eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Das provokative Essay: Hirnforschung und Erziehungshilfe - Neurobiologische Chancen und Begrenzungen

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2009
Otto Speck
Die neuen Befunde der Neurowissenschaften tangieren auch die Erziehung. Aufgezeigt wird zum einen, welche spezifischen Hirnfunktionen die Erziehungshilfe unterstützen können; zum anderen wird auf Thesen eingegangen, die das Grundmodell des pädagogischen Ansatzes in Frage stellen: Nicht das Ich oder Selbst wirke steuernd auf das Verhalten ein, sondern allein das Gehirn. Die Chancen heilpädagogischer Umerziehung werden betont geringer eingeschätzt als bisher. Es wird auf die Gefahr einer Biologisierung der Pädagogik hingewiesen, in deren Folge das Soziale an Bedeutung verlieren könnte und Exklusionstendenzen gegenüber „Unverbesserlichen“ zunehmen könnten.
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VHN, 78. Jg., S. 186 - 196 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 186 Hirnforschung und Erziehungshilfe - Neurobiologische Chancen und Begrenzungen Otto Speck München n Zusammenfassung: Die neuen Befunde der Neurowissenschaften tangieren auch die Erziehung. Aufgezeigt wird zum einen, welche spezifischen Hirnfunktionen die Erziehungshilfe unterstützen können; zum anderen wird auf Thesen eingegangen, die das Grundmodell des pädagogischen Ansatzes in Frage stellen: Nicht das Ich oder Selbst wirke steuernd auf das Verhalten ein, sondern allein das Gehirn. Die Chancen heilpädagogischer Umerziehung werden betont geringer eingeschätzt als bisher. Es wird auf die Gefahr einer Biologisierung der Pädagogik hingewiesen, in deren Folge das Soziale an Bedeutung verlieren könnte und Exklusionstendenzen gegenüber „Unverbesserlichen“ zunehmen könnten. Schlüsselbegriffe: Gehirn, Ich, Erziehbarkeit, Schuldbewusstsein, Exklusion Brain Research and Educational Support - Neurobiological Chances and Limitations n Summary: Like many other (scientific) fields, education is influenced by the outcomes of the neurosciences. On the one hand, the author delineates the specific brain functions that can help to promote education, on the other hand he focuses on various neurobiological assumptions that challenge the basic model of the pedagogical approach: Not the „I“ or the „Self“ influence the human behaviour but solely the brain. From the neurobiological point of view, the chances for a special educational re-education are clearly estimated as rather small. The author points out the dangers of a biologisation of education, which may cause a loss of social relations and increase the tendencies to exclude „incorrigible“ members of a social group. Keywords: Brain, I, educability, sense of guilt, exclusion Das provokative Essay Es sind faszinierende Entdeckungen, welche die Hirnforschung in den letzten Jahren zu vermelden hat. Obwohl sie sich auf die biologischen Prozesse beziehen, auf denen Erziehung und Lernen beruhen, werden sie von der Pädagogik, zumal der Heil- und Sozialpädagogik, bislang wenig beachtet. Dies könnte zum einen darin begründet sein, dass vieles von dem, was nun neurophysiologisch aufgezeigt wird, gar nicht so neu ist, sondern im Wesentlichen bisherige pädagogische Erfahrungen nur bestätigt. Zum anderen wirken einige der neuen Thesen in hohem Maße befremdend und verunsichernd; sie tangieren unser Menschenbild und deuten auf einen Wechsel vom bisher vorherrschenden sozialwissenschaftlichen zu einem biologistischen Erklärungsmodell für Lernen und Erziehung hin. Von einer „kopernikanischen Wende“ ist die Rede, obwohl vieles durchaus umstritten ist. Dies ist Grund genug, dass sich auch die Heil- und Sozialpädagogik näher mit den neuen Befunden und Perspektiven befasst. 1 Neurobiologische Befunde und Thesen Im Vordergrund sollen hier neurobiologische Befunde stehen, die sich auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Erziehungshilfe beziehen. Sie sind z. T. von unterstützender Bedeutung, während andere auch kritische Reaktionen ausgelöst haben. Dazu ist anzumerken, dass die interdisziplinäre Verständigung nicht einfach ist, da es sich zum einen um eine andere wis- VHN 3/ 2009 187 Hirnforschung und Erziehungshilfe senschaftliche Terminologie handelt und zum anderen um Interpretationen physiologischer Befunde in einen nicht-physiologischen Wissenschaftsbereich hinein. 1.1 Das Gehirn als Produkt von Erziehung Obwohl sich die neuen Befunde auf Biologisches beziehen, es sich also um naturwissenschaftliche Ergebnisse handelt, wird durch sie die Bedeutung der Erziehung nachdrücklich hervorgehoben. Der Neurobiologe W. Singer stellt sogar generell fest, nichts sei wichtiger als der erzieherische Prägungsprozess unserer Kinder (2003, 34). Die Entwicklung des menschlichen Gehirns folgt zwar den Naturgesetzen, wird aber nicht allein von der Natur bestimmt; sie nimmt nicht einen einzig von den Genen vorprogrammierten Verlauf. Mitentscheidend für den Aufbau des Gehirns und seiner neuronalen Verflechtungen ist auch die Umwelt, sind die Erfahrungen, die das Kind macht und die auf sein neuronales System einwirken: Das Gehirn ist ein offenes oder soziales Organ. Es entwickelt sich auch durch Lernen. Es ist also auch Produkt der Erziehung, und zwar im positiven wie im negativen Sinne. Was als Umwelt erlebt wird, z. B. emotionale Zuwendung und Unterstützung oder Vernachlässigung und