Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Sozialer Raum
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Iris Beck
Wenn das System der Bildung, Erziehung und sozialen Hilfe für benachteiligte und behinderte Menschen zukunftsfähig werden soll, bedarf es einer Ausrichtung an den individuellen Lebenslagen und dem sozialen Umfeld, in dem sich das Alltagsleben vollzieht, einer möglichst wohnortnahen, offenen Angebotsstruktur, verbindlicher Kooperation und Koordination und einer Funktionsbestimmung in und Vernetzung mit Gemeinden. Die ICF, das SGB IX und die UNO-Konvention setzen bedeutende Zeichen dafür, dem Wandel 'von der institutionellen zur personalen Orientierung“ und zur gleichberechtigten Teilhabe im ganzen Umfang Rechnung zu tragen.
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VHN, 78. Jg., S. 334 - 337 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 334 Sozialer Raum Iris Beck Universität Hamburg „Ohne den Aufbau tragfähiger Strukturen im Alltagsleben ist das Projekt des anerkannten Lebens (für behinderte Menschen) nicht zu haben“ (Thimm/ Wachtel 2002) Trend Wenn das System der Bildung, Erziehung und sozialen Hilfe für benachteiligte und behinderte Menschen zukunftsfähig werden soll, bedarf es einer Ausrichtung an den individuellen Lebenslagen und dem sozialen Umfeld, in dem sich das Alltagsleben vollzieht, einer möglichst wohnortnahen, offenen Angebotsstruktur, verbindlicher Kooperation und Koordination und einer Funktionsbestimmung in und Vernetzung mit Gemeinden. Die ICF, das SGB IX und die UNO-Konvention setzen bedeutende Zeichen dafür, dem Wandel ‚von der institutionellen zur personalen Orientierung‘ und zur gleichberechtigten Teilhabe im ganzen Umfang Rechnung zu tragen. Denn trotz aller Reformen der letzten Jahrzehnte sind dauerhafte Bruch- und Problemstellen im Umsetzungsprozess zu konstatieren: Die Vergabe sozialer Rechte allein gewährleistet noch keine Zugehörigkeit; die traditionellen Integrationsmaßnahmen sind in ihrer Wirkung beschränkt durch unverändert selektive und segregierende (Regel- und Sonder-) Systeme; ein Merkmal wie „förderbedürftig“ oder „behindert“ reicht nicht aus, um die tatsächlichen Risiken und Chancen der Teilhabe des Einzelnen zu erfassen und entsprechende Leistungen zu planen. Art und Schwere der Behinderung, die soziale Lage und die persönliche Situation des Betreffenden spielen dafür ebenso eine Rolle wie die strukturellen, finanziellen, rechtlichen und konzeptionellen Bedingungen. Viel schärfer als bisher müssen deshalb das Wechselspiel dieser Faktoren und die Umsetzungsprozesse auf der Handlungsebene in den Blick genommen werden. Die Perspektive auf den individuellen Bedarf ist dabei zentral, aber dieser individuelle Bedarf ist ebenso sehr sozial und institutionell wie biografisch bedingt. Blendet man umfeldbezogene Dimensionen aus, wird dies immer Folgekosten zeitigen: „Die individuenbezogene Perspektive bedarf dringend […] der Ergänzung durch eine sozialräumliche Perspektive, welche die Gestaltung des Gemeinwesens in den Blick nimmt. Die Feststellung und Reklamierung von individuellen Hilfen zur Integration und Partizipation […] und deren Legitimation laufen ins Leere, wenn nicht gleichzeitig die Gestaltung der Infrastruktur der nahen sozialen Räume, in denen Partizipation und Integration verwirklicht werden müssen, in Angriff genommen wird“ (Thimm 2005, 327). Eine Öffnung zum Sozialraum braucht Strategien: Neben der Netzwerkförderung stellen Instrumente wie die soziale Nahraumplanung eine Voraussetzung für die Umsetzung dar. Die personale Perspektive wird dadurch nicht ersetzt, sondern durch sozialräumliche und gemeinwesenbezogene Aspekte ergänzt, um das