Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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„Der Pädagog muss Anthropolog werden!“ Psychologisch-heilpädagogische Aspekte der Falldarstellungen in den Werken von Georgens/Deinhardt und anderer Autoren ihrer Zeit
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Johannes Gstach
Georgens und Deinhardt gelten zwar als Begründer des Begriffs „Heilpädagogik“, doch ist ihr umfangreiches Schrifttum heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, den einen zentralen Aspekt ihrer Überlegungen, den psychologischen, anhand der von ihnen verfassten Falldarstellungen und theoretischen Überlegungen zu rekonstruieren und in Beziehung zu stellen zu Arbeiten anderer zeitgenössischer Autoren. Dabei wird auf begriffliche Bestimmungen von Idiotie, Schwach- und Blödsinn eingegangen, auf das sich daraus ergebende Verhältnis von Medizin und Erziehung, die heilpädagogisch-medizinische Behandlung der „inneren Welt“ des behinderten Kindes sowie die dabei verwendete Psychologie. Abschließend wird der Frage nachgegangen, weshalb die Überlegungen von Georgens und Deinhardt, gerade auch, wenn man deren Psychologie betrachtet, in der Nachfolgezeit in Vergessenheit geraten sein könnten.
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11 VHN, 79. Jg., S. 11 - 26 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Fachbeitrag „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ Psychologisch-heilpädagogische Aspekte der Falldarstellungen in den Werken von Georgens/ Deinhardt und anderer Autoren ihrer Zeit Johannes Gstach Universität Wien n Zusammenfassung: Georgens und Deinhardt gelten zwar als Begründer des Begriffs „Heilpädagogik“, doch ist ihr umfangreiches Schrifttum heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, den einen zentralen Aspekt ihrer Überlegungen, den psychologischen, anhand der von ihnen verfassten Falldarstellungen und theoretischen Überlegungen zu rekonstruieren und in Beziehung zu stellen zu Arbeiten anderer zeitgenössischer Autoren. Dabei wird auf begriffliche Bestimmungen von Idiotie, Schwach- und Blödsinn eingegangen, auf das sich daraus ergebende Verhältnis von Medizin und Erziehung, die heilpädagogisch-medizinische Behandlung der „inneren Welt“ des behinderten Kindes sowie die dabei verwendete Psychologie. Abschließend wird der Frage nachgegangen, weshalb die Überlegungen von Georgens und Deinhardt, gerade auch, wenn man deren Psychologie betrachtet, in der Nachfolgezeit in Vergessenheit geraten sein könnten. Schlüsselbegriffe: Geschichte der Heilpädagogik, Fallgeschichten, Georgens und Deinhardt “Pedagogues Have to Become Anthropologists! ” Psychological-Remedial Aspects of the Case Studies in the Works of Georgens and Deinhardt and Other Authors of their Time n Summary: Even though Georgens and Deinhardt are considered to be the originators of the notion “remedial education”, their extensive literature has mostly fallen into oblivion. In his article, the author tries to reconstruct a central aspect of their thoughts and considerations - their psychological reflections - by means of their case studies and their theoretical concept. In a further step, he attempts to relate his findings to the concepts of other authors. He goes into details about definitions like imbecility, debility, idiocy, about the relations between medicine and education, about the remedial-medical treatment of the “inner world” of the disabled child and the appropriate psychology. Finally the author tries to shed light upon the fact why the concepts of Georgens and Deinhardt - especially in view of their psychology - have been buried in oblivion. Keywords: History of remedial education, case histories, Georgens and Deinhardt Levana war der Name der römischen Schutzgöttin der Neugeborenen. Und es war die Bezeichnung, die Jan Daniel Georgens, Jeanne Marie von Gayette und Heinrich Marianus Deinhardt, angeregt durch Jean Pauls pädagogisches Hauptwerk (Selbmann 1982, 25), vor 150 Jahren für jene Anstalt wählten, die sie schließlich im März 1857 im Schloss Liesing bei Wien bezogen. Zuvor, im Jahre 1856, hatten sie in Baden bei Wien bereits mit ersten Erziehungsversuchen begonnen - zunächst bei den vier Kindern des Gärtners jenes Hauses, das Georgens, Gayette und Deinhardt in Baden bezogen hatten, dann ab 14. Juni 1856 an der neunjährigen Leontine von K., die „an Veitstanz, Lähmung und secundärem Blödsinn“ (Georgens 1858, 48) litt. Blickt man in die heutige heilpädagogische Literatur, so tauchen die Namen Georgens und Deinhardt meist nur mehr in einigen wenigen Kontexten auf: VHN 1/ 2010 12 Johannes Gstach n Insbesondere für ihre Leistung, den Begriff der „Heilpädagogik“ kreiert zu haben, finden Georgens und Deinhardt heute immer wieder Erwähnung und Beachtung (z. B. Trüper/ Trüper 1978, 5; Meyer 1983, 108; Merkens 1988, 31; Kobi 1993, 121; Speck 1998, 48; Haeberlin 2005, 21; Ellger-Rüttgardt 2008, 15). Mitunter wird knapp darauf verwiesen, dass sie das zweibändige Werk „Die Heilpädagogik“ verfasst und die Anstalt „Levana“ gegründet haben (z. B. Schmitten 1985, 135; Merkens 1988, 28). n Neben dem Hinweis auf die Etablierung dieses Begriffes finden sich aber auch weitergehende Würdigungen: So stellt für Bleidick die Arbeit von Georgens und Deinhardt überhaupt den ersten Versuch einer „umfassenden heilpädagogischen Theorie“ (1999, 12) dar, einen Versuch, der erst ca. 30 Jahre später von Strümpell von Neuem unternommen wurde. Für Ellger-Rüttgardt ist es „der erste großartige Versuch, das Gesamtgebiet der Heilpädagogik in systematisch-historischer Perspektive darzustellen“(2008, 124) und Verbindungen zur Medizin, der allgemeinen Pädagogik und der Wohltätigkeit zu suchen, für Möckel ist „Die Heilpädagogik“ „das bedeutendste Werk dieser Zeit“ (1988, 116), der „mit Abstand … stärkste Beitrag der heilpädagogischen Bewegung zur Pädagogik im 19. Jahrhundert“ (ebd., 155). n Im Hinblick auf Fragen der Schulpädagogik bleibt bei Myschker (1983) unerwähnt, dass Georgens und Deinhardt - so wie Saegert und andere - Unterrichtsversuche für sog. Geistesschwache unternahmen. Dabei weist z. B. Möckel (2004, 410) darauf hin, dass die Leistung von Georgens und Deinhardt auch darin bestand, dass sie aus sonderpädagogischer Sicht bspw. eine Theorie der Schule entworfen haben. Ihr Interesse an einer Reform der Volksschule habe sich dabei aus ihrem Verständnis von „Krankheit“ und „Heilung“ ergeben (Lindmeier/ Lindmeier 2002, 26). n Verschiedentlich wird heute auch auf den Gedanken der „sozialen Integration“ bei Georgens und Deinhardt (z. B. Lindmeier/ Lindmeier 2002, 249), ihre „integrative Pädagogik“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 124) hingewiesen. Dies trug dazu bei, dass sie die Bedeutung der Arbeitserziehung erkannten, ihrer Anstalt eine Lehrlingswerkstätte angliedern wollten und für die gemeinsame Erziehung bzw. das gemeinsame Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten eintraten (Lindmeier/ Lindmeier 2002, 26; Ellger-Rüttgardt 2008, 124). Allerdings fanden ihre wissenschaftlichen Ansprüche so gut wie keine Nachfolge. Störmer (2006, 17) stellt beispielsweise fest, dass Georgens und Deinhardts Versuch, das „Konstrukt ‚Geistige Behinderung‘ von der psychologischen Seite her zu definieren“, die Fachdiskussion der Folgezeit kaum beeinflusst und so