Isolierung, hinterlässt entsprechende physiologische, d. h. relativ „harte“ Spuren im Gehirn. Deren Wirkungen auf das Verhalten bzw. die Persönlichkeitsentwicklung sind umso stärker und dauerhafter, je jünger das Kind ist. Die Erkenntnis von der fundamentalen Bedeutung der Kindheit, im Besonderen der frühen Erziehung, Sozialisierung und sicheren Bindung, ist an sich nicht neu. Neu ist deren ausdrückliche Bestätigung durch die Naturwissenschaft. Ihre Befunde erhöhen sogar diese Bedeutung. Gerade durch die Erfahrungen in der frühen Kindheit reift das Gehirn, es erhält seine individuelle Ausprägung und die Persönlichkeit ihre Grundstruktur. Dabei kommt es darauf an, dass die angelegten Nervenzellen durch entsprechende Erfahrungen in Funktion gebracht und genutzt werden: „Use it or lose it! “, d. h. „Nutze sie, oder du verlierst sie.“ Ein Großteil der ursprünglich angelegten Nervenzellen geht ohnehin verloren. Der alte Streit um die stärkere Gewichtung von Anlage oder Umwelt sei damit im Prinzip beendet, heißt es. Gemeint ist, dass weder das eine noch das andere allein entscheidend ist, dass es sich vielmehr um ein Mischungsverhältnis oder eine Wechselwirkung handelt, die allerdings so komplex und kompliziert abläuft, dass eine genauere Gewichtung im Einzelfall nicht möglich ist. Dass das individuelle Lernen und damit die Hirnentwicklung jeweils von angeborenen Grundlagen oder Prädispositionen abhängig sind, war für die Pädagogik an sich immer schon Basiserkenntnis. Herausgestellt wird jedoch nun, dass bei aller Würdigung der Erziehung durch die Neurobiologie die Erziehbarkeit relativ frühe Grenzen hat. Insgesamt wird das Biologische gegenüber dem Sozialen stärker betont, als dies bisher der Fall war. Verwiesen wird dabei u. a. auf die physiologische Tatsache, dass nach der Pubertät die Hirnentwicklung generell zu ihrem Ende kommt und damit die Sozialisierung abgeschlossen wird (Roth 2003 b, 65). „Unsere Persönlichkeit ist zwar keineswegs genetisch völlig vorgegeben, aber der Rahmen, in dem die Umwelt uns beeinflussen kann, ist in uns weitgehend festgelegt. Es sind eher die kleinen Knöpfe, an denen die Umwelt dreht“ (115). - Ob damit das letzte Wort zum Verhältnis von „angeboren und erlernt“ gesagt ist, bleibt nach wie vor offen. Immerhin muss auch Roth feststellen, dass „vieles noch rätselhaft“ ist und weiterer Forschung bedarf (66). 1.2 Pädagogisch unterstützende neuronale Systeme Die Hirnforschung hat im Detail wichtige Entdeckungen gemacht, die für die Unterstützung der Erziehung grundlegend wichtig sind, so die Funktion der neuronalen Motivationssysteme. Wie der Freiburger Psychiater und Neurobiologe Joachim Bauer feststellt, sind diese Systeme von der Natur her darauf ausgerichtet, dass der VHN 3/ 2009 188 Otto Speck Mensch in sozialen Gemeinschaften und gelingenden Beziehungen leben kann. Damit sind nicht nur persönliche Bindungen gemeint, sondern auch alle Formen sozialen Zusammenwirkens. Das geradezu Verblüffende an dieser anthropologischen Entdeckung sei es, dass im Gegensatz zum - auch heute noch starken - Darwinismus die Evolution des Menschen und seine biologische Ausstattung eben nicht primär auf den Kampf gegeneinander, auf gegenseitiges Verdrängen und auf Selektion angelegt sei, sondern auf gegenseitige Ergänzung und Kooperation (Bauer 2006 a, 34). „Wir sind - aus neurobiologischer Sicht - auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen“ (21). Die nähere Kenntnis dieser neuronalen Funktionssysteme kann dazu beitragen, dass man sich als Pädagoge genauer bewusst wird, was sich im kindlichen Organismus, also im Gehirn des Kindes abspielt, wenn Erziehung einerseits erfolgreich verläuft bzw. verlaufen soll oder wenn sie andererseits auf Schwierigkeiten bzw. an spezifische Grenzen stößt. Es soll hier kurz auf drei dieser unterstützenden neuronalen Funktionen eingegangen werden: a) Zum einen sind es die Neurotransmitter, vor allem Dopamin, endogene Opioide und Oxytozin. Sie werden auch „Wohlfühlbotenstoffe“ genannt und sind darauf gerichtet, soziale Resonanz entstehen zu lassen und Kommunikation und Bindung zu fördern. Es sind neuronale Motivationssysteme oder Antriebsaggregate, die den Lebenswillen und die Lernbereitschaft steigern und das Entstehen sozialer Gemeinschaften und gelingender Beziehungen mit anderen unterstützen. Natürlicher Kern aller menschlichen Motivation ist es gemäß Bauer (2006 a, 34), „zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben“. Diese im Gehirn erzeugten Wohlfühlstoffe wirken wie Drogen und haben positive Effekte auf die Emotionen, vor allem das Ich-Gefühl. Umgekehrt schalten sich diese Motivationssysteme ab, wenn soziale Zuwendung oder Liebe ausbleiben, wenn soziale Isolation oder Ausgrenzung für längere Zeit eintreten. Es kommt zu einem biologischen Kollaps und damit zu Apathie und zum Zusammenbruch der Lebens- und Lernmotivation („Null-Bock“). b) Des Weiteren wird den sogenannten Spiegelneuronen eine zentrale pädagogische Bedeutung zugesprochen. Es sind dies Nervenzellen, die im eigenen Gehirn inhaltlich das zur Resonanz bringen, was andere tun, fühlen oder denken. Sie ermöglichen ein intuitives und spontanes Verstehen des Anderen, also Empathie, Intuition und Bindungsfähigkeit. Sie sind in verschiedenen Hirnarealen angesiedelt, vor allem in solchen, die für das Verständnis von Bewegungsabsichten, Emotionen und sprachlichen Äußerungen