für eine Kleingruppe von Schülern ausgerichtet. Für die integrative Beschulung von gefühls- und verhaltensgestörten Schülern, für die das Konzept prinzipiell durchaus geeignete Vorschläge bereithält, werden keine expliziten Raumvorschläge gemacht. Die klare Strukturierung des Klassenzimmers in Funktionsbereiche ist auch hier maßgeblich und durchaus übertragbar. Pädagogische Architektur verlangt nach Differenzierung - und der Ausrichtung an elementaren menschlichen Grundbedürfnissen. Dies betont auch das „Würzburger Modell“, das aus einem 1986 bis 1991 vom Diakonischen Werk Bayern in Zusammenarbeit mit dem Bayrischen Sozialministerium, Prof. Wolfgang Mahlke und der Architekturwerkstatt Würzburg durchgeführten Forschungsprojekt hervorging. Die spezifische Raumgestaltung innerhalb des Konzepts sieht eine Gliederung der Räume durch Einbauten mit mehreren Ebenen (Höhendifferenzierung), Unterteilungen durch Holzkonstruktionen wie Podeste, Nischen oder Stufen (Kleinräumigkeit) und den Einsatz spezieller Materialien und Farben vor (Einsatz von Optik, Haptik, Licht und Akustik) (vgl. Abb. 4). Dies sind z. B. Massivholz, Schall isolierende und ansprechende Textilien, harte und weiche Böden oder Licht und Farbe als Hinweis auf die jeweilige Raumnutzung. Als grundlegende Prinzipien für diese „gegliederten Erfahrungsräume“, die hier als Entsprechung für einen sozial-integrativen Erziehungsstil gelten (Mahlke/ Schwarte 1997, 103), werden Geborgenheit, Stabilität, Aktivität sowie Individualität und Gemeinschaft genannt. Abb. 4: Klassenraum nach dem „Würzburger Modell“ in der Schule zur Erziehungshilfe Puckenhof/ Mittelfranken VHN 2/ 2009 135 Pädagogische Raumgestaltung Nach dem „Würzburger Modell“ wurden seither Schulen und Kindertageseinrichtungen, Institutionen für psychisch kranke oder behinderte Menschen und Kinder- und Jugendheime eingerichtet. Es findet heute über einen Förderverein und eine Internet-Plattform Verbreitung (www.bauen-fuer-geborgenheit.de). Ein innovativer Aspekt dieses Gestaltungskonzepts ist die Forderung nach der weitestgehenden Einbeziehung aller Beteiligten der jeweiligen Einrichtung: Die Umgestaltungsprozesse werden mit Kindern und Jugendlichen, Eltern und Pädagogen gemeinsam geplant und mit professioneller Assistenz handwerklich vollzogen. Damit wird Identifikation ermöglicht, das Gemeinschaftsgefühl wird gestärkt, und Selbststeuerungsprozesse werden mit Raumgestaltung verknüpft. Dies kann als zukunftsweisendes Modell partizipatorischer Pädagogik gelten: Die Statusrollen, die Unterrichtsräume normalerweise ihren Nutzern zuweisen, werden aufgebrochen; Raumgestalter und Raumnutzer sind Heranwachsende wie Erwachsene gleichermaßen. Dieses Raumkonzept verpflichtet sich den aktiven Entwicklungs- und Bildungsprozessen der Kinder und Jugendlichen. Derart gebaute Lebenswelten können mit Kükelhaus als „baukörperlich-rhythmisierte Räume“ bezeichnet werden. Er ist überzeugt, dass „alle Didaktik, die sich nicht in einer organlogisch gebauten Kind-Umwelt abspielt, sich nicht nur in einem Vakuum bewegt, sondern es auch produziert“ (Kükelhaus 1979, 76). Es stellt sich abschließend die Frage nach allgemeinen Prinzipien für eine pädagogische Klassenraumgestaltung, die auch speziellen Bedürfnissen der Heranwachsenden in der Schule zur Erziehungshilfe gerecht wird. 4 Resümee und Ausblick Raumgestaltung ist tragendes Element von Pädagogik. Im negativen Fall ist diese sogar eine Ursache für Verhaltensauffälligkeiten: „Die motorische Unruhe von Kindern mit Hyperaktivität wird oft erst in der Schule, wo die Anforderung des Sitzen-Bleibens am Tisch gilt, zum Problem. Ohne solche sozialen Rahmenbedingungen gibt es kein auffälliges Verhalten! “ (Hillenbrand 2002, 29). Im Zuge der Qualitätsdebatte ist es unumgänglich, sich Gedanken zur Gestaltung pädagogischer Räume zu machen. Vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Funktion von (Sonder-)Schule und individuellen Bedürfnissen der Schüler, wie es sich in der Schule zur Erziehungshilfe besonders