Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Dialog: Jeder Mensch soll ein Künstler sein
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2010
Wolf Rüdiger Wilms
Reimer Kornmann
Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Dialog führt ein in die Thematik der künstlerischen bzw. ästhetischen Bildung von jungen Menschen, die uns als Themenstrang in den kommenden Heften begleiten wird. Der Austausch zwischen den beiden Autoren ist die strukturierte Wiedergabe eines Gesprächs, in welchem R. Kornmann gewissermaßen in der Rolle des Stichwortgebers auf konkrete Ereignisse aus der mehr als 30 Jahre andauernden kollegialen Zusammenarbeit mit W. R. Wilms zurückgreift. Dabei sollen markante Themen, die für die Heilpädagogik von Bedeutung sind (z. B. Behinderungsbegriff, Integration) die Eckpunkte des Dialogs bilden.
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VHN, 79. Jg., S. 70 - 77 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 70 Dialog „Jeder Mensch soll ein Künstler sein“ Wolf Rüdiger Wilms, Reimer Kornmann Heidelberg n Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Dialog führt ein in die Thematik der künstlerischen bzw. ästhetischen Bildung von jungen Menschen, die uns als Themenstrang in den kommenden Heften begleiten wird. Der Austausch zwischen den beiden Autoren ist die strukturierte Wiedergabe eines Gesprächs, in welchem R. Kornmann gewissermaßen in der Rolle des Stichwortgebers auf konkrete Ereignisse aus der mehr als 30 Jahre andauernden kollegialen Zusammenarbeit mit W. R. Wilms zurückgreift. Dabei sollen markante Themen, die für die Heilpädagogik von Bedeutung sind (z. B. Behinderungsbegriff, Integration) die Eckpunkte des Dialogs bilden. Reimer Kornmann: Kurze Zeit nachdem Du im Jahre 1974 Deine Stelle für „Pädagogik der Lernbehinderten“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg angetreten hattest, erregte eine von Dir geleitete Theateraufführung erhebliches Aufsehen in den etablierten Kreisen der baden-württembergischen Sonderpädagogik. Unter dem Motto „25 Jahre Sonderpädagogik in Heidelberg“ wollten die Repräsentanten des damaligen Instituts für Hör-, Sprach- und Sehgeschädigtenpädagogik eine große Festveranstaltung zelebrieren, die auf eine Selbstbeweihräucherung der sonderpädagogischen Wohltäter hinauslaufen sollte. Dies zog die Kritik der Fachvertreter der gerade neu gegründeten und dem Institut angegliederten Abteilung Lernbehindertenpädagogik auf sich. „Wir sind noch nicht im Festsaal angelangt“ war der Titel eines Gegenentwurfs, der unter Rückgriff vor allem auf die Arbeiten von Ernst Begemann das „Skandalon Lernbehinderung“ aufgriff, also die damals noch weithin ignorierte Tatsache, dass die sozioökonomische Situation der Familie das bestimmende Merkmal der Schülerschaft von Sonderschulen für Lernbehinderte sei. Dieser Thematik waren die „Szenen aus dem Leben des Sonderschülers Karl-Heinz Meise“ gewidmet. Die Aufführung polarisierte: Die Anhänger der etablierten Sonderpädagogik fühlten sich offensichtlich in ihrem Selbstverständnis bedroht und verurteilten die frechen und politisch motivierten Inhalte, Begeisterung zeigte sich bei jenen, die gegenüber den Inhalten aufgeschlossen waren und sich von der abwechslungsreichen und künstlerisch gelungenen Revue von Chor- und Sologesängen, Tanz- und Sprechszenen sowie Instrumentaleinlagen und dem damit aufgespannten thematischen Bogen kritischer Inhalte einfangen ließen. Mich beschäftigten danach eine Reihe von Fragen: Wie hast Du es in so kurzer Zeit geschafft, an Deiner neuen Wirkungsstätte so viele junge Leute (etwa 80 im Alter von etwa zehn bis 16 Jahren) für dieses Projekt zu begeistern? Wie bist Du zur Theaterpädagogik gekommen? Welche Einflüsse waren bestimmend für Deine ganz offensichtlich religiös und zugleich sozialkritisch motivierte Konzeption des Stücks? Welchen Traditionen und Strömungen ist sie zuzuordnen? Wolf Rüdiger Wilms: Der „Meise“ war das erste