gut wie keine praktische Bedeutung erlangt habe. „Die großartigen Ansätze“ (Möckel 1988, 72) von V. E. Milde und Georgens und Deinhardt in der Heilpädagogik, mit denen Letztere „ihrer Zeit und den Einstellungen der damaligen heilpädagogischen Fachwelt schon weit voraus waren“ (Meyer 1983, 108), seien in der Folgezeit von der wissenschaftlichen Pädagogik nicht aufgegriffen worden, was mit einem Kompetenzschwund in jenen Bereichen bezahlt worden sei, wo die „normale“ Erziehung scheiterte (Möckel 1988, 72). Bei all diesen Würdigungen fällt auf, dass - neben den etwas umfangreicheren Auseinandersetzungen bei Möckel (1988, v. a. 155 - 161; 2007, v. a. 126ff, 247ff ), Selbmann (1982) sowie Hänsel und Schwager (2004) - intensivere Analysen des theoretischen Schaffens von Georgens und Deinhardt, materialreichere ideen- und sozialgeschichtliche Einordnungen usw. praktisch nicht zu finden sind. Ein Beitrag wie der folgende kann allerdings keinen Ersatz für solche systematischeren Analysen darstellen, denn hier soll lediglich die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Aspekt des Werkes von VHN 1/ 2010 13 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ Georgens und Deinhardt erfolgen, nämlich mit deren Fallgeschichten und die von den beiden Autoren verwendete Psychologie, die in der aktuelleren Forschung bislang unberücksichtigt geblieben sind. Die von Georgens und Deinhardt veröffentlichten Falldarstellungen werfen nicht nur ein Licht auf die Problemstellungen, mit denen es die Mitarbeiter/ innen der Levana zu tun bekamen, sondern sie enthalten auch Hinweise auf die Form des Verstehens der jeweiligen Probleme und die „Behandlung“ dieser Kinder und Jugendlichen. Im Folgenden soll es also darum gehen, einige zentrale psychologische Aspekte herauszuarbeiten, die sich in diesen Fallbeispielen und weiteren Arbeiten von Georgens und Deinhardt finden lassen. Die sozialpolitische Dimension, die sich z. B. in ihrer Forderung manifestierte, der Pädagoge müsse Sozialist sein (z. B. Georgens/ Deinhardt 1863, 515), bleibt in der vorliegenden Arbeit jedoch unberücksichtigt. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit der für Georgens und Deinhardt grundlegenden Forderung, dass jeder Erzieher „Anthropolog werden (muss)“ (Georgens/ Deinhardt 1861, 8). 1 Zu den „Krankengeschichten“ Wendet man sich den Schriften von Georgens und Deinhardt zu, so finden sich dort neben umfangreichen theoretischen Überlegungen immer wieder Fallbeschreibungen: Das im Jahre 1858 herausgegebene „Jahrbuch der Levana“ enthält dreizehn solcher „Krankengeschichten“, auf welche die Autoren auch in ihrem zweibändigen Werk „Die Heilpädagogik“ (1861/ 63) immer wieder vignettenartig zurückkommen; im Anhang des zweiten Bandes der „Heilpädagogik (1863) sind „physiognomische Tafeln“, also Porträts von 36 Kindern der Levana wiedergegeben, die durch kurze Beschreibungen ergänzt sind. Georgens und Deinhardt waren jedoch nicht die ersten heilpädagogischen Autoren, die Fallbeschreibungen in ihre Werke aufnahmen: Schon Jahrzehnte zuvor illustrierten Autoren in mehr oder weniger ausführlichen Fallberichten ihre Erziehungsversuche mit Menschen mit Behinderung. Als Beispiel sei hier nur auf Johann Wilhelm Klein (1807) hingewiesen, der in einem schmalen Bändchen über seinen 1804 begonnenen Erziehungsversuch an dem blinden Jakob Braun berichtete. Doch auch zur Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung finden sich bei mehreren anderen Autoren Fallbeschreibungen: Genannt sei hier von den deutschsprachigen Autoren Saegert (1845, 2ff ), der zunächst ausführlich über seinen Erziehungsversuch an Hermann (oder: Herrmann) Taube berichtete und in der ein Jahr später veröffentlichten Schrift „Die Heilung des Blödsinns auf intellectuellem Wege“ (1846) zwanzig Krankengeschichten anführte. Daneben veröffentlichten deutschsprachige Autoren wie z. B. Maffei (1844), Rösch (1844; 1851), Rösch zusammen mit den Ärzten der Heilanstalt Mariaberg (1850) sowie Guggenbühl (1853) in ihren Schriften zahlreiche Krankengeschichten und Fallvignetten. Auch wenn es im folgenden Beitrag zentral um die Fallberichte von Georgens und Deinhardt geht, so sollen doch die Fallgeschichten der anderen genannten Autoren zum Zwecke des Vergleichs immer wieder herangezogen werden. Diese Autoren stehen dabei exemplarisch für drei von vier Motiven, die nach Lindmeier und Lindmeier (2002, 248) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Anstaltsgründungen für Idioten führten: die medizinisch-pädagogische Position von Georgens und Deinhardt, das medizinisch-naturwissenschaftliche Motiv bei Rösch, Maffei und Guggenbühl und das erzieherisch-unterrichtliche Motiv bei Saegert; auf Autoren, die aus kirchlich-religiösen Motiven Anstalten gründeten, wird im folgenden Beitrag nicht näher eingegangen. Die von Georgens, Deinhardt (und Gayette) 1858 verfassten „Krankengeschichten“ stellen erstaunlich umfangreiche Fallbeschreibungen von insgesamt 13 Kindern dar, die jeweils zwischen drei und zwölf Seiten umfassen. VHN 1/ 2010 14 Johannes Gstach Mehrere Berichte enthalten einen ärztlichen Vorbericht, einer auch die schriftliche Darstellung eines Vaters. In jedem Fall werden die Schädelabmessungen, die Kopfform des Kindes, dessen Körperhaltung, Gesichtsausdruck, auffällige Verhaltensweisen, Hinweise zur Reinlichkeit usw. skizziert. Die Kinder selbst entstammten wohl - bis auf einen Fall - vermögenderen Familien (Georgens/ Deinhardt 1863, 38), da die Pflegebehandlung der Kinder in der Levana (mit einer Ausnahme) von deren Eltern bezahlt werden musste. Fünf der Kinder waren Mädchen im Alter von neun bis 19 Jahren, die restlichen Knaben, von denen sieben beim Eintritt in die Levana zwischen fünf und 14 Jahren alt waren; bei einem Knaben wird das Alter nicht genannt. Bei jedem Kind werden auch die Maßnahmen beschrieben, die innerhalb der Levana zur Linderung des jeweiligen „Leidens“ getroffen wurden, und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder werden dargelegt. Beschrieben werden zudem die Probleme im Umgang mit diesen Kindern sowie deren Rückfälle, wobei auch Vermutungen über die Ursachen dieser Rückfälle angestellt werden. Immer wieder wird die Rätselhaftigkeit von so manchem kindlichen Verhalten betont. Bei somatischen Beschwerden wurden auch medikamentöse Behandlungen angewendet, und die Autoren gehen darauf ein, ob diese medikamentöse Behandlung ihrer Ansicht nach erfolgreich war oder nicht. Blicken wir nun zu den „anderen“ Fallgeschichten: Saegert stellte 1846 in seinem Buch 20 Krankengeschichten vor. Rösch hat in mehreren Beiträgen Fallgeschichten aufgenommen: In seiner groß angelegten Untersuchung zum Kretinismus aus dem Jahre 1844 finden sich 61 Fallgeschichten; 1850 dokumentierte er gemeinsam mit Krais 20 Krankengeschichten, 1852 folgten weitere elf. Maffei hat 1844 seine Untersuchung mit 25 Fallgeschichten illustriert, während sich bei Guggenbühl eine Anzahl von Fallvignetten findet, von denen 26 aus eigener Erfahrung stammen. Der Umfang dieser Falldarstellungen ist dabei sehr unterschiedlich. Das Spektrum reicht von mitunter wenigen Zeilen bei Guggenbühl bis zu neun Seiten bei Saegert, wobei bei ihm auch Kurzberichte von einer Seite zu finden sind. Bei Rösch u. a. umfassen die Berichte zwei bis drei Seiten, bei Maffei zwei bis sechs Seiten. Obgleich diese