wichtig sind. Sie ermöglichen ein spiegelbildliches Erkennen dessen, was im Anderen vor sich geht, sodass man sich darauf einstellen kann. Sie aktivieren im eigenen Gehirn Verhaltensmuster, die denen entsprechen, die im Verhalten des Anderen zu beobachten sind. Der Beobachter erlebt das Verhalten des Anderen so, als ob es in ihm abliefe. Er kann fühlen, was der Andere fühlt (Bauer 2006 b). Die Entwicklung der Spiegelneurone ist im Rahmen der individuellen genischen Prädisposition von der Erfahrung und vom Erleben abhängig. Indem das Kind belebenden emotionalen Zuspruch erlebt, baut es in sich sozioemotionale Kompetenzen auf. Wenn diese Zuwendungen ausbleiben, verkümmern diese angelegten Neurone mit der Folge, dass sich Egoismen, Aggressionen, mangelnde Schuldeinsicht oder psychische Krankheiten ausprägen. Wenn die Spiegelneurone genisch bedingt fehlen oder verkümmert entwickelt sind, ist es dem Menschen nicht oder nur unzulänglich möglich, die Gefühle des Anderen wahrzunehmen und zu beachten. Dies ist u. a. bei Kindern mit autistischen Spektrum-Störungen der Fall (Dalferth 2007; Gyseler 2007). - Es braucht hier nur kurz angemerkt zu werden, von welch grundlegender Bedeutung die Spiegelneurone auch der pädagogischen Bezugspersonen sind. Auf ihnen beruht das, was wir Verstehen, Empathie oder Ich-Du-Beziehung nennen. VHN 3/ 2009 189 Hirnforschung und Erziehungshilfe c) Schließlich ist hier auch die neuronal begründete besondere Bedeutung des Emotionalen gegenüber dem Rationalen zu nennen (Roth 2003 b, 162). Alle Bewertungen und Entscheidungen, die das Gehirn in einem komplexen Schaltungsprozess vollzieht, werden zuletzt von den Emotionszentren verabschiedet. Am Ende der Kausalkette einer Handlungsabsicht gibt das limbische System als letzte Kontrollinstanz den Ausschlag; Entscheidungen werden also letztlich nicht durch die Vernunft allein, sondern sogar wesentlich durch die Gefühle bestimmt, z. B. durch Überzeugung oder Wut, Enttäuschung oder Lustlosigkeit. An sich wusste man schon immer, dass bei menschlichen Entscheidungen, vor allem wenn sie schwierig sind, das Gefühlsmäßige den Ausschlag gibt. Die zentrale Bedeutung des Emotionalen, die längst auch pädagogischer Erfahrung entspricht, wird nun auch naturwissenschaftlich bestätigt. Aus pädagogischer Sicht wäre u. a. an Kinder und Jugendliche zu denken, die wegen ihrer sozio-emotionalen Probleme immer wieder Verhaltensweisen produzieren, die eigentlich, d. h. rational betrachtet, widersinnig gegenüber der eigenen Problemsituation sind, weil sie ihnen auf jeden Fall Nachteile einbringen. 1.3 Die Grenzen der Veränderbarkeit von Persönlichkeitsmerkmalen Die Neurobiologie betont zwar die besondere Bedeutung der frühen Erziehung für die Hirnentwicklung, was aber zugleich bedeutet, dass - ab der Pubertät - die Grenzen einer erzieherischen Veränderbarkeit der bis dahin entstandenen Persönlichkeitsstruktur immer deutlicher und wirksamer werden. Die in der frühen Kindheit entstandenen und stabilisierten Grundzüge machten die Persönlichkeit „zunehmend immun gegen Umwelteinflüsse“ (Roth 2007, 222). Die Persönlichkeit habe sich nun derart verfestigt, dass u. U. von „Unverbesserlichkeit“ oder „Soziopathen“ gesprochen werden könne (Roth 2003 b, 120). Gemeint sind „antisoziale Persönlichkeiten“, denen die Gefühle und Motive anderer fremd sind und die z. B. mit großer Gefühlskälte Verbrechen begehen, ohne Schuld und Reue zu zeigen. Sie seien deshalb auch „weitgehend oder gar völlig immun gegen Erziehungsmaßnahmen“; ihnen fehle „jegliche Einsicht in das eigene verbrecherische Tun“. - Hier kehrt der Begriff der „Unerziehbarkeit“ wieder, den die Heilpädagogik an sich schon seit Jahrzehnten abgelegt hatte (Moor 1965, 276). Der Bremer Neurobiologe G. Roth, der nicht zufällig seinem neuesten Buch den Untertitel gab „Warum es so schwer (! ) ist, sich und andere zu ändern“, kritisiert direkt und pauschalierend eine bisherige „sozialwissenschaftliche Bestimmungsmacht“, die mit einem „Antibiologismus“ gekoppelt gewesen sei, der die biologischen Grundlagen des Lehrens und Lernens schlicht geleugnet hätte. Im Sinne der damals herrschenden politischen Ideologien und Interessen sei ein soziologistisch geprägter Bildungsoptimismus und ein „sozialwissenschaftlicher Meinungsterror“ in Gang gebracht worden, der auch heute noch in Erziehung und Bildung dominiere. Dieser damaligen einseitigen Sicht der Realität (Roth 2007, 208) gegenüber sei heute neurobiologisch nachgewiesen, dass der Mensch eben nicht letztlich von der Gesellschaft geprägt und lebenslang in seinen Persönlichkeitsmerkmalen formbar sei. Generell sei der Grad der Veränderbarkeit in Wirklichkeit viel geringer, als manche Pädagogen noch heute glaubten. Die Konsequenzen solcher Einsichten seien „bitter, aber wir dürfen vor ihnen nicht die Augen verschließen“ (2003 b, 121). Als Beleg für diese begrenzte Veränderbarkeit führt Roth eine neuseeländische Langzeit- Studie an, die „Dunedin Longitudinal Study“ (Moffit/ Caspi u. a. 2001). Sie wurde an 1.037 Kindern des Jahrgangs 1972/ 73 vom 3. bis zum 21. Lebensjahr durchgeführt. Es handelte sich um Kinder mit „antisozialem Verhalten“ aus den verschiedensten sozialen Verhältnissen. In den Ergebnissen zeigten sich, biologisch auf- VHN 3/ 2009 190 Otto Speck schlussreich, u. a. geschlechtsspezifische Entstehungsverläufe; so traten gewalttätiges Verhalten und Kleinkriminalität