größere künstlerische Projekt in meinem neuen Arbeitsfeld Hochschule. Der sogenannte Praxisschock, den Absolventen eines Lehramtsstudiums nach Eintritt in die berufliche Praxis mitunter erleiden, verlief bei mir in umgekehrter Richtung, nämlich als Theorieschock. Ich hatte zehn Jahre als Lehrer mit schwierigen, zumeist sozial randständigen Schülerpopula- VHN 1/ 2010 71 „Jeder Mensch soll ein Künstler sein“ tionen gearbeitet, und jetzt erlebte ich mich als Gefangener eines abstrakten und ideologisch verbogenen Theoriegerüstes, in dem ich die mir vertraute Wirklichkeit nur noch als blutleeres Phantom wiederfinden konnte. Insofern ist der „Meise“ ein Versuch gewesen, den Repräsentanten des sonderpädagogischen Establishments jene „wirkliche Wirklichkeit“, verpackt in der Form einer performativen Ästhetik, vorzuhalten, was einige von ihnen natürlich als Provokation empfinden mussten. Du fragst nach den Wurzeln dieses „Theaters für alle“, in dem Schüler(innen) aller Schularten sowie Studenten mitwirkten. Wenn es stimmt, dass die biografische Entwicklung eines Menschen durch eine Leidenschaft oder eine „grande passion“, wie es Kurt Hahn nannte, gelenkt wird, so war es für mich das Theater. Als Schüler und Student erhielt ich meine „Ausbildung“ als Statist im Stadttheater in Münster. Ich lernte ausschließlich durch Nachahmung und hatte Einblicke in alle Bereiche des Theaters, die mich interessierten. Meine Eltern hatten den Wunsch nach einem theaterwissenschaftlichen Studium mit dem üblichen Hinweis „brotlose Kunst“ abserviert. Um sie zu bestrafen, wurde ich dann erst einmal Volksschullehrer, was sie zu meiner Freude als schweren Statusverlust auch ihrer selbst empfanden. So war meine weitere Entwicklung durch die eines „künstlerischen Dilettanten“ vorbestimmt. Durch vielfältige und letztlich auch freundschaftliche Verbindungen mit dem (leider schon verstorbenen) Komponisten Peter Janssens wurde die musikalische und konzeptionelle Ausrichtung der Jugendkulturgruppen, mit denen ich als junger Lehrer arbeitete, geprägt. Janssens gilt als Begründer des Sakropop im deutschsprachigen Raum, was den kirchlichreligiösen Anteil unserer Arbeit erklärt. Über Janssens kamen wir in Kontakt mit der politisch-theologischen Lyrik des Priesters und Dichters Ernesto Cardenal, der auf der Insel Solentiname im Großen Nikaraguasee eine künstlerisch aktive Landarbeiterkommune gegründet hatte. Janssens vertonte etliche Texte von Cardenal, und wir übernahmen sie in unser Repertoire. Gelegentlich traten wir mit diesen Programmen, einmal auch mit Cardenal gemeinsam, auf Kirchentagen und anderen Großveranstaltungen auf. Wir profitierten von einer mit dem Pontifikat des Papstes Johannes XXIII einhergehenden Aufbruch- und Reformbewegung in der katholischen Kirche und hatten in dieser Phase in Bernhard Liesner, Pfarrer in Oer-Erkenschwick, einen großen Förderer. Das variantenreiche und - wie Du sagst - freche und politisch motivierte sowie von hoher Bühnenpräsenz der Mitwirkenden geprägte Auftreten brachte uns öffentliche Aufmerksamkeit ein. Die politische Ausrichtung orientierte sich an dem Motto „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“, das bis heute - wenn auch in zum Teil anderen Begrifflichkeiten - nichts an Aktualität eingebüßt hat. Den Begriff Theaterpädagogik, den Du ins Spiel bringst, habe ich bis zum „Meise“ und darüber hinaus nicht verwendet. Ich verstand unter Theaterpädagogik seinerzeit die Didaktik und Methodik der Ausbildung von Schauspielern. Aber war vielleicht trotzdem alles das, was geschah, ein großes pädagogisches Projekt? Das Beuys-Diktum „Jeder Mensch ist ein Künstler“ nahmen wir wörtlich. Jeder durfte voraussetzungslos mitmachen. Jeder fand irgendwann seinen individuellen Zugang zum Spezifikum künstlerischer Tätigkeit. Unsere Jugendkulturarbeit war in vielerlei Hinsicht eine Vorwegnahme des Lebenskunstansatzes von Wilhelm Schmid. Bei den Jugendlichen der 1970er Jahre