Beschreibungen bezüglich ihres Umfangs sehr unterschiedlich sind, scheint es aufgrund der Anzahl der Fälle dennoch möglich zu sein, Vergleiche zwischen den Autoren anzustellen. Auch in inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sich diese Fallbeschreibungen: Saegert stellt seinen Krankengeschichten einen medizinischen Bericht voran, auf den meist eine Statusfeststellung bei der Aufnahme sowie eine Art von Behandlungsprotokoll bzw. Entwicklungsprotokoll folgt. Röschs Beschreibungen des Jahres 1844 umfassen meist nur Krankheitszustände; in den Fallberichten des Jahres 1850 folgt auf die Zusammenfassung der Vorgeschichte der Erkrankungen und der dadurch bedingten Entwicklung des Kindes oft eine Art von Tagebuch der Erkrankungen innerhalb der Anstalt, mitunter finden sich auch knappe Hinweise zur Familiengeschichte und auf einige auffällige Verhaltensweisen; 1852 werden darüber hinaus vereinzelt kognitive Fähigkeiten, grundsätzliche Aspekte der Interaktion mit den Kindern und Erziehern der Anstalt sowie Verhaltensänderungen benannt. Berücksichtigt man bei Guggenbühl nur jene 17 „Fälle“, die er als „Neueste Beobachtungen“ bezeichnet (1853, 62), so folgt meist auf eine kurze Beschreibung der familiären Situation, der somatisch-medizinischen Aspekte sowie deren Auswirkung auf Verhalten und Psyche des „Falles“ eine knappe Beschreibung der meist medizinisch-somatischen, manchmal auch pädagogischen Behandlung und der Erfolge, die dadurch erzielt werden konnten. Auch Maffeis Falldarstellungen sind vor allem medizinisch-somatische Beschreibungen, die vereinzelt Hinweise auf familiäre Beziehungen sowie auf auffällige Verhaltensweisen des „Falles“ beinhalten. VHN 1/ 2010 15 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ Schon diese knappe Übersicht macht Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung der Fallbeispiele deutlich: n Der somatisch-medizinischen Dimension wird von allen hier erwähnten Autoren große Aufmerksamkeit geschenkt, sie wird als Voraussetzung für die Möglichkeit pädagogischen Intervenierens angesehen. n Alle Autoren gehen auch auf Familiengeschichte und familiäre Umstände ein, wobei, mehr oder weniger ausdrücklich, oft die Frage im Hintergrund steht, ob die Erkrankung des Kindes möglicherweise durch Vererbung oder problematisches elterliches Verhalten (z. B. Alkoholismus) verursacht wurde. n Pädagogische Aspekte werden mit unterschiedlicher Gewichtung bei allen Autoren berücksichtigt: Bei Saegert und Georgens und Deinhardt werden pädagogische Maßnahmen ausdrücklich und ausführlich geschildert, bei Rösch (1844) und Maffei (1844) jedoch kaum; bei Röschs gemeinsam mit anderen Autoren verfassten Berichten aus den Jahren 1850 und 1852 werden pädagogische Aktivitäten etwas ausführlicher berücksichtigt; bei Guggenbühl werden nicht immer erzieherische Aktivitäten genannt, und mitunter kann nur aus dem angeführten Behandlungsergebnis (im Sinne von: XY kann nun sprechen) darauf geschlossen werden, dass auch pädagogische Aktivitäten angesetzt wurden. Eine Besonderheit weisen die Krankengeschichten von Georgens, Deinhardt (und Gayette) auf: Hier werden auch ausführlich Rückschläge beschrieben und die Rätselhaftigkeit so mancher Verhaltensweise herausgearbeitet. Immer wieder wird die Erfolglosigkeit einer Behandlung ausdrücklich benannt, und es werden verschiedene Hypothesen diskutiert, die das rätselhafte Ereignis erklären könnten. Damit kommen wir zu einer „Krankengeschichte“ von Georgens und Deinhardt, nämlich jener der neunjährigen Leontine von K., die als erster „Heilpflegling“ am 14. Juni 1856 in die Levana aufgenommen wurde (Georgens 1858, 129 - 141): Es ist die Geschichte der Tochter eines gräflichen Ehepaars, die im 4. Lebensjahr von der Mutter in ein Kloster gegeben worden war, wo sich Leontine bis wenige Monate vor ihrer Überstellung in die Levana aufhielt. Bald nach ihrem Eintritt ins Kloster dürften sich erste Onanieprobleme eingestellt haben, die während des gesamten dortigen Aufenthaltes anhielten. Hin und wieder erhielt Leontine Besuch von ihrer Mutter. Im Jänner 1856 wurde der Mutter mitgeteilt, Leontine sei gefährlich krank und leide am sog. Veitstanz 1 , weshalb sie wieder ins elterliche Heim zurückkam, wo sie von einem Arzt erfolglos behandelt wurde. Dieser konstatierte ein Rückenmarksleiden und empfahl eine konsequente Behandlung und Aufsicht außerhalb des elterlichen Hauses sowie eine „diätetisch-physisch-medicinisch-gymnastische() Kur“ (Georgens 1858, 130). Die Mutter wird als „nervöse, doch sonst gesunde Dame“ beschrieben, der Vater als „ein starker kräftiger Mann“, der jedoch vor fünf Jahren aufgrund einer „Apoplexie“, also eines Schlaganfalls, eine halbseitige Lähmung erlitten hatte (ebd., 130). Leontine selbst wird von Georgens u. a. so beschrieben: „(D)as Kind kam in dem Zustande des Blödsinns, mit gelähmter rechter Seite, dem Veitstanze, allen seinen Convulsionen und der Tobsucht in die heilpflegende Behandlung“ (1858, 130). Der zentrale Begriff ist in diesem Fall also der Begriff „Blödsinn“, den Georgens und Deinhardt in Abgrenzung zu jenem der „Idiotie“ näher bestimmten. 2 „Idiotie“ und „Blödsinn“ 1863 schreiben Georgens und Deinhardt (1863, 37), dass Leontine der einzige von ihnen beobachtete Fall gewesen sei, bei dem eine normale organische Anlage vorlag und trotzdem eine rasche Verblödung einsetzte, die jedoch aufgrund der heilpädagogischen Behandlung rasch behoben werden konnte. Ein anderer VHN 1/ 2010 16 Johannes Gstach zentraler Begriff in ihrem Schrifttum ist jener der „Idiotie“, den sie vom Begriff des „Blödsinns“ unterscheiden. Was verstehen Georgens und Deinhardt unter „Idiotie“? Hier liege „eine ursprüngliche Anlage vor, die früher oder später zur Entwicklung kommen kann“, wobei diese Anlage „die normale Entwicklung des kindlichen Organismus bis zu seiner ersten Reife im Allgemeinen und die Entfaltung und Gestaltung des Seelenlebens insbesondere unmöglich macht“ (ebd., 36; Hervorh. i. O.). Darüber hinaus zeichneten sich die Idioten durch den „Mangel des Zusammenhanges und Zusammenhaltens ihrer geistigen Thätigkeiten, die Unfähigkeit diese zu beherrschen und ihr geistiges Vermögen zu verwerthen“ aus (ebd., 95; Hervorh. i. O.). An anderer Stelle bezeichnen die Autoren diese Fähigkeit, die bei Idioten fehle, als „Zentralisationsvermögen“ (ebd., 78), worunter sie das Vermögen verstehen, die seelischen Funktionen und Energien zu bündeln. Dieses Vermögen sei bei den Übergangsformen noch vorhanden, bei Idioten fehle es: Die Prozesse, die das Bewusstsein gestalten, verliefen hier dezentralisiert, d. h. sie vollzögen sich teils außerhalb des Bewusstseins, teils könnten sie nicht beherrscht werden und unterhöhlten so das geistige Gleichgewicht (ebd., 79). Betrachtet man Georgens’ und Deinhardts Überlegungen zum „Idiotismus“, so werden zumindest die folgenden vier Punkte deutlich: n Die „Idiotie“ stellt eine anlagemäßig bedingte dauernde „Geistesstörung“ dar. n Sie wird nur in Ausnahmefällen durch äußere Bedingungen - Unfall oder Krankheit - hervorgerufen. n Die „idiotische“ Anlage muss sich nicht zwingend in vollem Umfang durchsetzen, sie kann in ihrer Wirksamkeit durch zweckmäßige Beeinflussung, z. B. eine heilpädagogische Tätigkeitsregelung, begrenzt werden. n Zentrales Merkmal der Idiotie ist die Unfähigkeit zur Zentrierung des geistigen Geschehens. Bei