derzeit zu starre Sondersystem in Richtung flexibler, vernetzter und vielfältiger, passgenauer Hilfen für den Einzelnen weiter zu entwickeln, ohne die notwendige Qualität, einschließlich spezieller, individualisierter Leistun- VHN 4/ 2009 335 Sozialer Raum gen, aufzugeben. Der binäre Code von Schwarz oder Weiß, Sondereinrichtung oder Integration, individualisierter Hilfe oder ‚Umfeld‘arbeit ist unzweckmäßig, weil er die Komplexität der Aufgaben unzulässig reduziert und die Kontingenz des Feldes und der Problemlagen unterschlägt. Teilhabe ist immer mehrdimensional (Barthelheimer 2007, 10) - Arbeit und Beschäftigung; soziale Beziehungen und Familie; Information, Bildung und Kultur; Freizeit, Mobilität, öffentliches und politisches Leben - und ergibt sich insgesamt erst durch das Zusammenwirken verschiedener Teilhabeformen im Lebensverlauf. Dabei stellt eine Teilhabeform immer auch eine Umwandlungsbedingung, einen Kontextfaktor für eine andere dar (ebd.). Dies gilt insbesondere an den Übergängen im Lebenslauf, aber auch horizontal im Gefüge der jeweiligen Lebenssituation und beteiligter Dienste. Der Blick auf die Lebenslage als Ganzes verhilft auch einer Sonderschule dazu, Teilhabechancen und -risiken vertikal zu bestimmen und individualisierte Übergänge, auch über Vernetzungen und Kooperationen, zu öffnen; dies muss aber auch horizontal geschehen, mit Blick auf die Funktion einer Sonderschule für die soziale, politische und kulturelle Teilhabe ihrer Schülerinnen und Schüler und ihre Funktion in und Vernetzung mit einem Stadtteil, einer Region. Der ‚Umfeld‘- oder ‚Gemeinde‘-Bezug in der Psychiatrie, Soziologie, Psychologie war Folge der Ablösung linear-kausaler, ontologisierender Denkansätze zugunsten mehrperspektivischer, ‚ökologischer‘ oder ‚systemischer‘ Theorien in den 1970er Jahren und richtete sich auf die Gemeinde als Ort der Ressourcen und der Lebensführung, aber auch der Entstehung von Krankheit und Behinderung; ein ausschließlich positiver, ‚romantischer‘ Blick wird hier allerdings öfter unterstellt, als dass er sich in den zentralen Begründungszusammenhängen nachweisen ließe. In die Bestimmungen des Sozialen Raumes gehen ebenso vielfältige Theoriebezüge und konzeptionelle Gedanken ein wie in die Lebensweltorientierung, beide sind eng verbunden, und beide kommen auch oft ohne explizite theoretische Begründungen zum Tragen. Was Hinte (2009, 20ff ) als zentralen Gewinn dieser Perspektive für die Soziale Arbeit konstatiert, gilt analog für die Sonderpädagogik: Mit der Entdeckung des ‚Umfeldes‘ wurde die Defektorientierung abgelöst. Und diese Entdeckung ist auch in der Sonderpädagogik nichts Neues. Bächtold, Thimm, Antor beispielsweise haben die Auseinandersetzungen um den Konflikt von System und Lebenswelt und gemeindenahe Hilfen früh aufgenommen. Doch weder in der Fachkonstitution noch in Theorie und Praxis kam diese Perspektive bislang ausreichend zum Tragen, obwohl die lebensweltliche Orientierung mittlerweile ein Standard sonderpädagogischer Aufgabenbestimmungen ist. Sie reduziert sich aber oft auf „individuelle Bedürfnisse“. Der Themenstrang der VHN 2009 hat versucht, ein Bild der vielfältigen theoretischen und praktischen Facetten aufzuzeigen, um eine breitere Auseinandersetzung im Fach anzuregen, die geführt werden muss, wenn es nun um Inklusion und Partizipation gehen soll. Der Transfer umfeld- und sozialraumbezogener Aspekte auf behindertenpädagogische Fragen berührt neben dem Rollen- und Aufgabenverständnis auch die Frage nach dem Verhältnis von Sonder- und Sozialpädagogik bzw. Sozialer Arbeit, das es konstitutiv weiter zu bearbeiten gilt. Notwendig ist aber auch und vor allem die theoretische Einbettung und Verortung