waren das Bedürfnis nach Lebensplanung, die Suche nach alternativen Lebensformen und eine große Experimentierfreudigkeit sehr ausgeprägt: gemeinsame Ferienunternehmungen, Wohnprojekte, soziale Unterstützungsprojekte und im Zentrum die künstlerischen Aktivitäten - und all dies wurde zusätzlich getragen von einem hohen Maß an Idealismus, Erkenntnisdrang und Weltoffenheit. Heute, bald 35 Jahre nach den 25 Jahren Sonderpädagogik in Heidelberg auf den „Meise“ zurückblickend, bin ich mir sicher: „Das Leben des Sonderschülers VHN 1/ 2010 72 Wolf Rüdiger Wilms, Reimer Kornmann Karl-Heinz Meise“ hat einen Großteil der Mitwirkenden und gewiss auch manchen Zuschauer existenziell berührt. Reimer Kornmann: Du verwendest einige Male den Begriff der Kulturarbeit. Verstehe ich es richtig, dass Du damit den Anspruch hoher pädagogischer Professionalität zum Ausdruck bringen möchtest? Wolf Rüdiger Wilms: Mit dem Begriff (Jugend-)Kulturarbeit verbinde ich zunächst einmal den institutionellen und strukturellen Rahmen für das künstlerische Schaffen mit Jugendlichen. Rückblickend erscheint mir dieser Punkt wie eine nicht endende Wanderschaft von einer Herberge zur nächsten: die kirchliche Jugendarbeit, das Jugendrotkreuz, die Gewerkschaftsjugend, die Friedensbewegung, die offene Jugendarbeit, die Jugendhilfe, Theater-AGn in Schulen aller Typen und Stufen, die Hochschule - eine unvollständige Liste. Mit allen diesen „Gastspielen“ verbinden sich überwiegend positive Erfahrungen. Materielle Unterstützungen, künstlerische Anregungen, interessante Kontakte, genussvolle Konflikte überwiegen bei weitem die Versuche der politisch-ideologischen Vereinnahmung durch die gastgebende Institution. An dem Prinzip der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks bedienten wir uns stets ungehemmt, nicht immer zum Wohlgefallen der Veranstalter. Dies gilt auch für Gastveranstaltungen in der damaligen DDR im Rahmen der „Christlichen Friedenskonferenz“ (CFK). Ein breit angelegter Kunstbegriff verträgt sich trefflich mit einem weiten Kulturbegriff. In den 1970er und 1980er Jahren, als die Kulturarbeit in den Gewerkschaften noch einen höheren Stellenwert besaß, als das heute der Fall zu sein scheint, verband man dort mit dem Begriff Kultur die Art und Weise, „wie der Mensch lebt und arbeitet“. Ein Kulturbegriff, der auf die Lebensweise der Menschen gerichtet ist, liefert Maßstäbe einer humanen Lebensgestaltung insbesondere auch in interkulturellen Kontexten und ist darüber hinaus mit dem Lebenskunstansatz verknüpfbar. Den Aspekt der pädagogischen Professionalität, den Du in Deiner Frage anschneidest, verbinde ich mit der Didaktik und Methodik künstlerischen Arbeitens mit jungen Menschen. In einer angst- und aggressionsfreien, zu schöpferischer Tätigkeit anregenden Atmosphäre schwinden Müdigkeit, Stress oder Aufmerksamkeitsprobleme viel leichter dahin, und es wird ein konzentriertes und intensives Probieren möglich, sofern die Motive und Themen, an denen gearbeitet wird, in der Lebensrealität der Mitwirkenden angesiedelt sind. Immer wieder nahm ich entsprechende Professionalitätsdefizite sowohl bei professionellen Künstlern, mit denen wir kooperierten, als auch bei Lehrer(innen) wahr, die ihren branchenspezifischen Leistungsanspruch und Leistungsdruck ungebrochen in die künstlerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hinein verlängerten, nicht ahnend, dass sie damit die Quellen individueller Kreativität und künstlerischer Qualität versiegelten. Reimer Kornmann: Die Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen nahm und nimmt offensichtlich einen sehr breiten Raum in Deiner Lebensgestaltung ein. Das schon erwähnte Projekt „Meise“ ist sicherlich ein gutes Beispiel dafür, wie Du die künstlerische Tätigkeit mit Deinen Aufgaben und Deinem Selbstverständnis als Hochschullehrer verbunden hast: Du hast ein aktuelles und bedeutsames Thema des Fachgebiets aufgegriffen, dieses aber nicht in der