Leontine führte die Behandlung zu einer normalen psychischen Konstellation, weshalb bei ihr keine Anlage für eine dauerhafte „Geistesstörung“ vorgelegen sei. Doch in welchem Verhältnis steht dann für Georgens und Deinhardt Leontines „Blödsinn“ zu der sog. „Idiotie“? Für sie sind „Idiotie“ und „Normalität“ nur die zwei extremen Pole psychischen Geschehens. Dazwischen gebe es Übergangsstufen, zu denen sie die Zustände des Stumpfsinns, der Beschränktheit und des Schwachsinns zählen (Georgens/ Deinhardt 1863, 101ff ), die aber nicht der „Idiotie“ zuzurechnen seien. Bei diesen Übergangsstufen lasse sich, sobald der Wille zur Mitarbeit gewonnen sei, das Vorstellungsvermögen mit normalen Mitteln beeinflussen, wobei sich selbstständig eine „Weltanschauung“ ausbilden könne. Von der „Idiotie“ ebenfalls zu unterscheiden sei aber auch die Geisteskrankheit, die sich durch die Selbsterkenntnis überwuchernde Illusionen auszeichne (ebd., 129ff ); eine Erscheinungsweise der Geisteskrankheit sei dabei jene des Blödsinns, bei der eine „mißmuthige() Gleichgültigkeit“ (ebd., 131) vorliege. Bei Leontine sprechen Georgens und Deinhardt im Sinne dieser Übergangsstufen von „Blödsinn“ und nicht von „Idiotie“, da bei dem Mädchen eine Beeinflussung des Vorstellungsvermögens und eine selbstständige Ausbildung einer „Weltanschauung“, also eines reflektierten Verhältnisses zur Welt möglich war. Dessen krankhafte Zustände waren keine dauerhaften, denn sie konnte später ihre geistigen Kräfte vollständig nutzen und sich selbstständig eine „Weltanschauung“ bilden. Auch Saegert (1845) spricht - schon im Titel seines Werkes - von „Blödsinn“ und meint gleich zu Beginn der Behandlung von Her(r)mann Taube, „daß der sc. blödsinnig sei“ (4; Hervorh. i. O.). Allerdings versteht er unter dieser Bezeichnung etwas anderes als Georgens und Deinhardt: Für Saegert stellt „Blödsinn“ einerseits den Oberbegriff für die drei Seelenzustände der Imbecillité im Sinne Esquirols, der Idiotie im engeren Sinne und des Kretinismus dar; andererseits übersetzte er Esquirols Be- VHN 1/ 2010 17 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ zeichnung „Imbecillité“ mit dem Begriff „Blödsinn“, womit Blödsinnigkeit für Saegert auch einen speziellen Seelenzustand darstellt. Die Gemeinsamkeit dieser drei Seelenzustände sei die intelligenzmäßige Beeinträchtigung, wobei beim Blödsinn im engeren Sinn diese Beeinträchtigung in der geringsten Ausprägung vorliege (Saegert 1845, 14). Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen drei Seelenzuständen ist also der Stand der Intelligenzentwicklung, die wiederum in Beziehung gesetzt wird mit dem Grad des Eingebundenseins in soziale, z. B. erzieherische Kontakte. Doch nicht nur die Position, die der Begriff des Blödsinns in den Klassifikationsschemata von Saegert und von Georgens und Deinhardt einnimmt, unterscheidet sich, sondern auch das zentrale Merkmal, mit dem die verschiedenen Seelenzustände identifiziert werden können: Ist es bei Saegert die Intelligenz bzw. der Grad der Intelligenzentwicklung, so ist es bei Georgens und Deinhardt das Zentralisationsvermögen (Georgens/ Deinhardt 1863, 78). Allerdings gehen sowohl Saegert wie Georgens und Deinhardt davon aus, dass bei all diesen Formen der geistigen Behinderung von einer seelischen Betrachtung auszugehen sei. Die Differenz zwischen den Auffassungen von „Intelligenzgraden“ auf der einen und „Zentralisationsvermögen“ auf der anderen Seite besteht dann darin, was die Autoren jeweils unter „Seele“ verstehen. Dieser Punkt soll hier nur knapp zusammenfassend dargestellt werden: Saegerts geht davon aus, dass die Seele göttlichen Ursprungs sei, „eine Daseinsweise des Geistes, ein einzelner in die Erscheinung getretener göttlicher Gedanke“ (1846, 5), die, da von Gott nichts Unvollkommenes kommen kann, nicht als solche behindert sei. Seinem Verständnis entsprechend besitzt die menschliche Seele die Möglichkeit, sich zu entfalten - doch kann diese Möglichkeit zur vollständigen Entwicklung der Seele behindert werden, wobei der Grund der Behinderung außerhalb der Seele liegt, nämlich vor allem im Bereich des Zentralen Nervensystems. Saegert betont in diesem Zusammenhang, dass „Blödsinn im weitesten Sinne des Wortes … also keine Seelenkrankheit (ist), sondern ein durch mancherlei Ursachen herbeigeführter Zustand des Centralorgans, der unter den gewöhnlichen Entwickelungsbedingungen die Entwickelung der Seele für eine höhere Stufe behindert“ (1845, 23). In diesem Punkt entspricht Saegerts Auffassung jener der Mediziner Maffei und Guggenbühl: So betont Maffei: „Es giebt keine blödsinnige, keine närrische, keine kretinöse Seele“ (1844, 137), denn die Seele, die Psyche könne nicht erkranken. Auch für Guggenbühl ist unbestritten, „dass die Seele bei den Cretinen ganz dieselbe sei, wie bei gesunden Menschen, und dass blos die krankhafte Beschaffenheit ihres Gehirns und ihres Körpers die normale Entwicklung derselben hemme“ (1853, 89). Georgens und Deinhardt sehen diese physiologische Bedingtheit der seelischen Zustände ebenfalls, jedoch schlagen sie vor, eine psychologische Betrachtung des Idiotismus vorzunehmen, denn die psychologischen Abnormitäten seien „unzweifelhaft erkennbare() Thatsachen“ (1863, 94). Eine der Ursachen von Behinderung liegt für sie im Seelischen selbst: Der Mangel des Zentralisationsvermögens ist der Mangel eines seelischen Vermögens. Damit legen sie ihrem Seelenverständnis keine theologische Konzeption zugrunde, womit ihre Auffassung des Seelischen eher jener des Mediziners Rösch entspricht, für den „Kretinismus [eine] … nach Seele und Leib mehr oder weniger bedeutend entartete menschliche Organisation“ (1844, 1f ) darstellt. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die kategoriale Ordnung und die begriffliche Bestimmung von Idiotie und anderen Zuständen sehr unterschiedlich ausfielen. Dabei fällt auf, dass die Auffassungen davon, was das Wesen des Seelenlebens eigentlich ausmacht, quer durch die von Lindmeier und Lindmeier (2002, 248) skizzierten „Lager“ gehen: Saegert als Vertreter der erzieherisch-unterrichtlichen Position vertritt z.B. eine Auffassung, die jener von Maffei als Vertreter der VHN 1/ 2010 18 Johannes Gstach medizinisch-naturwissenschaftlichen Position weitgehend entspricht usw. Eines haben die hier vorgestellten Autoren jedoch gemeinsam: Sogar die Vertreter einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Sichtweise, selbst wenn sie wie Maffei (1844, 6) für eine radikal organmedizinische Betrachtung des Kretinismus eintraten, konnten nicht von der Beschreibung seelischer Zustände absehen. Die „Entdeckung“ des Seelenlebens bei Menschen mit einer geistigen Behinderung (Lindmeier/ Lindmeier 2002, 20) blieb also nicht auf die Vertreter einer medizinisch-pädagogischen und einer erzieherisch-unterrichtlichen Sichtweise beschränkt, sondern hatte auch die Vertreter einer medizinischen Betrachtungsweise erfasst. Doch spätestens an diesem Punkt wurde die Frage nach dem Verhältnis von Medizin und (Heil-)Pädagogik virulent, denn wenn - so Saegert - die Behinderung durch eine Krankheit des „Centralorgans“ bedingt ist, so ist nicht nur die (Heil-)Pädagogik, sondern auch die Medizin auf den Plan gerufen. 