dieser Auseinandersetzungen. Wenn man die von Habermas mit dem Lebensweltbegriff angestrebte Ebene der Analyse von Funktionen eines bestimmten Typus sozialen Handelns - kulturelle Reproduktion, Sozialisation und Integration - aufgreift, dann geht es um Identität, soziale Beziehungen, Alltagsleben und Alltagsbewältigung, aber auch um ‚System‘, Ungleichheit, Macht und Kontrolle, um Zugangschancen und um Ausschluss. Wenn der soziale Raum einzig als politisch definierter Bezirk verstanden, zum benachteilig- VHN 4/ 2009 336 Iris Beck ten Viertel und zum Ziel sozialpolitischer Interventionsstrategien erklärt wird, verkürzt sich der Raumbegriff ähnlich wie ein theorieloser Lebensweltbegriff und führt zur individuumszentrierten ‚Bewohneraktivierung‘. Zudem besteht ein Unterschied zwischen verwaltungsmäßig festgelegten und den von Menschen tatsächlich genutzten Räumen. Gegen diese territoriale Bestimmung lassen sich soziale Räume auch „sozialwissenschaftlich als Felder sozialer Kämpfe“ (Kessl u. a. 2005, 11) bestimmen. Wer kann sich wie an den Aushandlungs- und Durchsetzungsprozessen beteiligen? Der Blick auf die Akteure zeigt ihre „heterogenen und konfliktreichen Sozialräume“ (ebd.), ihre Aneignungs- und Durchsetzungsstrategien. Räumliche Zusammenhänge sind sozial konstruiert, die Wohnung z. B. „der Niederschlag einer sozialen Einheit - von Gruppen - im Raume“. Der Typus unserer Raumgestaltung … eine „handgreifliche, eine - im wörtlichen Sinne - sichtbare Repräsentation unserer Eigenart“ (Elias 1983), die auch Machtpositionen ver,körpert‘. Raum konstituiert und repräsentiert sich im Bewusstsein der Gesellschaft wie des Einzelnen. Der Raum als Ort der Interessensdurchsetzung und Verteilungskämpfe, als Ort der alltäglichen Lebensvollzüge von Menschen und der sozialen Beziehungen mit ihren stützenden wie auch belastenden Aspekten: All diese Dimensionen bilden zusammen die strukturellen Bedingungen ab, die die Lebenslage als den sozialen Chancen des einzelnen Menschen beeinflussen. Lebenslagen sind der durch äußere Faktoren konstituierte Handlungsspielraum zur Entfaltung und Befriedigung von Interessen und zur Herausbildung eines Lebensstils. Die Lebensbedingungen bilden die externen Ressourcen der Interessensverfolgung. Sie können vorteilhaft oder nachteilig sein, je nachdem, in welcher Position man sich im Gefüge der Macht und der Kontrolle in der Gesellschaft befindet. Andererseits müssen diese Ressourcen auch erst einmal nutzbar gemacht werden, der ‚Spielraum‘ wird vom Einzelnen oder von Gruppen ganz unterschiedlich ausgefüllt. Das Vorhandensein eines Vereins sagt beispielsweise nichts darüber aus, ob und wie ich ihn nutzen kann oder will. Dafür sind Bedingungen aufseiten des Individuums wichtig, aber auch die Ressource muss vorhanden und zugänglich sein. Ressourcen werden erst über Austauschprozesse mit der sozialen und ökologischen Umwelt verfügbar gemacht. Die individuelle Lebenslage ist nichts anderes als das strukturelle Pendant der Umweltpartizipation des Einzelnen, also der Vermittlungsprozesse zwischen Individuum und Umfeld. Teilhabe sowie Einschluss- und Ausschlusskriterien, welche die Teilhabe eröffnen oder begrenzen, sind zentrale Bedingungen des Handlungsspielraums, und jede Inklusion beschreibt zugleich eine Exklusion, die aber nicht per se negativ sein muss. Niemand nimmt ständig überall teil, und auch innerhalb eines Funktionssystems kann es zu vielfältigen Exklusionen kommen. Das begründet nochmals, warum die personale Perspektive nie eine isoliert auf das Individuum gerichtete ist und warum Inklusion und Partizipation untrennbar mit der Frage nach den individuellen Handlungsspielräumen einerseits und sozialer