wissenschaftlich akkreditierten Form einer schriftlichen Veröffentlichung, sondern auf künstlerischer Ebene bearbeitet. Wie eng war diese Verbindung zwischen der Kulturarbeit und Deiner Tätigkeit an der Hochschule? Welche Einflüsse hatte die Kulturarbeit auf Deine Aufgabenfelder als Hochschullehrer, und konntest Du auch umgekehrt Deine Position als Hochschullehrer für die Entwicklung Deiner künstlerischen Möglichkeiten nutzen? Besonders interessiert mich die Frage, ob sich durch die künstlerische Tätigkeit auch neue und wichtige Erkenntnisse gewinnen lassen, die in den VHN 1/ 2010 73 „Jeder Mensch soll ein Künstler sein“ fachlichen Diskurs einfließen und Theorie und Praxis der Hochschullehre bereichern. Sicherlich kannst Du rückblickend einige wichtige Schritte und Stationen auf dem Weg Deiner fachlichen und künstlerischen Entwicklung benennen. Wolf Rüdiger Wilms: Hätte ich mich nicht überreden lassen, in den Hochschuldienst zu gehen und wäre stattdessen Lehrer geblieben, so wäre ich wahrscheinlich irgendwann Schulleiter geworden und hätte die damit gegebenen Gestaltungsspielräume reichlich zu nutzen gewusst. Ich hätte mich keinem pädagogischen Reformmodell angeschlossen, sondern aus den vorhandenen Möglichkeiten der Schule eine Entwicklung in Richtung Schul- und Lernkultur zu initiieren versucht. Es wäre auch kein Problem gewesen, inner- und außerschulische künstlerische Projekte zusammenzuführen. So hatte ich mir das einmal vorgestellt. Aber nach knapp zehn Jahren Schulpraxis als Volks-, Haupt- und Sonderschullehrer stand ich dann als Hochschullehrer wieder einmal vor dem mir inzwischen vertrauten Problem: Wie kann ich meine beruflichen Pflichten mit meinen „eigentlichen“ Interessen so verbinden, dass beide Seiten davon profitieren oder zumindest keine Seite Schaden erleidet? An der Pädagogischen Hochschule hatte ich mit der Lernbehindertenpädagogik ein Fach zu vertreten, dessen wissenschaftliche Substanz überschaubar war. Dennoch verstand es dieses Fach, die Sonderpädagogik insgesamt aufzumischen. An den meisten deutschsprachigen Ausbildungsstätten der Heil- und Sonderpädagogik meldeten sich kritische, gegen schulische und soziale Ausgrenzung so genannter Lernbehinderter gerichtete Stimmen zu Wort. Politische Kampfbegriffe wie „Schule als Institution der Gewalt“ attackierten die herkömmliche Fachterminologie, es entstand so etwas wie eine „soziale Bewegung“ gegen die Mechanismen der Aussonderung und für die Integration von Menschen mit Behinderungen. Nun zum eigentlichen Kern Deiner Frage: In der Tat haben die künstlerischen Ambitionen meinen Umgang mit dem Fach stark beeinflusst, sie haben es mir zum Beispiel leicht gemacht, mit einigen scheinbar unanfechtbaren Sichtweisen der Sonderpädagogik zu brechen und dafür andere zu gewinnen. In unseren Theaterprojekten geht es immer um Erzählungen, um das, was konkrete „Figuren“ in konkreten Situationen erleben und empfinden, darum, welche Träume und Illusionen sie haben oder woran sie leiden und scheitern. Das Wort wird den Betroffenen erteilt, nicht ihren Stellvertretern, die ihre (Standes-)Interessen von denen jener, für die sie stellvertretend zu agieren vorgeben, zuweilen allzu offensichtlich nicht trennen können. Den hiermit geforderten „Standpunkt des Subjekts“ verstand ich als eine pädagogische Aufgabe, denn viele betroffene Subjekte hatten weder „ihren“ noch sonst irgendeinen Standpunkt, sondern gar keinen, sie hatten kein bewusstes Verhältnis zu sich selbst, sie waren in gewisser Weise ihrer Subjektivität beraubt. Die in der künstlerischen Tätigkeit gegebene Expressivität erwies sich bei vielen Jugendlichen als treffliches Medium zur „Entdeckung des Ich“. Dieser Blick „von unten“ auf das fachliche Gebilde Lernbehindertenpädagogik in Forschung und Lehre führte dazu, dass ich den Studierenden nahe legte, ihr Studium grundsätzlich von Fragen der pädagogischen Praxis her anzulegen. Ich schlug ihnen vor, sich ein praktisches