3 Zur Arbeitsteilung zwischen Medizin und Heilpädagogik Die Beschäftigung mit zeitgenössischen medizinischen Erkenntnissen und der Versuch, diese Erkenntnisse in die - im weiteren Sinne: (heil-)pädagogische - Behandlung von „Idioten“ usw. einfließen zu lassen, lag zu Georgens und Deinhardts Zeit in der Luft (vgl. Strachota 2002, 257ff ). Dabei war das Anliegen, eine Nosologie, d. h. eine Klassifikation der Krankheitserscheinungen vorzunehmen, zunächst und vor allem ein medizinisches (Nissen 2005, 148ff ). Tatsächlich dürfte insbesondere Georgens auch ein ausgeprägt medizinisches Interesse gehabt haben, selbst wenn er, wie Selbmann (1982, 21ff ) schreibt, kein entsprechendes Studium absolviert hatte, jedoch ausgiebige autodidaktische Studien betrieb, die er mit seiner Übersiedlung nach Wien im Jahre 1852 noch intensivierte (Georgens u. a. 1858, 45). Hier kam er in Kontakt mit humanistisch gesinnten Medizinern, wobei ihm der Pädiater L. W. Mauthner vorschlug, eine „medicinisch-pädagogisch“ orientierte Heilanstalt aufzubauen (ebd., 47; Selbmann 1982, 34). Auch von anderen Medizinern wie z. B. dem Kretinenforscher J. J. Knolz wurde die 1856 gegründete Levana aktiv unterstützt. Nicht zuletzt die finanziellen Probleme dürften jedoch u. a. zur Schließung der Anstalt im Jahre 1865 oder 1866 geführt haben (Selbmann 1982, 40f ). In theoretischer Hinsicht diskutierten Georgens und Deinhardt 2 die Zusammenarbeit von Medizin und Heilpädagogik bereits im „Jahrbuch der Levana“. Die von ihnen betonte Notwendigkeit der Zusammenarbeit wird schon durch die Tatsache verdeutlicht, dass sie jenem Tätigkeitsfeld, das sie ab 1861 als „Heilpädagogik“ bezeichneten, zunächst den Titel „medicinisch-pädagogische Behandlung“ (z. B. Georgens u. a. 1858, 17) gaben. Auch in dieser Hinsicht befanden sie sich in guter Tradition, denn auch für Saegert war ein solches Zusammenwirken unumgänglich. Dies zeigt sich nicht nur in Saegerts (1845, 29f ) Zusammenarbeit mit dem Mediziner Dr. Böhm, der den Gesundheitszustand der neu aufzunehmenden Zöglinge begutachtete und ihre weitere ärztliche Behandlung besorgte - wobei Saegert dessen Berichte bei so gut wie allen Fallgeschichten anführte (1846, 155ff ) -, sondern auch daran, dass er Wert darauf legte, dass seine Bemühungen die Anerkennung von Ärzten fand (ebd., IVf ). Schließlich ist für ihn die ärztliche Tätigkeit auch dort willkommen, „wo sie die intellectuellen und anderweitigen Anregungen wesentlich unterstützen kann, wenn die Ursachen gehemmter Gehirn- oder Nerventhätigkeit klar zu Tage liegen“ (ebd., 243). Da sich aber die psychische Entwicklung nicht von selbst vollziehe, wenn die organischen Prozesse vom Arzt kuriert seien, so sei die erzieherische Handlung darüber hinaus notwendig (ebd., 132). Für Guggenbühl und Rösch war es am Beginn der 1840er Jahre selbstverständlich, dass VHN 1/ 2010 19 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ die ärztliche Tätigkeit der (heil-)pädagogischen vorgeordnet sei. Guggenbühl (1853) betonte in seinen Fallbeispielen immer wieder, dass die medizinische Einwirkung auf die körperliche Entwicklung die Voraussetzung für das Erwachen der Seele darstelle. So schreibt er z. B. im Zusammenhang mit der Behandlung der 7 ½-jährigen M. H.: „Hätte man den Zustand vom rein pädagogischen Standpunkt aus behandeln wollen, und zuerst mit der Entwicklung der psychischen Vermögen begonnen, so würde die Sache nur viel schlimmer geworden sein, wie die Erfahrung bereits früher in einzelnen Fällen gelehrt hat“ (ebd., 63). Auch Rösch (1844, 229f ) vertrat zunächst - mit Berufung auf Guggenbühl - diese Ansicht der Vorgeordnetheit des Arztes, denn zuerst müssten die kretinischen Kinder körperlich erstarken, bevor sie von Lehrern unterrichtet werden könnten (ebd., 231). Dass in die körperliche Behandlung selbst dann aber bereits Momente von Erziehung, von Beziehungsherstellung (Möckel 1988, 129) einflossen, war Guggenbühl und zunächst auch Rösch damals nicht bewusst. 4 Die heilpädagogisch-medizinische Behandlung und die Seele des Kindes Die Tatsache, dass jene, die sich bis ca. zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der „Heilung“ der Idioten aus medizinischer oder heilpädagogischer Sicht beschäftigten, oft auch mehr oder weniger ausführliche theoretisch-psychologische Modelle in ihren Schriften entwickelten, deutet auf die wachsende Bedeutung hin, die man dem „Inneren“ des behinderten Menschen beimaß. Dabei war die Psychologie erst seit wenigen Jahrzehnten daran, sich aus philosophisch-metaphysischen Spekulationen zu befreien, sich zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin zu entfalten und ihre Erkenntnisse empirisch zu fundieren (Eckardt u. a. 2001). Insbesondere die hier vorgestellten Fallbeispiele weisen darauf hin, dass dieses Innere nun auch verstärkt bei Menschen mit Behinderungen in den Blick genommen wurde. Allerdings blieben dabei viele psychische Aspekte, die in den Falldarstellungen aufleuchteten, in der theoretischen Reflexion dann trotzdem unberücksichtigt. Dies gilt, wie erwähnt, bspw. für den Aspekt der Beziehungsherstellung. Allem Anschein nach fehlte noch das theoretischpsychologische Instrumentarium, um die Bedeutsamkeit jener Aspekte für die konkrete Arbeit zu verstehen, denn z. B. Georgens und Deinhardt gehen in ihren theoretischen Reflexionen auf diese Dimensionen nicht ein: Betrachtet man Leontines Krankengeschichte, so wird deutlich, dass Maßnahmen wie das Figurenlegen, die Flechtarbeiten, das Ausnähen nicht einfach nur dazu dienten, ihren körperlichen Schwächezustand zu verbessern. Tatsächlich sollten sie auch allmählich Leontines Selbstvertrauen entwickeln, das „an die Stelle der sinnlichen Selbstbefriedigung (trat)“ (Georgens u. a. 1858, 132), also der Onanie. Weitere, in ihrem Anspruch sich steigernde Beschäftigungen folgten, sodass das Mädchen trotz anfänglicher Lähmung bereits nach vier Monaten begann, mit der Feder zu schreiben. Nun wurde Leontine auch in die sozialen Prozesse der Anstalt, z. B. in Gestalt des Tischdeckens, eingebunden. Die Sprachentwicklung habe ebenfalls gute Fortschritte gemacht. Auch in anderen Falldarstellungen gibt es solche Hinweise: n Bei der 15-jährigen Rosalie wurde neben Seifenbädern eine Einölung der Hände vorgenommen. Diese „fast zärtliche Behandlung“ (ebd., 166) habe für die „Misstrauische“ schon etwas Heilendes gehabt, was man an ihrem dankbaren Blick ablesen konnte. Auch ihre mütterlichen Züge wurden für die Kur genutzt, indem man ihr das schwächlichste Kind der Levana als Schützling übergab. „Das wirkte hebend und selbst anregend für ihre sprachliche Mittheilung“ (ebd., 167). Außerdem öffnete sich Rosalie nun auch für die Kontakte mit den anderen Kindern. VHN 1/ 2010 20 Johannes Gstach n Beim 6-jährigen Franz, der sprachunfähig und in seinen Bewegungen völlig unsicher war, wurde versucht, an seine Interessen anzuknüpfen: Er nahm gerne teil an Spielen, die Musik erfreute ihn, und er hatte eine Neigung, Bilder anzuschauen. Seine Sprachfähigkeit, so die Zielsetzung, sollte befördert werden, um ihn unterrichtsfähig zu machen. In Saegerts Fallbeispielen finden sich ähnliche Hinweise - auch wenn er dem interaktionellen Geschehen im Vergleich zu Georgens und Deinhardt wesentlich weniger Aufmerksamkeit schenkte und es ihm u. a. um die Beschreibung individueller Lernfortschritte ging. Doch vereinzelt finden sich Hinweise wie jener, dass bei Otto v. D. (Saegert 1846, 206ff ) die Übungen am Schwebebaum auch zu einer