eindeutig gehäuft bei männlichen Jugendlichen auf, d. h. bedingt durch naturhafte Reifungsprozesse - übrigens in ähnlicher Weise in den verschiedensten Kulturen. Während diese Auffälligkeiten bei den meisten Jugendlichen nach der Pubertät wieder abklangen, fiel eine kleine Gruppe (ca. 5 %) von überwiegend männlichen Jugendlichen auf, die in ihrem kriminellen Verhalten lebenslang verblieben. Diese Unverbesserlichen und Unbelehrbaren waren schon in ihrer frühen Kindheit als Prügler oder Störenfriede aufgefallen. Sie waren auch am Großteil aller registrierten Straftaten beteiligt. Kennzeichnend für sie war u. a. die Tatsache, dass sie in aller Regel den üblichen Erziehungs- und Besserungsmaßnahmen (Therapie, Heimunterbringung, Gefängnis) widerstanden. Entstehungsgründe wurden in dieser Studie wie in anderen vergleichbaren Untersuchungen sowohl in genischen Prädispositionen (leichte Erregbarkeit, mangelnde Impulshemmung, niedrige Frustrationsschwelle und Trotz) als auch in der Umwelt (Kriminalität der Eltern, Armut, falsche Erziehung, schwere psychische Vernachlässigung) gesehen. Neurophysiologische Auffälligkeiten zeigten sich u. a. in einem niedrigen Serotonin-Spiegel, einem Neurotransmitter, der vor allem psychisch beruhigend wirkt. Als besonders gravierend wurden frühe Defizite an Bindungserfahrungen festgestellt. Die Mehrzahl der später straffällig Gewordenen sei in ihrer frühen Kindheit hoch unsicher gebunden aufgewachsen, stellten die Forscher fest. Es sei das Zusammenwirken dieser verschiedenen Faktoren, das sich in der Hirnentwicklung niederschlage und damit die Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich und dauerhaft bestimme. Je früher eine Verfestigung eingetreten sei, desto schwerer gelängen Veränderungsversuche, vor allem langfristig wirksame. Roth bezieht sich dabei ausdrücklich auf den Begriff „Persönlichkeit“, also auf das zeitlich überdauernde Muster bestimmter Grundmerkmale. Substanzielle Selbstveränderungen seien am ehesten über starke emotionale oder lang anhaltende Einwirkungen möglich (2007, 314). Roth geht davon aus, dass auch bei ADHS- Kindern spezifische Hirnstörungen vorliegen, die deren auffallend geringe Impulskontrolle erklären könnten (2003 b, 117). Schwere Fehlfunktionen seien im Bereich der neuronalen Gefühlszentren beobachtbar. Ein großer Teil der ADHS-Kinder (fast die Hälfte) zeige eine auffallende und relativ konstante Gewaltbereitschaft, in der Regel zusammen mit schweren emotionalen Defiziten. Diese äußerten sich schon in der frühen Kindheit, z. B. bei sogenannten Schreikindern bzw. in Form einer auffallenden Neigung zum Prügeln und Schikanieren ihrer Umwelt. Die zugrunde liegenden Hirnstörungen seien z. T. genisch, z. T. epigenetisch (durch Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft), aber auch durch erzieherische Hilflosigkeit bedingt. - Bei aller Bedeutsamkeit dieser Befunde belegen sie doch nicht, dass Versuche der Sozialisierung aller einzuschränken seien; es bestehen immer pädagogische Chancen im Einzelnen, und seien sie auch noch so gering. 1.4 Unverbesserliche wegsperren! Von besonderem Interesse für die Erziehungshilfe sind z. T. provozierende Folgerungen, die aus diesen Befunden zur geringen Veränderbarkeit bei verhaltensschwierigen Kindern und Jugendlichen gezogen werden. Sie laufen letztlich darauf hinaus, sich langwierige und u. U. relativ ineffektive Erziehungs- und Besserungsversuche künftig zu ersparen und nötigenfalls kaum noch oder nicht mehr veränderbare Jugendliche mit gefährlichen Neigungen „wegzusperren“. Wenn vorgeschlagen wird, diese Weggesperrten gegebenenfalls auch pädagogischen Besserungsprogrammen „zu unterwerfen“ (Singer 2003, 34), so befremdet ein solcher Vorschlag insofern, als man gleichzeitig bei diesen Jugendlichen von einer geringen Veränderbar- VHN 3/ 2009 191 Hirnforschung und Erziehungshilfe keit bzw. Unverbesserlichkeit ausgeht. Die Gründe für diese Resistenz gegenüber Veränderungen werden in einer durch Gene und neuronale Verschaltungen determinierten und deshalb kaum mehr veränderbaren Persönlichkeitsstruktur gesehen (z. B. bei Gewalttätern). Der Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch empfahl in einem Spiegel-Interview (Nr. 31, 2007) lapidar, derart gefährliche Kinder und Jugendliche in Erziehungsheime zu stecken. Im Sinne einer Früherkennung schlägt er sogar Tests für alle Schulkinder vor, um frühzeitig diejenigen erkennen zu können, die besonders viele Risiko-Faktoren für späteres kriminelles Verhalten aufweisen. Diese sollten dann herausgefiltert und „gezielten Präventionsprogrammen“ zugeführt werden (122). Was darunter konkret zu verstehen und wie der Erfolg einzuschätzen ist, wird nicht näher ausgeführt. Dieses Manko gilt auch für die Empfehlung des „Wegsperrens“, sodass sie eher wie eine Alibi-Formel gegenüber verstärkten Schutz- und Exklusionsoptionen wirkt. Was daran zu kritisieren ist, ist nicht die Empfehlung der Heimerziehung an sich, sondern die Bedenkenlosigkeit, mit der hier mit dem kalten Begriff des „Wegsperrens“ umgegangen wird. Dies könnte eine Mentalitätswende begünstigen, in deren Folge die Hemmschwellen für exklusive Lösungen generell abgesenkt werden. Im Übrigen ist nicht erkennbar, woher die Ressourcen für eine auszuweitende Heimerziehung mit komplizierteren Aufgaben kommen sollten. - Auffallend an diesen neurobiologischen Exklusionsvorschlägen ist das