pädagogisches Betätigungsfeld zu suchen und dieses als permanentes Korrektiv und Misstrauenspotenzial gegenüber sonderpädagogischer Theorie und Dogmatik jeglicher Couleur zu handhaben. Im Falle überwiegender naiver Wissenschaftsgläubigkeit riet ich ihnen, all die Einführungen in die Sonderpädagogik erst einmal beiseite zu legen und Peter Härtlings „Das war der Hirbel“ zu lesen, „damit ihr wisst, worum es eigentlich geht“. Etliche Studierende haben an künstlerischen Projekten und dem, was drum herum an Jugend- und Sozial- VHN 1/ 2010 74 Wolf Rüdiger Wilms, Reimer Kornmann arbeit anfiel, mitgewirkt. Sie zählten immer zu den Besten in Theorie und Praxis und sind es heute noch nach teilweise rasanten Karrieresprüngen. Etwa seit der Jahrtausendwende degradierten zahlreiche, manchmal im Halbjahrestakt durchgepeitschte Studienreformen, die Modularisierung der Studienordnungen, die Angleichung an den Bologna-Prozess und permanente Leistungsüberprüfungen das Studium auf die gedächtnismäßige Aneignung von halb verstandenen Wissensbrocken. Erstaunlicherweise gelang mir in dieser Phase eine weitaus höhere Präsenz der künstlerischen Projekte (nicht ohne kritische Kommentare) in der Hochschule. Neben der etablierten Spiel- und Theaterpädagogik, die mit Studenten arbeitete, konnten sich unsere Jugend- und Kooperationsprojekte (Studenten mit Schülern) zunehmend behaupten. Mit dem Choreographischen Theater entwickelte sich sogar eine eigenständige Theaterform, die den körperlichen Ausdruck in Anlehnung an den „Modern Dance“ als primäres Ausdrucksmittel zur Geltung bringt. Bei den Studierenden entstand ein hoher Bedarf an Information und Anleitung, den ich allein gar nicht mehr einlösen konnte. Was war passiert? In der „pädagogischen Praxis“ entwickelten sich die Verhältnisse krisenhaft: Leistungsmängel, Disziplinprobleme, Motivationsdefizite konnten weder mit antiquierten curricularen Systemen oder schematischer Methodik noch mit hektischen Strukturreformen behoben werden. Wenn ein System an seine Grenzen stößt, sollte man mal versuchen, diese Grenzen zu durchbrechen. Dieses Prinzip zählt zu den Wesensmerkmalen künstlerischer Tätigkeit, sodass es mir nicht schwer fiel, im interdisziplinären Kontext nach neuen praxisbezogenen Denk- und Handlungsansätzen für die Lehrerbildung zu suchen. Auf künstlerische Formen der Welterschließung richten sich derzeit viele Hoffnungen und Erwartungen, so als könnten sie das Elend der Welt, das nun wieder einmal die Schulen erreicht hat, allein beseitigen. Reimer Kornmann: Mit Blick auf die Entwicklung krisenhafter Verhältnisse in der „pädagogischen Praxis“ behauptest Du, dass sich Dir durch die künstlerische Tätigkeit neue praxisbezogene Denk- und Handlungsansätze für die Lehrerbildung erschlossen haben, die geeignet seien, die systemimmanenten Begrenzungen menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten zu durchbrechen. Das klingt sehr revolutionär. Kannst Du Deine praktischen Erfahrungsfelder näher beschreiben, in denen Du solche Ansätze erprobt und ihren Erfolg belegt hast? Lassen sich diese Erfahrungen auch im Rahmen der üblichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gewinnen? Wolf Rüdiger Wilms: Dass man die Schule nicht nur „neu denken“, sondern auch „neu machen“ muss, nicht nur strukturell, sondern vielmehr noch in den pädagogischen Handlungskonzepten, scheint sich langsam herumzusprechen. Du legst mich nun noch einmal auf die Frage fest, ob denn aus der künstlerischen Tätigkeit heraus jene umwälzende Kraft erwachsen kann, die dem Praxisfeld Schule die Gestalt eines optimalen Möglichkeitsraums für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen verleihen kann. Meine Erfahrungen reichen sicher nicht aus, um eine neue Schulpädagogik oder Didaktik zu begründen. Ich kann jedoch exemplarisch aufzuzeigen versuchen, mit welchen künstlerischen Arbeitsprinzipien ich - soweit ich Einfluss nehmen konnte - das Durchbrechen systembedingter