ausgeprägt darstellt, erfordert spezifische konzeptionelle Gestaltungsschritte. Aufgabe sinnvoller Schulraumgestaltung sollte es sein, die Schnittstelle zwischen den Funktionen, die Schule zu erfüllen hat, und den Bedürfnissen der Schüler zu bestimmen und die Diskrepanz zwischen Leben und Lernen auch räumlich zu verringern. Dies impliziert ein Umdenken von der Lernzone Klassenzimmer hin zur Gestaltung von Lernlandschaften mit Räumen wie z. B. „Lernlabore“, „Lernateliers“ oder „freie Lernorte“ (www.freielernorte.de). Pädagogischer Grundgedanke dieser Lernareale ist die gezielte Gestaltung von Zonen für selbstständiges Lernen - allein, zu zweit oder in der Gruppe. Hierzu gehören selbst organisierte Informationsrecherchen ebenso wie kreatives Arbeiten, eigenverantwortliches Lernen und Üben, die Integration neuer Medien und der selbst gesteuerte Wechsel von Eigenzeit und Sozialzeit. Dieses als „Selbstarrangement“ zu bezeichnende Lernziel ist letztlich auch eng verbunden mit mehr Raum, aber auch mehr Zeit für Erfahrungen, also mit der Frage nach Ganztagskonzepten. Raumkultur schaffen heißt Lernkultur gestalten, aber auch Lebenskultur anbieten - und dies eben nicht nur am Vormittag. „Wenn es durch die Gestaltung vielfältiger Lernsituationen in entsprechend strukturierten Lernumgebungen besser gelingt, ruhiges und konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen, muss Schulraumgestaltung neu gedacht werden“ (Hammerer/ Dolesch 2005, 4). Gerade für Schüler mit Schwierigkeiten im sozialen Bereich, aber auch beim Lernen, bei der Konzentration oder in der VHN 2/ 2009 136 Nicola Unger, Angela Brosch Wahrnehmung, kann die Gliederung in Funktionsbereiche die nötige Wahl- und Bewegungsfreiheit gewähren und gleichzeitig Konzentration und Lernen unterstützen. Frei passierbare Bereiche erhöhen die Handlungsfreiheit und die Angebote sozialer Interaktion. Der Raum, seine Gestaltung, die Dinge und Materialien bedingen gezielte Verhaltens- und Umgangsformen, die wiederum auf Lebensdauer, Ästhetik und Wertschätzung der Räume und deren Gegenstände zurückstrahlen. Diese gemeinsam zu bestimmenden Umgangs- und Arbeitsformen sind Teil des sozialen Lernprozesses der ganzen Schule und bilden einen Stützpfeiler guter Schulkultur. So ist es wichtig, nicht den Gegebenheiten von Gebäuden und den Angeboten der Möbelindustrie nachzugeben oder kreativ „drauflos“ zu gestalten, sondern sich für die Themen Raum, Gestaltung und Wirkung von Elementen wie Licht, Akustik oder Farben zu sensibilisieren, erst recht, wenn die Adressaten der Raumgestaltung Kinder und Jugendliche mit Gefühls- und Verhaltensstörungen sind. Erste Hinweise für diese Zielgruppe können theoretisch bestimmt werden. Es lässt sich somit festhalten, dass Klassenräume u. a. folgende Kriterien erfüllen sollten: n Bewusste Strukturierung und Reizreduzierung bis hin zum temporären „Reizvakuum“ in Lernboxen (im Sozialraum integriert) n Kleinräumigkeit und Funktionsteilung zur Verhaltenssteuerung bei gleichzeitiger Transparenz zur Verhaltensunterstützung (Blickfenster und -achsen) n Schallisolation durch natürliche und textile Materialien und Raumdifferenzierung n Materialreichtum zur individuellen Anregung, aber in strukturierter, temporärer Darbietung (in Schränken, Fächern, Kästen …) n Gezielter Einsatz von Lichtvarianz und Lichtführung als Strukturierungshilfe n Farbeinsatz als Differenzierungshilfe (Betonung von Einheit oder Parzellen des Raumes) n Arbeitsplatzvarianten für lehrerzentrierten Unterricht, Einzelarbeit, Gruppen- und Projektphasen (durch Einbauten oder bewegliche Tische und Materialschränke bzw. flexible Tafelsysteme) n Sozialzentren als Begegnungsorte in Klassenzimmern und im/ ums Gebäude (runder Teppich, runder Tisch, Sitzinseln …) n Rückzugsmöglichkeiten und freie Lernorte (im Klassenraum wie im Gebäude) n Partizipationsmöglichkeiten für alle Schüler zur Identifizierungssteigerung und Passung an ihre individuellen Bedürfnisse (von der Architektur bis hin zur Raumnutzung) Aktives Mitgestalten