Außer-Acht-Lassen der damit verbundenen persönlichen und sozialen Folgen. Pädagogisch wenig hilfreich erscheint Roths Idee, der Einzelne sollte angesichts der Tatsache, dass er aus eigener Kraft seine Persönlichkeitsstruktur nicht ändern könne, die Möglichkeit haben, sich diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse auszusuchen, die am besten zu seiner eigenen Struktur passen (2003, 564). Abgesehen von der Frage, ob diese Lösung auch negativ - z. B. für dissoziale Gruppierungen - gelten müsste, ist aus pädagogischer Sicht festzustellen, dass ein solches Sich-selber-Aussuchen der Umwelt dem Einzelnen, z. B. in der Schule als Pflichtschule, nicht möglich bzw. nicht immer dienlich ist. Auch wenn das „Wegsperren“ nur als ultima ratio praktiziert werden soll, so wird es doch problematisch, wenn man sich fragt, nach welchen Kriterien jemand „weggesperrt“ werden und wer die Normen dafür festlegen soll. - „Wegsperren“ ist im Grunde ein Unwort. Es stützt sich auf eine unsichere Diagnostizier- und Prognostizierbarkeit und unterminiert - bei aller Berechtigung des Schutzprinzips für die Allgemeinheit - das Prinzip der gemeinsamen sozialen Verantwortung für alle auf der Basis der Menschenrechte. Aus der Geschichte der Sozialpädagogik ist genügend bekannt, wie sich Jugendliche entwickeln, die sozialer Ausgrenzung ausgeliefert sind, und wie leicht aus sogenannten „Besserungsanstalten“ Einrichtungen der Repression werden können, vor allem dann, wenn das Sozialisierungsprinzip gesellschaftlich unterbewertet wird. 1.5 Nicht ein Ich entscheidet, sondern das Gehirn Aus neurowissenschaftlicher Sicht wird alles Verhalten des Menschen - sein Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln - vom Gehirn gesteuert. An sich ist es eine Binsenwahrheit, dass wir ohne unser Gehirn zu nichts fähig wären. Neu ist der Befund bzw. die interpretative Folgerung, dass der Mensch sich nicht kraft eines intentionalen Ich steuere, sondern dass er von seinem Gehirn gesteuert wird. Das Gehirn diktiert. Aus dem bisherigen Verhältnis „Das Ich und sein Gehirn“ wird „Das Gehirn und sein Ich“ (Speck 2007). Neurophysiologisch gesehen ist im Gehirn kein Ich als eigenes Steuerungszentrum zu finden. Laut der Neurobiologie fühlen oder erleben wir nur so etwas wie ein Ich-Bewusstsein oder Selbst, das fähig ist, willentlich zu agieren oder etwas zu bewegen. Be- VHN 3/ 2009 192 Otto Speck vor wir einen bewussten Willensimpuls verspüren, habe das Gehirn jedoch bereits entschieden. Der freie Wille sei eine Illusion: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“ (Singer 2004, 30). Damit wird das, was wir als Ich oder Selbst erfahren, zu einer kausal unwirksamen Größe bzw. zu einer bloßen Begleiterscheinung des agierenden Hirnapparates. Unser Selbstverständnis als selbstbewusste und verantwortliche Personen löst sich auf. Eine solche rein naturalistische Erklärung ist mit dem bisherigen Menschenbild nicht vereinbar; dieses wird gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Das persönliche Werten und Entscheiden wird auf das physikalisch-chemische Funktionieren der Hirnzellen und ihrer Netzsysteme reduziert. Es ist eine pädagogisch kaum nachvollziehbare Herausforderung, wenn es heißt, menschliches Verhalten werde allein von den im Gehirn unbewusst ablaufenden neuronalen Verschaltungen, d. h. von rein chemo-physikalischen Prozessen gesteuert; der Mensch sei insgesamt in seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem Verhalten biologisch determiniert; er folge ausschließlich Naturgesetzen, werde nur von ihnen dirigiert. Dass allerdings diese monistisch-physikalistische Reduktion auch neurobiologisch nicht zwingend ist, zeigt Daniel J. Siegel, ein amerikanischer Neuropsychologe und Pädagoge, in seinem Buch „Das achtsame Gehirn“ (2007) auf. Aus seiner Sicht ist therapeutisch und pädagogisch ein Ich oder Selbstsein unverzichtbar. Er versteht darunter eine neuronal fundierte „Organisationsstruktur“, die unsere Identität ausmacht und uns hilft, zu überleben und das Leben an seine Bedingungen anzupassen. Ich und damit auch „Geist“ seien nicht einfach mit „Gehirn“ gleichzusetzen. Es sei eine irrige Idee zu meinen, der Geist werde nur durch das Gehirn erschaffen (77). Er benutze vielmehr Teile des Gehirns. Da nur ein Ich oder Selbst bzw. eine Person Adressat von Erziehung sein kann, nicht aber das Gehirn, fragt es sich, ob bei dieser neurobiologischen Betrachtungsweise aus pädagogischer Sicht nicht deren oberstes Richtziel seinen Sinn verliert: die Hilfe zur autonomen Lebensgestaltung, zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Natürlich ist es unbestritten, dass ohne das Gehirn nichts geht und dass das Ich- und Selbstbewusstsein biologische Grundlagen hat. Dass es aber keine wirksame Ich-Intention geben soll, die pädagogisch angesprochen und angeregt wird, geht wiederum auch nicht in unser Hirn. Wir können einfach nicht anders denken. Der rein naturalistisch erklärte Mensch müsste sonst als Marionette seines Hirnapparates verstanden werden. Wir kämen pädagogisch in Schwierigkeiten, wenn wir in unserem Bewusstsein davon ausgehen sollten, dass alles, was ein Jugendlicher denkt und wie er handelt, allein von seinem Gehirn diktiert wird, sein Selbst also ohne Wirkung, d. h. eine Selbsttäuschung sei. Könnte dann nicht z. B. ein Jugendlicher, der gewalttätig geworden ist und zur Rechenschaft gezogen wird, erklären: Das war nicht ich, sondern mein Gehirn! Das, was wir in der Erziehungshilfe als Ich-Stärke bei einem Kinde oder Jugendlichen anstreben, verlöre damit seine Bedeutung. Selbstbestimmung würde demnach ein Epiphänomen oder ein „leer laufendes Rad“, wie es Jürgen Habermas formulierte (2005, 155). Wenn es von neurobiologischer Seite beruhigend heißt, das Menschenbild müsse sich nicht ändern, wir brauchten nur so zu handeln, als ob das Ich eine wirksame Bedeutung hätte, so entsteht pädagogisch das Problem des Nicht-mehrauthentisch-handeln-Könnens. Wie sollten Jugendliche das Reden von Selbst und Selbstbestimmung verstehen und akzeptieren, wenn sie doch aus dem Biologie-Unterricht wissen, dass es ein wirksames Selbst nicht gibt, dass sie gänzlich von ihrem Gehirn gesteuert werden, auf das sie wiederum keinen Einfluss haben? Eine weitere kritische Folgerung wäre, dass es biologisch gesehen keine Schuld und Verantwortung gäbe. Wir kennen natürlich die Probleme, die sich mit der Attribuierung von Schuld verbinden, wir wissen, wie ungerechtfertigt zahlreiche Schuldzuschreibungen in der Erzie- VHN 3/ 2009 193 Hirnforschung und Erziehungshilfe hung erfolgen und wie schwerwiegend die Folgen für Kinder und junge Menschen sein können. Wenn es entsprechend der Neurobiologie der Hirnapparat ist, der das Verhalten steuert, nicht ein wollendes Ich, so wäre die betreffende Person moralisch nicht persönlich verantwortlich für das, was sie tut. Wer einen anderen schädigt, wäre dann nicht schuldig. Jugendliche, die gewalttätig werden, könnten also nichts dafür, jedenfalls nicht im Sinne persönlichen Verschuldens. Das Gehirn, beeinflusst durch Erziehung, gaukle uns nur vor, wir hätten persönliche Schuld. Ein Übeltäter wäre - zitiert nach Singer (2003, 65) - nur ein „armer Mensch“, der „das Pech hat“, aus welchen Gründen auch immer entsprechend programmiert zu sein bzw. als kaltblütiger Mörder eben eine niedrige Tötungsschwelle zu haben. Seiner Tat läge keine „freie“ Entscheidung zugrunde, sondern ein neuronaler Prozess, der sich weithin unbewusst in ihm in Gang gesetzt hat. Wenn es neurophysiologisch heißt, er hätte gar nicht anders handeln können, so ist eine solche Feststellung zwar nach der Tat nachvollziehbar, nicht aber davor. Es gäbe sonst kein bewusstes Abwägen von Gründen, und ein erzieherisches Aufarbeiten der Tat wäre sinnlos. „Keiner kann anders, als er ist! “, schreibt Singer (2004, 63). - Der Hirnforscher H. Markowitsch stimmt in dem o. g. Gespräch seinem Interviewer durchaus zu, dass man zu einem jugendlichen Tunichtgut sagen könnte: „Du fühlst dich zwar schuldig, aber tröste dich, du kannst nichts dafür, dein Hirn war’s“ (120). - Übrigens: Wenn es keine persönliche Schuld gibt, dann gibt es auch kein persönliches Verdienst. Auch wenn es ohne Zweifel wichtig ist, mit dem Zuweisen von Schuld gerade in der Erziehung höchst vorsichtig umzugehen, ist man als Pädagoge doch irritiert, wenn persönliches Schuldsein ein bloßes Vorgaukeln des neuronalen Apparates sein soll (Warum tut er das eigentlich? ), wenn man demnach davon absehen oder wenn es unnütz und inhuman sein solle, einem Kind oder Jugendlichen ein persönliches „Schuldsein“ für sein übles Tun zuzusprechen. Menschen schulden einen Teil ihres Lebens auch anderen und erwarten deshalb, dass gegebenenfalls geklärt wird, wer einen Schaden verursacht oder „verschuldet“ hat, und dass ein Übeltäter sich entschuldigt. Menschen empören sich, wenn jemand, der gewalttätig geworden ist, „kein Schuldbewusstsein“ zeigt, wenn ein Jugendlicher auf die Frage, warum er den anderen niedergeschlagen habe, nur antwortete: „Das weiß doch ich nicht.“ Er könnte - neurophysiologisch aufgeklärt - noch hinzufügen: „Halten Sie sich an mein Gehirn, aber lassen Sie mich aus dem Spiel! “ Die Absurdität wäre perfekt. Strafen an sich bleiben aus neurobiologischer Sicht notwendig, vor allem zum Zweck der Abschreckung, u. U. auch der Besserung. Im Sinne einer Moral ohne Schuld wird vorgeschlagen, anstelle von Schuldzuschreibungen lediglich auf der sachlichen Ebene in der Weise zu verfahren, dass ein Übeltäter festgelegte Kosten oder Taxen für sein nicht tolerierbares Handeln zu entrichten hat. Das könnten Konventionalstrafen, z. B. Geldstrafen, sein; in gravierenden Fällen wäre eben ein „Wegsperren“ die nötige Konsequenz oder Strafe. Wir hätten es dann mit einem geschäftsmäßigen und pragmatischen „Erziehungs“verhältnis zu tun, bei dem ethische Prinzipien wie etwa Wahrung der Menschenrechte oder der Achtung der Menschenwürde an Bedeutung verlören; maßgebend wären dann Nutzenwerte und festgelegte Konventionen: Wenn du dieses oder jenes tust, kostet es dich so und so viel - wenn du erwischt wirst! Roth (2003 a) spricht sich unter Berufung auf wirtschaftswissenschaftliche Modelle für ein utilitaristisches Menschenbild aus, nach welchem sich menschliches Streben nicht an Ideen oder „metaphysischen“ Prinzipien ausrichtet, sondern pragmatisch am Vermehren von Lust und Glück bzw. an der Verminderung von Unlust und Leid, also an der Optimierung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses - anders gesagt an einem „möglichst stabilen und in sich widerspruchsfreien emotionalen Zustand“ (560). Ob das genügt? VHN 3/ 2009 194 Otto Speck Fragt man nach realen Lösungsvorschlägen für akute pädagogisch-psychologische Probleme, so wird von der Neurobiologie vor allem eine spezifiziertere Anwendung von Psychopharmaka in Aussicht gestellt. Letztere ist sogar die Quintessenz des 2004 von „elf führenden Neurowissenschaftlern“ verfassten „Manifestes über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“: In absehbarer Zeit würden neue Psychopharmaka zur Verfügung stehen, die „selektiv in bestimmten Hirnregionen an definierten Nervenzellrezeptoren angreifen“, wodurch die Therapie psychischer Störungen - und dann wohl auch die Heilpädagogik - revolutioniert würden (34). Wird aber mit einer solchen biotechnologischen Tendenz und Entwicklung nicht auch ein künftig gängiges und willkürliches Manipulieren des Menschen eingeleitet? 