Reduktion seiner Ängstlichkeit und einer Verbesserung seines Selbstvertrauens führten; bei Dorette R. (ebd., 223ff ) wurde das Turnen sogar gezielt zur Entwicklung von Selbstvertrauen und Aufmerksamkeit eingesetzt, bei anderen Kindern wie Alfred K. (ebd., 231ff ) hatte das (Ball-)Spielen diese Funktion. Doch auch bei Saegert führen diese Hinweise - ebenso bei Guggenbühl und Rösch - nicht zur theoretischen Reflexion der psychischen Bedeutsamkeit solcher Aktivitäten. Rösch, der 1844 der erzieherischen gegenüber der medizinischen Einwirkung eine nachrangige Bedeutung beigemessen hatte, änderte 1850 seine Ansicht: „Die Behandlung blödsinniger, leiblich und seelisch verkümmerter Kinder … darf nicht blos eine ärztliche oder heilende, sondern sie muß ebensowohl und zu gleicher Zeit eine erziehende seyn“ (1850, 21). Dabei müsse der Erzieher jede seelische Regung beim Blödsinnigen bemerken und versuchen, an diese anzuknüpfen, um sie zu entwickeln. Wie die Zusammenarbeit von Medizin und Heilpädagogik nach Ansicht von Georgens und Deinhardt zu gestalten sei, kann man z. B. Leontines „Krankengeschichte“ entnehmen, denn neben medizinisch orientierten Maßnahmen - z. B. das Verabreichen von Medikamenten, Waschungen, Heilgymnastik usw. - wurde mit ihr auch in einer heilpädagogischen Weise bspw. beim Figurenlegen gearbeitet, doch die heilpädagogische Zielsetzung all dieser Maßnahmen, also auch der medizinischen, war die seelische Umbildung. Die Praxis der Heilpädagogik ziele nämlich, in Unterscheidung zur medizinischen Praxis, auf „Heilung“ in einem bestimmten Sinne, die nicht dem Arzt überlassen werden könne: Dem Arzt gehe es nämlich nicht um die Entwicklung des Bewusstseins, sondern um die Störungen „des schon entwickelten Bewusstseins“, und seine Tätigkeitsregelung beziehe sich nicht auf den Gesamtorganismus, sondern ziele nur auf die „Stärkung eines bestimmten Organs“ (Georgens u. a. 1858, 33). Zwar zeigen Fallbeispiele wie jene von Julius, Iduna und Mariane (ebd., 210ff ), dass für rätselhafte Verhaltensweisen und Erscheinungen somatische, also medizinische Ursachen gesucht wurden und dass die Behandlung zunächst ebenfalls aus medizinisch-somatisch orientierten Maßnahmen bestand. Doch sollte damit, ähnlich wie schon bei Guggenbühl und Saegert, der „Gesamtorganismus“, also Körper und Seele, für weitere heilpädagogische Aktivitäten vorbereitet werden. Worin bei Georgens und Deinhardt das Spezifische der heilpädagogischen gegenüber der medizinischen Tätigkeit gesehen werden kann, zeigt sich bspw., wenn sie zunächst eine „äußerliche“ Grenze zwischen diesen beiden Tätigkeitsfeldern ziehen, nämlich den „Übergang von der Kindheit zu dem reiferen Alter“ (Georgens/ Deinhardt 1863, 33), und diese Grenzziehung mit dem Hinweis auf das „Innere“, das Seelische der Menschen begründen: Kinder, die noch „umbildungsfähig“ seien, würden in den Handlungsbereich der Heilpädagogik fallen, Jugendliche und Erwachsene jedoch in den der Medizin, denn „die Wirksamkeit der pädagogischen Behandlung (ist) in der Kindheit die eingreifendste“ (ebd., 34). Die heilpädagogische Tätigkeit sollte demnach darauf abzielen, eine seelische „Umbildung“ beim VHN 1/ 2010 21 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ Kind voranzutreiben, was bei älteren Menschen nicht mehr so leicht möglich sei. Angestrebt werden kann dieses heilpädagogische Ziel mitunter auch mit Methoden, die zugleich medizinischen Zwecken dienen. Die eingangs vorgestellten medizinischen und heilpädagogischen Maßnahmen zur Behandlung der Onanie bei Leontine illustrieren dies: Einerseits dienten die medizinischen Maßnahmen dem Ziel der Kräftigung des - aus heutiger Sicht vermutlich aus hysterischen Gründen - gelähmten Armes, andererseits dienten sie auch dem Ziel, das Kind im heilpädagogischen Sinne zu ermutigen und sein Selbstbewusstsein zu stärken. Die allmähliche seelische Umbildung Leontines wurde also auch mit Maßnahmen in Angriff genommen, die zugleich medizinischen Zwecken dienten. Die heilpädagogische Zielsetzung der Umbildung war jedoch nicht Selbstzweck, die Umbildung sollte die Voraussetzung dafür bilden, dass das Kind am Unterricht teilnehmen konnte (Georgens/ Deinhardt 1863, 99). Maßnahmen, um diese Unterrichtsfähigkeit zu entwickeln, waren einerseits die gymnastischen Übungen, andererseits die Sinnenübungen, die im Rahmen von Spiel, Wanderungen und praktischen Arbeitsübungen (z. B. dem Figurenlegen) stattfanden (ebd., 486). Diese Maßnahmen waren nicht neu, doch mitunter unterschieden sich die Schwerpunktsetzungen bei den genannten Autoren, wobei z. B. Saegert die Sprachanbildung ins Zentrum seiner Bemühungen stellte. Als heutiger Leser der Schriften von z. B. Georgens und Deinhardt sticht einem eine merkwürdige Diskrepanz ins Auge: In den Fallbeispielen werden seelische Bedeutsamkeiten heilpädagogischer und medizinischer „Tätigkeitsregelungen“ zwar genannt, manchmal nur vage angedeutet - doch wurde diese Bedeutsamkeit nicht selbst zum Gegenstand theoretischer Reflexion und in die Überlegungen zur „Anthropologie“ aufgenommen. Der Grund dafür dürfte in den „Psychologien“ liegen, die diese Autoren ihren Überlegungen zugrunde legten. 5 „Der Pädagog soll Anthropolog sein! “ Diese Forderung erhoben Georgens und Deinhardt (z. B. 1861, 8; 1863, 515) in ihrem Werk „Die Heilpädagogik“ mehrmals (neben jener, dass der Pädagog auch „Socialist“ sein solle). Was meinten sie damit? Der Begriff der Anthropologie umfasste ihrer Auffassung nach die Erkenntnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen: jene der Physiologie, der Psychologie, aber auch jene der Physiognomik und der Phrenologie, wobei sie jedoch insbesondere bei den letzten beiden Disziplinen davor warnten, zu vorschnellen Schlüssen aufgrund von Ähnlichkeiten zu kommen. Eine Ergründung des Wesens des Idiotismus und die Unterscheidung von idiotischen einerseits und beschränkten, stumpfen, dummen, verstandesschwachen u. a. Kindern andererseits sei jedoch nur im Rahmen einer eingehenden physiologischen und psychologischen Erörterung möglich (Georgens u. a. 1858, 18). Allerdings gehen sie nicht davon aus, dass für die heilpädagogische Tätigkeit nur die Anthropologie bzw. Psychologie eine Rolle spielt. So schwanken sie bei Leontine aufgrund der „außerordentlichen Stärke“ (ebd., 38) der Onanie zwischen der Erklärung, ob bei ihr nicht doch eine gewisse anlagemäßige Disposition dazu vorliege, und der Vermutung, ihre Onanie könnte durch äußere Gegebenheiten bedingt sein, durch die „große Reizbarkeit der Mutter und das eigenthümliche, obwohl nicht ungewöhnliche Eheverhältnis“ (ebd., 38). Dieses Schwanken zeigt: Georgens und Deinhardt deuten in den Fallbeispielen einen Zusammenhang von äußeren Bedingungen und innerseelischen Konflikten an (Georgens/ Deinhardt 1863, 499). Deshalb solle die Heilpädagogik neben den organischen Ursachen einer Krankheit auch die familiären, sozialen, ökonomischen, also die „,objektiven Ursachen‘ der Verkümmerung, Mangelhaftigkeit und Entartung“ (ebd., 495) in den Blick nehmen. 