Begrenzungen von Entwicklungsmöglichkeiten in der schulischen Praxis bewirken oder zumindest anregen konnte. (Post-)Moderne didaktische Theorien legen es nahe, den Menschen in der Phase des Schülerdaseins als „lernendes System“ zu betrachten, auf das es instruktionstechnisch einzuwirken gelte. Die bescheidenen PISA-Ergebnisse haben den Druck auf instruktionstechnologische Lösungen in Deutschland noch einmal verschärft. Ein erhöhter Bedarf an erzieherischer Einwirkung wird zwar eingestanden, aber als nicht VHN 1/ 2010 75 „Jeder Mensch soll ein Künstler sein“ lehrergemäße Belastung an den Rand gedrängt oder delegiert. Solange an dem Schülerbild einer im Vergleich zum Computer extrem fehleranfälligen Datenverarbeitungsmaschine festgehalten wird, deren Wert nach ihrer Funktionalität bemessen wird, muss man sich nicht wundern, wenn die lernenden Systeme in großem Umfange gegen diese Art von Reduktionismus aufbegehren. In künstlerischen Tätigkeitszusammenhängen nehme ich den jungen Menschen als ein Subjekt wahr, dem ich Rahmenbedingungen anbiete, in denen es seine kreativen Potenziale angstfrei und ohne Bloßstellungsfallen entwickeln und entfalten kann. Die Situation muss so gestaltet sein, dass die Übenden Hemmschwellen und Blockaden überwinden und sich ihr vertrauensvoll hingeben können. Als Übungsleiter lasse ich jeden einzelnen Mitwirkenden mein Interesse an seiner künstlerischen Entwicklung spüren und gelte als Garant für entsprechende Entwicklungsbedingungen. Verlangt man Unmögliches, wenn man diese Haltung als Professionskriterium für alle Bildungs- und Erziehungsverhältnisse reklamiert? Und was ist mit „künstlerischer Entwicklung“ gemeint? Es fällt mir schwer, hier mit den allzu üblichen Kompetenztaxonomien aufzuwarten. Natürlich eignen sich Schüler im künstlerischen Schaffen Kompetenzen an, aber sie sind nichts anderes als handwerkliche Mittel für die Aktion oder das Produkt als das Eigentliche im Theater. Hier verbinden sich Interesse, Wunsch, Wille und Leidenschaft mit den Kompetenzen. Müssen schulische Lernprozesse wirklich mit dem Nachweis der Aneignung von Kompetenzen enden, sodass das Ziel im Mittel aufgeht? Du wirst mir vielleicht vorhalten, dass ich in polarisierenden Denkmustern argumentiert habe und dass vieles von dem, was ich fordere, längst bekannt und teilweise gängige Praxis sei. Das mag - speziell in der Heil- und Sonderpädagogik - so sein, aber ich beobachte vor allem bei jungen Lehrerinnen und Lehrern einen Trend zur Formalisierung und Anonymisierung und somit der Entpädagogisierung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Mit der von mir beschriebenen und im künstlerischen Bereich erprobten Haltung wäre dieser Schutzschild der Lehrenden gegen Gleichgültigkeit, Geringschätzung und Missachtung ihrer Autorität durch die Lernenden weitgehend überflüssig. Ich bringe nun einen Aspekt zur Auflösung schulsystemimmanenter Entwicklungsbarrieren zur Sprache, der bislang kaum Beachtung fand: Er richtet sich gegen die Ausschaltung des Körpers in der schulischen Bildung und dies, obwohl wir zur Zeit eine Welle von Körperbewusstheit und Körperkult erleben. Die Auswirkungen dieses Phänomens sind allerdings nicht unbedingt positiv zu bewerten. Im Prozess der Selbstdefinition und Ich-Findung benutzen Jugendliche den Körper nicht selten als Projektionsfläche für abwertende Zuschreibungen gegenüber dem anderen. In der Regel korrespondieren die Abwertungen mit einem negativen Körperselbstbild des „Täters“. Defizit- und Insuffizienzgefühle in Bezug auf den eigenen Körper, erstarrte und enge Normorientierungen lassen Ängste vor der Außenbewertung des eigenen Körpererscheinungsbildes aufkommen, die man durch ein marktgerechtes Styling oder auch durch gesundheitsschädigende Eingriffe sowie eben durch die Denunziation des anderen zu kompensieren versucht. Im Choreographischen Theater ist der Körper zentrales Medium künstlerischer Gestaltungen. Bisher habe ich die