Ungleichheit und Exklusion andererseits verknüpft sind. Der derzeit in der Ungleichheitsforschung breit diskutierte Ansatz der Verwirklichungschancen von Amartya Sen hat eine hohe Nähe zum älteren Lebenslagenkonzept, ebenso wie der von Thimm präferierte Ansatz der Lebenschancen nach Dahrendorff. Sie alle sind zunächst einmal nur Betrachtungsrahmen - allerdings eben mehrdimensionale - für das Wechselspiel zwischen individuellen, ökologischen, sozialen und strukturellen Bedingungen, und sie brechen den Dualismus von Struktur bzw. System und Handlung/ Akteur bzw. Lebenswelt auf. Sie erfordern vertiefte theoretische Begründungen und erzwingen durch ihre Komplexität in der Forschung Konzentrationen auf eher makro- oder eher meso- und mikrostrukturelle Fragen. In der Ungleichheitsforschung werden diese Ansätze derzeit breit rezipiert, weil es nun um die Frage des tatsächlichen Einbezogenseins VHN 4/ 2009 337 Sozialer Raum im Gegensatz zur eher losen System-Integration geht. Wenn Teilhabe als Anspruch zu verstehen ist, Menschen ausgehend von ihren Interessen und Ressourcen und entsprechend ihren aktuellen Fertigkeiten und Kompetenzen Verantwortung zu übertragen, so dass sie aktiv Einfluss auf Situationen und Kontrolle über ihr Leben gewinnen können, liegt der Bezug zur sozialen Netzwerk-, zur Belastungs- und Bewältigungsforschung nahe, aber auch zu Theorien des (pädagogischen) Handelns und der Institution und Organisation. Auch in strukturschwachen Regionen ist gelingende Lebensbewältigung - Teilhabe - möglich, wenn man Vernetzungen in der Region herstellt und wenn verpflichtende Kooperationen bestehen; wenn über Sozialraumanalysen die kommunalen oder regionalen Bedarfslagen, Ressourcen und Barrieren erschlossen werden; wenn die sozialen Netzwerke der Adressaten gestützt und gefördert werden und eine umfassende Orientierung an der individuellen Bedarfssituation mit Blick auf Bildung, Förderung der Identität und der Kompetenzen erfolgt. Makrostrukturelle Fragen dürfen darüber aber nicht ausgeblendet bleiben, denn Teilhabe - die Verteilung von Lebenschancen - ist und bleibt gebunden an gesellschaftliche Spannungsfelder von Macht und Abhängigkeit, Hilfe und Kontrolle, Gleichheit und Gerechtigkeit. Literatur Barthelheimer, P. (2007): Politik der Teilhabe. Ein soziologischer Beipackzettel. In: Friedrich-Ebert- Stiftung (Hrsg.): Projekt Gesellschaftliche Integration. Fachforum Analysen und Kommentare, Arbeitspapier No.1. Berlin Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (Hrsg.) (2008): Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe. Bonn/ Jülich: DHG-Eigenverlag Elias, N. (1983): Die höfische Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp Franz, D.; Beck, I. (2007): Umfeld- und Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe. Empfehlungen und Handlungsansätze für Hilfeplanung und Gemeindeintegration. DHG-Schriften Bd. 13. Hamburg/ Jülich: DHG-Eigenverlag Hinte, W. (2009): Eigensinn und Lebensraum - zum Stand der Diskussion um das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. In: VHN 78, 20 - 33 Kessl, F.; Reutlinger, Chr.; Maurer, S.; Frey, O. (Hrsg.) (2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden Klein, G. (2007): Armut, soziale Benachteiligung, Vernachlässigung. In: VHN 76, 156 - 158 Thimm, W. (2005): Das Normalisierungsprinzip. Ein Lesebuch zu Geschichte und Gegenwart eines Reformkonzeptes. Marburg Thimm, W.; Wachtel, G. (2002): Familien mit behinderten Kindern. Wege der Unterstützung und Impulse zur Weiterentwicklung regionaler Hilfesysteme. Weinheim Prof. Dr. Iris Beck Universität Hamburg FB Erziehungswissenschaften Sektion 2 Sedanstraße 19 D-20146 Hamburg E-Mail: beck@erzwiss.uni-hamburg.de