2 Pädagogische Positionen und Perspektiven Aus den neuen neurobiologischen Befunden, wonach alles Verhalten neuronal determiniert sei, könnte man einen Bedeutungsverlust des Pädagogischen, auch der Heil- und Sozialpädagogik, und damit eine Absage an den bisherigen pädagogischen Optimismus folgern. Eine solche Revision wäre in ihren Folgen pädagogisch schwerwiegend, da die sozialwissenschaftliche Wende der Pädagogik einen starken allgemeinen Auftrieb gegeben und speziell die Heilpädagogik aus einer allzu starken Abhängigkeit von der Medizin und Biologie gelöst hatte. Der heilpädagogische Grundsatz, dass kein Kind aufgegeben werden dürfe bzw. dass kein Kind als „unerziehbar“ abzustempeln sei, hatte die Erziehungshilfe humaner gemacht. Zeichnet sich nun eine Wende in Richtung manipulativer Anpassungszwänge in Verbindung mit mehr sozialer Exklusion ab? Wird hier das Menschenbild auf ein rein naturalistisches reduziert? Es gibt Neurobiologen, die dies bestreiten. Es wird sogar ausdrücklich betont, an der normativen Orientierung der Erziehung solle sich nichts Wesentliches ändern. Immerhin ist an der Evolution der Sozialkultur, die über die menschliche Natur hinausging, auch naturwissenschaftlich nicht zu rütteln. Verstehen wir also die Folgerungen der Neurophysiologie falsch? Sie enthalten in der Tat auch Widersprüchliches und Erklärungslücken (Geyer 2004; Speck 2008). Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass es sich um Interpretationen von Ergebnissen handelt, die von einer bestimmten Wissenschaft vorgenommen werden, ohne dass sie mit der Begrifflichkeit anderer Wissenschaften kompatibel wären. Begriffe wie Ich, Selbstbestimmung, Autonomie, freier Wille oder Person, auch Schuld und Verantwortung sind keine naturwissenschaftlichen Termini; sie entziehen sich also einer bündigen physikalistischen Erklärung. Man kann zwar das Feuern der Neuronen in bildgebenden Verfahren Millisekunden genau messen, nicht aber den genauen Zeitpunkt eines „Willensimpulses“. Wenn geisteswissenschaftliche Begriffe trotzdem in der Naturwissenschaft verwendet werden, so können sie nur als Metaphern verstanden werden, die für den außerphysikalischen Bereich nur bedingt brauchbar sind und daher dort u. U. Verwirrung stiften können. Wir haben auch semantische Schwierigkeiten, beispielsweise wenn von einer „gegenseitigen Bespiegelung zweier Gehirne“ die Rede ist und damit die Ich-Du-Beziehung gemeint sein soll. Oder wenn es um die Klärung von Gründen bei einer Willensentscheidung geht, so kann pädagogisch nicht darüber gesprochen werden, als handle es sich lediglich um das Sichten unbewusst ablaufender neuronaler Prozesse. Wenn es heißt, die Großhirnrinde „entscheide“ oder „das Gehirn denke und folgere“, nicht aber die betreffende Person, oder wenn man einen Buchtitel liest wie „Das Gehirn und seine Freiheit“, so entsteht eher Verwirrung als Klärung. Was soll man gar von einer Personifizierung des Gehirns halten, wenn Roth (2003 b, 180) schreibt, das Gehirn gaukele dem Ich „perfiderweise“ (Anführungsz. b. G. R.) die Illusion vor, VHN 3/ 2009 195 Hirnforschung und Erziehungshilfe etwas zu bewirken, was eigentlich nur von ihm, dem Gehirn, bewirkt werden könne (dazu auch Lüpke 2006). Wie sicher sind überhaupt naturwissenschaftliche Erkenntnisse? Skepsis ist jedenfalls angezeigt, wenn man z. B. folgende Nachricht liest (SZ 16. 7. 2008): Der amerikanische Genforscher Craig Venter hatte im Jahr 2000 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu 99 % verkündet. Schon nach acht Jahren musste er feststellen: „Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist.“ - Unsere Skepsis wird auch dadurch gestützt, dass die Neuro-Thesen z. T. allzu allgemein gehalten sind und die differenzierte pädagogische Praxis nicht erreichen. Sie bleiben vielfach im Ungewissen. Dieses Ungewisse kann pädagogisch als Beleg dafür in Anspruch genommen werden, dass eben nicht eindeutig negiert werden kann, dass in jedem Kinde die Chance einer Verbesserung des Verhaltens liegt, sei sie auch noch so klein und partiell. Diese Grundeinstellung vom generell offenen Ausgang von Erziehung ist nicht pädagogisch aufgebbar. Von der pädagogischen Praxis her, die im Besonderen vom lebensweltlichen Aspekt der Kinder und Jugendlichen ausgeht, wäre unter dem Eindruck der Betonung biologischer Faktoren zu fragen, wie wichtig das Soziale dann noch sei. Blickt man in die USA, wo sich schon seit Längerem die Auswirkungen der biologistischen Wende zeigen (Rifkin 1998), so liegt die Vermutung nahe, dass als Folge der neurowissenschaftlichen Fortschritte Lern- und Verhaltensprobleme mehr und mehr als „Ausdruck biologischer Unzulänglichkeiten“ gelten. Die Probleme der Kinder seien „weniger in Umfeld und sozialer Situation der