Funktion der Körperlichkeit im Theater eher im Sinne eines primären Ausdrucksmittels interpretiert. Ich füge jetzt einschränkend hinzu, dass damit erst eine Vorstufe von Verkörperung erreicht ist, die wir in unseren Projekten nur selten überschritten haben und die allerdings auch von professionellen Darstellern nicht allzu oft überschritten wird. Diese radikale Position in der Bestimmung des Wesens von Verkörperung verlangt, dass das Selbst der Spielfigur nicht nur durch die körperliche Aktion zum Ausdruck, sondern durch sie hervorgebracht wird. Bei Kindern und Jugendlichen arbeiten wir im Theater mit dem „phänomenalen Körper“, also dem Kör- VHN 1/ 2010 76 Wolf Rüdiger Wilms, Reimer Kornmann per, wie er sich in seiner Authentizität zeigt, im Gegensatz zum „semiotischen Körper“, der mit vielerlei Zeichenhaftigkeit und Symbolik ausgestattet und somit zum Bedeutungsträger für die Zuschauer wird. Im Konzept des phänomenalen Körpers durchlebt der Akteur die Figuren, die er spielt, mit großer Intensität. In gewissem Sinne spielt er mit sich selbst und öffnet sich damit für Veränderungen, Entwicklungen und Transformationen seiner selbst. Trotz zaghafter Ansätze („Bewegte Schule“ oder „Pädagogik des Performativen“) hat die Didaktik die Möglichkeiten der Verkörperung von Aneignungsprozessen bisher nicht aufgegriffen. Sowohl in der theoretischen Grundlegung als auch in der Entwicklung handlungspraktischer Konzepte ist hier noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten. Ich will noch einen letzten, für Deine Fragestellung sehr bedeutsamen Aspekt ansprechen. Ich erwähnte schon, dass man mit theaterpädagogischen Angeboten in den Schulen heute auf offene Türen stößt. Fragt man nach den Beweggründen und lässt man die wenig reflektierten Antworten („Die Schüler sind heute für nichts mehr zu motivieren.“ „Die meisten sind total durchgeknallt.“) außer Acht, so erwartet man von der Theaterpädagogik vor allem die Aufarbeitung von Identitätskrisen und des Phänomens des Selbstverlusts bei den Schülern. Identitätskrisen sind keine historischen Neuerscheinungen, aber selten waren sie so greifbar wie heute, sodass selbst die Wissenschaften keinen anderen Ausweg sehen, als den Identitätsbegriff über Bord zu werfen und damit auch das Konzept des Selbst ins Wanken zu bringen. Natürlich machen diese Phänomene auch vor dem künstlerischen Tätigkeitsfeld nicht Halt. Die jungen Menschen fühlen sich zwar frei und ungebunden und unterliegen dennoch in ihrer Lebensweise und Lebensphilosophie willenlos den Tendenzkräften des Marktes. Sie geraten in Abhängigkeiten verschiedenster Art, wobei die Medienszene immer wirksamere Mittel der Kontrolle und Fremdbestimmung entwickelt. Am Ende treiben sie völlig entmündigt als willenlose „Masseneremiten“ (G. Anders) im allgemeinen Meinungsbrei dahin. Ich habe mich gegen den postmodernen Trend entschieden und mich gefragt, was die künstlerische Bildung zur Förderung der Identitätsgenese und zur Selbstfindung beitragen kann. Ich bin dabei auf zwei Grundsätze gestoßen, deren Bedeutung ich sowohl für die künstlerische Tätigkeit als auch für das schulische Lernen insgesamt sehr hoch einschätze. An erster Stelle nenne ich das Prinzip der Selbstannahme oder auch Selbstachtung, nicht zu verwechseln mit infantiler Eigenliebe und auch nicht damit, dass man sich mit dem zufrieden gibt, wie man ist. Die Auseinandersetzungen mit den Figuren, die wir auf der Bühne verkörpern, die Befindlichkeit ihrer Innenwelten, aus denen heraus wir ihre äußeren Handlungen zu begründen versuchen, lassen auch bei jugendlichen Darstellern Fragen aufkommen wie: Könnte ich nicht anders sein als ich bin? Sollte ich vielleicht sogar anders sein? Wenn ja, wie? Und wie könnte ich es werden? Gibt es Vorbilder? Diese die körperliche Dimension integrierende Form biografischer Reflexion und Konstruktion scheint mir weitaus tragfähiger zu sein als die üblichen Konzepte der Werteerziehung, die dem