1863 sprechen sie deshalb sogar von „anerzogene(r) Idiotie“ (ebd., 54; VHN 1/ 2010 22 Johannes Gstach Hervorh. i. O.), bei der eine zweckwidrige Pflege und Behandlung eine krankhafte Anlage derart stärke, dass sie schließlich als unüberwindbar erscheine. Doch diese Hinweise führen nicht zu weiteren anthropologischen Überlegungen, denn es fehlt ihnen eine „Psychologie“, die einen Zugang zum seelischen Erleben eröffnen würde. Die von Georgens und Deinhardt verwendete Psychologie besagt in groben Zügen nämlich Folgendes: Die psychische „Eigenartigkeit“ werde, so schreiben sie (1861, 41), bestimmt durch sog. „Sphären“, denen je eine gewisse Selbstständigkeit zukomme. Diese Sphären seien: Konstitution, Temperament, Sinnesart und innere Sinne, geistige Anlagen, moralische Anlagen, Charakter. Diesen Bestimmungssphären liegen Anlagen zugrunde, die als Bedürfnisse und Triebe wirksam werden (ebd., 44). Im Bereich der Bestimmungssphäre der „Konstitution“ unterscheiden sie näher zwischen „üppiger“, „florider“, „robuster“ und „nervöser“ Konstitution und im Bereich des „Temperaments“ zwischen „phlegmatischem“, „sanguinischem“, „cholerischem“ und „melancholischem“ Temperament (ebd., 48ff ). In analoger Weise werden auch die anderen „Bestimmungssphären“ beschrieben. Deutlich wird: Diese Psychologie ist keine Psychologie, die das psychische Erleben ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, sondern psychische Kräfte in klassifizierender und spekulativer Weise nebeneinander stellt, Kräfte, die - so die weitere nicht-empirisch fassbare Annahme - miteinander Mischungen eingehen können und dann eine bestimmte, beobachtbare psychische Konstellation hervorbringen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen also die Fragen, welche Kräfte wie zusammenwirken, wie die „Bestimmungssphären“ untereinander sich beeinflussen und bedingen, wie diese Kräfte klassifiziert werden können, wie eine beobachtbare Problematik dann ihrerseits klassifiziert werden kann, und nicht Fragen, wie das Individuum sich selbst und die es umgebenden Bedingungen erlebt, wie es mit diesem Erleben selbst umgeht, wie es daraus resultierende Spannungen und Konflikte löst usw. Die Akzentverschiebung von einer primär „spekulativ-klassifizierenden“ zu einer primär „verstehenden“ Psychologie stand zu Georgens’ und Deinhardts Zeit in den Anfängen, so dass ihre Falldarstellungen in einem Spannungsverhältnis zu ihren theoretischen Ausführungen standen. Auch Saegert (1846, 3 - 154) stellt in seinem Werk ausführlich anthropologische Überlegungen an, die vor allem psychologischer Natur sind. Obgleich er sich dabei auf medizinische wie auch auf philosophische Autoren stützt, ist seine Psychologie das Ergebnis von Spekulationen. Saegert auf der einen und Georgens und Deinhardt auf der anderen Seite eint, dass sie imponierende theoretische Gebilde zur Anthropologie bzw. zur Psychologie entwickelten, die v. a. Georgens und Deinhardt dann im Sinne eines Klassifikationsschemas über die Fallgeschichten legten. So wird zum Beispiel bei Rosamunde eine „hochgradige Melancholie“ diagnostiziert, womit ihre Willens- und Affektlosigkeit bezeichnet wird (Georgens/ Deinhardt 1858, 185), doch eröffnete diese psychologische Diagnose nichts Neues an der jeweiligen Fallgeschichte, denn Melancholie sei „eine besondere Energie …, die verinnerten Eindrücke und die vorstellig gewordenen Selbstempfindungen umsetzend festzuhalten“ (Georgens/ Deinhardt 1861, 54), was ungefähr so viel bedeutet, als dass der Melancholiker sich von der Außenwelt zurückzieht und sich mit seiner Innenwelt beschäftigt - also als willens- und affektlos erscheint. Georgens und Deinhardts Psychologie bestand mehr oder weniger aus Metaphern, die ein alltagssprachlich beschreibbares Verhalten nochmals mit einem Begriff belegten, doch den bezeichneten Sachverhalt nicht erklärten, sondern zum Beispiel auf humoralpathologischen Annahmen beruhten, die ihrerseits nicht empirisch fassbar waren. Andere Überlegungen zur Psychologie, z. B. jene von Rösch und Krais (1850) oder jene von Helferich (1850), waren deskriptiv gehalten: VHN 1/ 2010 23 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ Auch sie erklärten nichts, sondern versuchten, bestimmte allgemeine Aspekte im Verhalten bzw. im seelischen Leben der Cretinen und Idioten zusammenfassend darzustellen. So gehöre, schreibt bspw. Helferich (1850, 68ff ), zu den einfachsten Tätigkeiten der Seele die Wahrnehmung äußerer Zustände, wobei es den Cretinen oft an Aufmerksamkeit fehle, die demzufolge durch Übungen geschult werden müsse. Trotz dieses Defizits der theoretischen Konstruktion kann man festhalten, dass Georgens und Deinhardt (1861, 207) versucht haben, mit ihren Falldarstellungen zu einer wissenschaftlichen Fundierung der Heilpädagogik beizutragen. Zum Zwecke dieser Fundierung müsse Beobachtungsmaterial angefertigt werden, das die Basis einer wissenschaftlichen Beschreibung sowie einheitlicher Begriffsbestimmung abgebe. Für die wissenschaftliche Nutzbarmachung solcher Fallbeobachtungen sowie die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Anstalten auszutauschen, die ebenfalls solche Beobachtungen anfertigen, sei eine „Einigung über die Beobachtungs- und Darstellungsmethoden nothwendig“ (ebda., 209). Diese wissenschaftlichen Ambitionen fanden jedoch kaum Folgewirkungen: Das Werk von Georgens und Deinhardt wurde praktisch nicht rezipiert und stellte - wie in der Einleitung bereits erwähnt - nicht die Basis für eine wissenschaftliche Konsolidierung dieses Faches dar. 6 Abschließende Bemerkungen Blickt man auf die genannten Autoren zurück, die in dem Jahrzehnt um 1850 publizierten, so fällt deren mehr oder weniger intensive Bezugnahme auf die Seele des „idiotischen“, „blödsinnigen“ bzw. „schwachsinnigen“ Kindes auf. Bei Georgens und Deinhardt stellte diese Bezugnahme einen zentralen Ausgangspunkt ihres Denkens dar - der zweite war die Betonung der sozialen Dimension, die in dem vorliegenden Beitrag jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung war. Diese Entdeckung der „Seele“ des behinderten Kindes (Lindmeier/ Lindmeier 2002, 20) bildete die Grundlage dafür, das behinderte Kind als „bildungsfähig“ anzuerkennen. Die Idee der Bildsamkeit, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen immer mehr an Bedeutung gewann (Ellger-Rüttgardt 2008), hatte die Erkenntnis zur Voraussetzung, dass es da etwas gibt, das gebildet werden kann: Auch Menschen mit Behinderung, mit einer geistigen Behinderung haben eine „Seele“. Was für uns heute selbstverständlich klingt, musste damals erst entdeckt, als Erkenntnis verteidigt und als Phänomen praktisch und theoretisch verstanden werden. Dazu dienten auch die Fallbeispiele, die von Autoren wie Saegert und Georgens und Deinhardt vorgestellt wurden. Diese Autoren verfolgten darüber hinaus mit ihren theoretischen Schriften auch das Ziel, die Wissenschaftsorientiertheit einer Tätigkeit zu demonstrieren, die sich mit Menschen mit Behinderung beschäftigt. Saegert entwickelte in Auseinandersetzung mit dem philosophischen und medizinischen Denken seiner Zeit ein Modell einer spekulativen Anthropologie, in die auch psychologische Kategorien aufgenommen wurden. Dezidiert wissenschaftliche Absichten verfolgten Georgens und Deinhardt bei der Darstellung ihrer „Krankengeschichten“. Auch sie entwickelten eine Anthropologie, in die eine spekulative, kategorial orientierte Psychologie eingewoben war. Gerade dieser kategoriale Aspekt sollte dabei helfen, die empirischen Phänomene, die sich in den „Krankengeschichten“ zeigten, zu ordnen. Jedoch geriet diese theoretische, kategorial-spekulative Psychologie in ein deutliches