Schüler zu suchen als vielmehr in der biologischen Struktur ihres Gehirns“ (zit. in Rifkin, 248). Dabei bleibt aber offen, was die Hirnforschung zur Bewältigung der biologisch und/ oder gesellschaftlich bedingten und zunehmenden Erziehungsschwierigkeiten tatsächlich beitragen könne. Immerhin haben die weiterhin anwachsenden Probleme mit Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter in unserer Gesellschaft verbreitet Hilflosigkeit ausgelöst. Nach einer neueren Untersuchung des Robert-Koch-Instituts (KiGGS 2007) gelten fast 12 % der Mädchen und 18 % der Jungen als verhaltensauffällig; das Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) wurde bei 7,9 % der Jungen und 1,8 % der Mädchen diagnostiziert, und fast 20 % der Jungen und 10 % der Mädchen wurden als gewalttätig bezeichnet. - Nach einer jüngsten Untersuchung von Bauer und Unterbrink (Universität Freiburg 2008) wirken sich diese Störungen - u. a. in Form von offener Feindseligkeit, schweren Beleidigungen und Aggressivität, und zwar sowohl von Schülerwie von Elternseite her - als kaum tolerierbare und eindeutig krank machende Belastungen für die Lehrkräfte aus. Hier liegen untrüglich gesellschaftlich bedingte Probleme vor. Sie verlangen nach sozial und langfristig orientierten Lösungen im Sinne des gesellschaftlichen Ganzen. Es wäre fatal, sollte die soziale Bedingtheit der heute und künftig zu bewältigenden Probleme biologistisch in den Hintergrund gedrängt und diese zu vorrangig biotechnologischen Reparaturproblemen werden. Der Schluss, heilpädagogische oder psychotherapeutische Wege der Hilfe einschließlich der Aufarbeitung belastender lebensweltlicher Erfahrungen wären zu lang, zu teuer und zu ineffektiv, und wir könnten uns allein schon aus wirtschaftlichen Gründen den „Luxus“ einer solch aufwendigen Einzelfallhilfe nicht mehr leisten, liegt zwar nahe; die Frage ist nur, was wir dabei menschlich eintauschen würden: Mehr Manipulation? Psychopharmaka sind zwar inzwischen in vielen Fällen unverzichtbar geworden, was aber nicht bedeuten kann, dass es nun weniger wichtig wäre, die soziale Kultur weiterzuentwickeln und sie auf die neuen Herausforderungen besser abzustimmen. Was verhindert werden muss, ist eine zunehmende Bedeutung einer mentalen Trennlinie zwischen der Mehrheit, die in steigendem Maße VHN 3/ 2009 196 Otto Speck auf Sicherheit bedacht ist, und auszugrenzenden „gefährlichen Gruppen“. Jede Ausgrenzung bleibt ein gesellschaftliches Problem, da niemand außerhalb der Gesellschaft existieren kann. Im Übrigen sei „das Leben selbst ein Risiko“ (Castel 2005, 129). Nicht alles Gefährliche lasse sich kontrollieren und ein für allemal bannen. Die neuen Befunde der Neurowissenschaften können zwar in vieler Hinsicht dazu beitragen, Erziehungsprobleme besser zu verstehen und die pädagogischen Einstellungen und Methoden entsprechend zu modifizieren. Soweit sie jedoch pädagogisch inakzeptable Interpretationen aufweisen, sind die unverzichtbaren Grundlagen des pädagogischen Ansatzes zu verteidigen. Eine „Biologisierung“ der Pädagogik wäre ihr jedenfalls ebenso abträglich wie eine „Soziologisierung“. Ob die Biologie als neue Leitwissenschaft in Betracht kommt, kann bestritten werden; sie hätte für eine Neuorientierung der Erziehung keine Sinninhalte anzubieten. Literatur Bauer, J. (2006 a): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg Bauer, J. (2006 b): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. München Castel, R. (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg Dalferth, M. (2007): Spiegelneuronen und Autismus. In: Geistige Behinderung 3, 215 - 231 Geyer, Ch. (Hrsg.) (2004): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/ M. Gyseler, D. (2007): Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften: Das Beispiel Autismus. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 76, 102 - 113 Habermas, J. (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/ M. KiGGS - Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (2007), durchgeführt v. Robert-Koch-Institut Berlin. In: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 5/ 6 Lüpke, H. v. (2006): Sprachliche Verwirrspiele - nicht nur in der Hirnforschung. In: Sonderpädagogische Förderung 51, 229 - 241 Manifest, Das (2004): Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. In: Gehirn & Geist 6, 30 - 37 Moor, P. (1965): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern/ Stuttgart Rifkin, J. (1998): Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Genetik. München Roth, G. (2003 a): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt/ M. Roth, G. (2003 b): Aus der Sicht des Gehirns. Frankfurt/ M. Roth, G. (2007): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Stuttgart Siegel, D. J. (2007): Das achtsame Gehirn. Aus dem Amerikanischen. Freiamt Singer, W. (2003): Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt/ M. Singer, W. (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Ch. (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/ M., 30 - 65 Speck, O. (2007): Das Gehirn und sein Ich? Zur neurobiologischen These von der Illusion eines bewussten Willens aus heilpädagogischer Sicht. In: Heilpädagogische Forschung, Bd. XXXIII, 2 - 10 Speck, O. (2008): Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen. München Prof. em. Dr. Otto Speck Ludwig-Maximilians-Universität München Pfarrer-Grimm-Straße 42 D-80999 München