Educanden als weltanschauliche Schablonen erscheinen und ihm wenig Raum für Selbstannahme, Selbstachtung oder gar Selbstschöpfung gewähren. Der zweite Grundsatz bezieht sich auf die Tatsache, dass Ich-Findung sich in der Gemeinschaft vollzieht. Ohne den mitmenschlichen Bezug gäbe es keine Kultur, keine Sprache, keine geistige Entwicklung, keine Freundschafts- oder Liebesbeziehungen. Nur im Du findet der Mensch zum Ich. Theaterensembles oder -gruppen sind besondere Gemeinschaften, die dem Einzelnen ein hohes Maß an Bereitschaft abverlangen, sich zu öffnen, auf den anderen einzugehen, Impulse des anderen aufzunehmen. Das Theater (wie auch andere gemeinschaftlich ausgeübte Kunstformen) ist eine Hohe Schule der Gemeinschaftserziehung. In den schulischen Lerngemeinschaften werden VHN 1/ 2010 77 „Jeder Mensch soll ein Künstler sein“ diese Möglichkeiten weitgehend verschenkt, sie gelangen oft nicht über das Niveau von Zwangskollektiven hinaus, deren Zusammengehörigkeit sich mehr über Nebenschauplätze als über den eigentlich Zweck, das Lernen, definiert. Ich hänge immer noch an dem Gedanken, dass Schulklassen sich als sinnstiftende Gemeinschaften konstituieren könnten, die dem Einzelnen ein Nährboden sind für seine Entwicklung zur Persönlichkeit. Wer sonst sollte heute diese Aufgabe übernehmen? Reimer Kornmann: Bei Deinen pädagogischen Argumentationen greifst Du immer wieder auf Dein Erfahrungsfeld des Theaters zurück. Du erwähnst zwar den erzieherischen Wert aller gemeinschaftlich ausgeübten Kunstformen, gleichwohl entsteht aber der Eindruck, dass die Welt des Theaters für Dich im Zentrum aller Bildungsprozesse steht, dem alle anderen künstlerischen Gestaltungsformen nachgeordnet seien. Nach welchen Gesichtspunkten bewertest Du deren Bedeutung? Wolf Rüdiger Wilms: Wenn wir den Menschen als ein über die tätige und kommunikative Auseinandersetzung mit der Welt sich selbst gestaltendes Wesen auffassen, und wenn wir der künstlerischen Tätigkeit im Rahmen dieser Lebensgestaltungsaufgabe einen besonderen, die Tiefenstruktur dieses Prozesses berührenden Stellenwert zuweisen, dann mag die Wahl des künstlerischen Genres durchaus von individuellen und situativen Gegebenheiten abhängig sein, also von Neigungen, Vorlieben, Dispositionen des Einzelnen ebenso wie von jeweils vorhandenen Rahmenbedingungen und Anregungsräumen. Ich sehe den Reiz des Theaters darin, dass es ein weit angelegtes Forum für verschiedene künstlerische Gestaltungsformen bietet. Darstellendes Spiel, Rezitation, Musik, Tanz, Performance-Kunst, Dramaturgie, Raumgestaltung, Lichtdesign, Bühnenmalerei, Klanginstallationen, Kostümierung, Maskenbildnerei bieten ein vergleichsweise breites Spektrum an Zugangsmöglichkeiten in die Welt des Theaters, wo diese Formen dann in jeweils unterschiedlicher Konstellation zu einem „Gesamtkunstwerk“ verschmelzen. Im Vordergrund meiner „pädagogischen Argumentationen“, nach denen du fragst, steht jedoch die Entwicklung einer reichhaltigen Persönlichkeitskultur (die Klassiker sprachen von Vervollkommnung der Persönlichkeit). Sie bildet den Kern der künstlerischen Bildung und ist auf eine „Aufrichtung“ des Subjekts, nicht auf dessen Niederhaltung, Disziplinierung oder Abrichtung als Rollenträger ausgerichtet. Sie ist überdies pädagogische Breitenarbeit, die sich an alle wendet und deren Wert sich daraus bemisst, wie sie den Einzelnen auf seinem Weg vom Menschen als „Exemplar“ zur Persönlichkeit begleiten kann. Im übrigen bin ich davon überzeugt, dass dieser Imperativ „Jeder Mensch soll ein Künstler sein“ ein fruchtbarer Nährboden ist, aus dem die großen Kulturleistungen einer Gesellschaft erwachsen können. Wolf Rüdiger Wilms, Prof. i. R. Institut für Heilpädagogik und Erziehungshilfe Jettaweg l B D-69118 Heidelberg E-Mail: wolfwilms@hotmail.com Dr. Reimer Kornmann, Prof. i. R. Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik Postfach 104 240 D-69032 Heidelberg E-Mail: kornmann@ph-heidelberg.de