und damit Partizipation werden erst möglich, wenn wir erkennen, dass der Beginn der Selbstständigkeit darin liegt, Probleme als die eigenen zu betrachten. Wenn es gelingt, dies für Schule als Organisation wie auch für Schüler umzusetzen, beginnt ein Lernprozess, der das Schlagwort „lernende Schule“ mit Inhalt füllt. Es geht um die gemeinsame Gestaltung neuer Lern- und Erfahrungsräume. Denn um eine „neue“ Lernkultur zu schaffen, sind die Rahmenbedingungen schulischen Lernens, die Lernräume und deren Ausstattung, als grundsätzlich für den Verlauf dieses Prozesses anzusehen (Watschinger/ Kühebacher 2007, 11). Die Eigeninitiative von Schülern wie Schulen anzuregen und durch serienfähige Konzeptbeispiele Hilfe zur Neugestaltung von Klassenzimmern und anderen Schulräumen zu leisten, hat sich z. B. die Initiative „Das macht Schule e.V.“ zum Ziel gesetzt (www.das-macht-schule. net). Sie bietet eine Internetplattform, auf der Lehrer wie Schüler praxisnah gewinnbringende Hinweise zur praktischen Umgestaltungsphase bis hin zum Einwerben von Mitteln einholen können. Hier ist besonders wichtig, dass die Schüler aktiv am Umgestaltungsprozess beteiligt werden, vom Ausräumen und Ausmisten bis hin zur Farbplanung und Renovierung. Pädagogische Gestaltung kann nicht von der Schulleitung, den Architekten oder der Kommune diktiert werden. Tragendes Element einer sol- VHN 2/ 2009 137 Pädagogische Raumgestaltung chen Maßnahme muss Schülerpartizipation sein. Jene hat gerade auch für den Bereich der schulischen Erziehungshilfe therapeutische und soziale Dimension. Es gilt, förderliche Orte kindlichen Lernens zu schaffen, an denen Kinder sichtbar willkommen sind, an denen ihnen Zeit zum Wachsen gegeben wird, und vor allem Orte, an denen ihren Bedürfnissen entsprochen wird (Bildungskommission NRW 1995, 86). Wenn Schulen als „Treibhäuser der Zukunft“ bezeichnet werden (Kahl 2004), dann wird dieser Aspekt der Fürsorge und Unterstützung der Heranwachsenden betont - und der künftige Gewinn für die Gemeinschaft. Aus der Betriebspsychologie wissen wir, dass Leistungsmotivation und Produktivität dauerhaft nur in einer stimulierenden und menschliche Grundbedürfnisse berücksichtigenden Umgebung zu erwarten sind. Wir sollten Kindern und Jugendlichen das Recht zugestehen, entsprechende motivations- und lernförderliche Lernumwelten in Schulen vorzufinden - zumindest solange sie aufgrund der Schulpflicht oder sogar Sonderschulzuweisung keine Wahl haben, sich dem Einfluss von Schulen zu entziehen. Die moderne Schule muss der gängigen Schulzuweisung über Schulsprengel, Leistung oder Behinderung (Selektion) die aktive Beteiligung der Schüler an ihrer Gestaltung entgegensetzen, was Selbstbestimmung und Verantwortung für die Gemeinschaft einschließt. „Wenn Schule sich auch als ein Übungsfeld für demokratisches Handeln versteht, sind die Mitsprache, Mitgestaltung und Mitverantwortung der SchülerInnen nötig“ (Hammerer/ Dolesch 2005). Zur Entfaltung von Fähigkeiten und Haltungen sind Räume anzubieten, die den Heranwachsenden Emotionalität und Entsprechung in ihrer Gestaltung (Passung) gewährleisten, optimale Erfahrungen und damit Lernprozesse ermöglichen. Schulraumgestaltung ist somit ein Feld, das viele Implikationen für die Arbeit mit gefühls- und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen bereithält. Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass auch im gestalteten Raum pädagogische Erfolge unvorhersehbar bleiben: „Nichtsdestotrotz ist und bleibt die pädagogische Gestaltung der Schule als dauerhafte und nie abgeschlossene Aufgabe aller ein Wagnis und stellt einen Aspekt neben vielen anderen dar, die das erzieherische Geschehen bestimmen“ (Zierer 2006, 57). Literatur Bergsson, M. (1995): Ein entwicklungstherapeutisches Modell für verhaltensauffällige Schüler - Organisation einer Schule. Essen Bettelheim, B. (1990): Der Weg aus dem Labyrinth. Leben lernen als Therapie. Stuttgart Bettelheim, B.; Karlin, D. 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