Spannungsverhältnis zu der erlebnishaften Art, wie die Fälle beschrieben wurden. Die theoretische Psychologie, die Georgens und Deinhardt verwendeten und die zwar eine lange geschichtliche Tradition hatte, jedoch schon zu ihrer Zeit veraltet war, half nicht, die Fallgeschichten besser zu verstehen bzw. dem Erlebten eine Dimension der Erklärung beizufügen, sondern lieferte bestenfalls eine künstliche kategoriale Ordnung von Fällen. VHN 1/ 2010 24 Johannes Gstach Doch blickt man auf die Fallgeschichten selbst, so sind diese in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert: In aller Offenheit und mit vielen Details beschreiben sie sowohl die von Georgens und Deinhardt unternommenen erfolglosen medizinisch-medikamentösen als auch (heil-)pädagogischen Behandlungswege. Nicht zuletzt deshalb laden diese „Krankengeschichten“ auch heute noch dazu ein, das Rätselhafte des jeweiligen Verhaltens verstehen zu wollen und zu überlegen, ob in dem einen Fall beispielsweise eine hysterische Problematik, in einem anderen eine autistische Disposition vorlag. Diese „Krankengeschichten“ sollten also nicht nur für Georgens, Deinhardt und Gayette Anlass des Nachdenkens sein, sie sollten auch die interessierte, wissenschaftlich orientierte Öffentlichkeit dazu einladen, über diese Fälle nachzudenken. Bekanntlich fanden Georgens und Deinhardt aber in der Folgezeit nicht den von ihnen erhofften Widerhall. Tatsächlich wurde an ihre Überlegungen kaum angeknüpft, vielmehr gerieten sie mehr oder weniger „in Vergessenheit“. Die Gründe für dieses relative „Vergessen“ sind sicherlich vielfältig: (1) Mit Jantzen (2003), Hänsel und Schwager (2004, 153) sowie Meyer (1983, 108) kann man bspw. darüber nachdenken, ob die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden restaurativen politischen Entwicklungen zu diesem Vergessen beitrugen. Immerhin vertraten sie in ihren Schriften z. B. radikale Ansätze über die Verantwortung des Staates gegenüber Menschen mit Behinderung. (2) Ein weiterer Grund könnte mit dem von Georgens und Deinhardt bevorzugten sprachlichen Stil, aber auch dem Stil ihrer argumentativen Auseinandersetzung zu tun haben: In sprachlicher Hinsicht pflegten sie einen eher „barocken“ Stil, der die Rezeption äußerst erschwert haben dürfte. Im zweiten Band ihrer „Heilpädagogik“ erwähnen sie den „Vorwurf“ von „Kritikern des ersten Bandes“, die von der „Schwerfälligkeit der Schreibart“ sprachen (ähnlich: Gerhardt 1904, 86), doch tun sie diese Kritik (1863, VIIf ) mit der Bemerkung ab, diese entspringe einem Bedürfnis zu einer gerade modischen Schreibart, die weder „deutsch“ noch schön sei und außerdem von „allzu bequemen Lesern“ zeuge. Hier deutet sich auch ein mögliches weiteres Problem an: Georgens und Deinhardt scheuten sich nicht, mit pädagogischen Strömungen ihrer Zeit hart ins Gericht zu gehen. Zu vermuten ist, dass sie sich damit nicht sehr viele Freunde machten. (3) Im Hinblick auf das Thema des vorliegenden Beitrags scheint aber noch ein weiterer theorieimmanenter Grund die Rezeption erschwert zu haben: Georgens und Deinhardt verfolgten zwar wissenschaftliche Ansprüche, doch griffen sie bei der Entwicklung ihrer Anthropologie und Psychologie auf veraltete Denksysteme zurück, die auf spekulativem und nicht-empirischem Wege gewonnen worden waren. Ein Anknüpfen an das Denken von Georgens und Deinhardt hätte es in diesem Punkt notwendig gemacht, diese Denksysteme als unnötigen Ballast abzuwerfen. Doch gerade in diesem Punkt war die vorherrschende Herangehensweise der zeitgenössischen Medizin, Psychiatrie und Psychologie wegweisender und für die Folgezeit fruchtbarer: Meist wurden nicht traditionelle spekulative Systeme verwendet und auf empirische Fälle angewendet, sondern umgekehrt meist empirisches „Material“, also Fallgeschichten, gesammelt und auf diesem Wege Klassifikationssysteme, Nosologien entwickelt (Nissen 2005, 148ff ). Dies, so eine abschließende These, die man im Anschluss an die vorliegende Untersuchung formulieren kann, könnte einen Grund dafür darstellen, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Medizin und Psychiatrie immer mehr die Deutungsherrschaft im Bereich der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung gewann (Droste 1999). VHN 1/ 2010 25 „Der Pädagog muss Anthropolog werden! “ Anmerkungen 1 In einer Folgediagnose wurde bei Leontine sog. „kleiner Veitstanz (Chorea minor)“ festgestellt. Der Ausdruck „Veitstanz“ ist heute unüblich. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden damit alle nervösen Erscheinungen bezeichnet, die mit unkontrollierten Bewegungen einhergingen. In heutiger Zeit werden einige früher als „Veitstanz“ bezeichnete Phänomene vor allem in den zwei Hauptgruppen der „Chorea major (Huntington)“ und der „Chorea minor (Sydenham)“ zusammengefasst. Chorea major stellt eine erbbedingte neurodegenerative Erkrankung dar, die zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auftritt; Chorea minor ist eine Zweiterkrankung, die nach einer bestimmten Streptokokken-Infektion, also einer bakteriellen Infektion wie z. B. Scharlach, auftreten kann (Hoffmann LaRoche 1984, 267). 2 Marie von Gayette, so vermutet Selbmann (1982, 174f ), dürfte an Fragen der Erziehung innerhalb der „Levana“ weniger interessiert gewesen sein; ihr Verdienst scheint gewesen zu sein, die Geschichte der „Levana“ im „Jahrbuch der Levana“ in poetischen Worten zu beschreiben und zu bekannten Melodien neue Liedtexte zu verfassen. Literatur Aerzte der Heilanstalt Mariaberg (Hrsg.) (1850): Beobachtungen über den Cretinismus. Eine Zeitschrift. Tübingen: H. Laupp’sche Buchhandlung Bleidick, U. (Hrsg.) (1999): Allgemeine Behindertenpädagogik. Bd. 1 der „Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik“. Berlin/ Neuwied: Luchterhand Droste, T. (1999): Die Historie der Geistigbehindertenversorgung unter dem Einfluss der Psychiatrie seit dem 19. Jahrhundert. Eine kritische Analyse neuerer Entpsychiatrisierungsprogramme und geistigbehindertenpädagogischer Reformkonzepte. Münster u. a.: Lit Eckardt, G.; John, M.; Zantwijk, T.v.; Ziche, P. (2001): Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln u. a.: Böhlau Ellger-Rüttgardt, S. L. (2008): Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. München/ Basel: Reinhardt Georgens, D. gem. mit Gayette, J. M. von; Deinhardt, H. (1858): Medicinisch-pädagogisches Jahrbuch der Levana für das Jahr 1858. Wien: Typografisch-literarisch-artistische Anstalt Georgens, J. D.; Deinhardt, H. M. (1861/ 1863): Die Heilpaedagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten. Leipzig: Friedrich Fleischer Gerhardt, J. (1904): Zur Geschichte und Literatur des Idiotenwesens in Deutschland. Hamburg: Selbstverlag Guggenbühl, J. (1853): Die Heilung und Verhütung des Cretinismus und ihre neuesten Fortschritte. Bern/ St. Gallen: Huber Haeberlin, U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Hänsel, D.; Schwager, H-J. (2004): Die Sonderschule als Armenschule. Vom gemeinsamen Unterricht zur Sondererziehung nach Braunschweiger Muster. Bern: Peter Lang Helferich, J. H. (1850): Das Leben der Cretinen unter besonderer Rücksicht auf Psychologie, Physiologie, Pathologie, Pädagogik und Humanität nach Grundlage der neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft und mehrjährigen eigenen Erfahrungen. 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