eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2010
792

Das provokative Essay: Lernen von Finnland? Im Ernst? Probleme der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit im Schulsystem

41
2010
Joachim Schroeder
Die internationalen Schulvergleichsstudien haben belegt, dass in allen europäischen Bildungssystemen Geschlecht, soziale Lage, Behinderung und Migrationshintergrund neuralgische Dimensionen sind, an denen individuelle Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern in institutionell verursachte Bildungsbenachteiligungen umschlagen können. Gerne wird diesbezüglich auf Finnland verwiesen, wo es gelungen sei, ein Bildungssystem zu schaffen, in dem jedes Kind, jede/r Jugendliche auf einem im europäischen Vergleich beachtlichen Leistungsniveau den individuellen Möglichkeiten entsprechend gefördert werde. Demgegenüber ist in Finnland eine heftige Diskussion in Gang gekommen, wie gerecht denn die dortige Schule tatsächlich ist.
5_079_2010_002_0097
97 VHN, 79. Jg., S. 97 - 103 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art08d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Lernen von Finnland? Im Ernst? Probleme der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit im Schulsystem Joachim Schroeder Goethe-Universität Frankfurt/ Main n Zusammenfassung: Die internationalen Schulvergleichsstudien haben belegt, dass in allen europäischen Bildungssystemen Geschlecht, soziale Lage, Behinderung und Migrationshintergrund neuralgische Dimensionen sind, an denen individuelle Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern in institutionell verursachte Bildungsbenachteiligungen umschlagen können. Gerne wird diesbezüglich auf Finnland verwiesen, wo es gelungen sei, ein Bildungssystem zu schaffen, in dem jedes Kind, jede/ r Jugendliche auf einem im europäischen Vergleich beachtlichen Leistungsniveau den individuellen Möglichkeiten entsprechend gefördert werde. Demgegenüber ist in Finnland eine heftige Diskussion in Gang gekommen, wie „gerecht“ denn die dortige Schule tatsächlich ist. Schlüsselbegriffe: Heterogenität, Bildungsgerechtigkeit, Inklusion To Learn from Finland? How come? Difficulties to Establish Educational Justice Within the School System n Summary: International comparative studies of schools have shown that in all educational systems of European countries gender, social situation, disability and migratory background are the most neuralgic milestones for educational justice. Along these dimensions the individual differences between pupils may turn into institutionally determined educational discrimination. In this respect Finland has lately been rated as a model country with an educational system that promotes each child and each youth according to his/ her individual capabilities on a remarkably high performance level compared to other European countries. In contrast, in Finland a vehement discussion has been launched on how “just” the Finnish educational system really is. Keywords: Heterogeneity, educational justice, inclusion Das provokative Essay Förderung der Schwachen ist eine öffentliche Aufgabe Das finnische Bildungssystem wird in Deutschland besonders interessiert von der Sonderpädagogik rezipiert, da es in Finnland nachweislich gelingt, in der neunjährigen allgemein bildenden Schule leistungsschwächere Kinder und Jugendliche recht gut zu fördern sowie einen konsequent integrativen Ansatz umzusetzen. Die sonderpädagogische Förderung ist in Finnland in drei Formen organisiert (Ruoho 2006): Kinder mit einer geistigen oder einer schweren Körperbehinderung werden in special schools unterrichtet. Dies betrifft etwa 3 % eines Schülerjahrgangs, die Quote ist in Bezug auf diese beiden Behinderungsarten somit vergleichbar mit Deutschland. Alle anderen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in die Regelschulen integriert und in zwei Modalitäten individuell gefördert: Part-time special education bedeutet, dass die Kinder am regulären Unterricht teilnehmen und stundenweise von einer Sonderschullehrkraft in kleineren Gruppen gefördert werden, beispielsweise im Lesen oder Rechnen. In der full-time special education werden die betroffenen Schülerinnen und Schüler innerhalb der Regelschule in Sondergruppen oder Spezialklassen zusammengefasst. VHN 2/ 2010 98 Joachim Schroeder Mehr als 20 % der finnischen Schülerinnen und Schüler erhielten 2006 eine Förderung in part-time, ein Anteil, der gegenüber den Vorjahren leicht zurückgegangen, im europäischen Kontext dennoch außerordentlich hoch ist. Weitere 8 % wurden in full-time gefördert, Tendenz steigend (Statistics Finland 2007). Nimmt man die 3 % Sonderschüler hinzu, so ergibt sich, dass fast ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen eine zusätzliche pädagogische Förderung erhielten - dies gilt als einer der wichtigsten Gründe für das sehr gute Abschneiden Finnlands in den internationalen Schulleistungstests (Grubb u. a. 2005, 19ff ). Obwohl in Finnland ein System geschaffen wurde, das es erschwert, einen Schüler an eine Sonderschule ‚abzuschieben‘, weisen neuere Studien darauf hin, dass dies zumindest in den finnischen Städten durchaus ebenso vorkommt: „The metropolitan areas have typically exhibited problems in collaboration between sectors and a lack of functional mainstream systems. There also seems to be a tendency to exclude more problematic groups from schools, even though the official aim is to integrate everyone into mainstream schools“ (Julkunen 2007, 4). Die Umsetzung des gesetzlich festgelegten Rechts auf zusätzliche Förderung erweist sich zudem als abhängig von wirtschaftlichen Konjunkturen: „Since the economic crisis of the 1990s, local education authorities have increasingly struggled with shrinking budgets, leading to enlarged class sizes, reducing some schoolsupport services, and, in many cases, also merging and closing of schools to gain efficiency“ (Sahlberg 2006, 7). Am hohen Anteil sonderpädagogischer Förderung wird ebenso sichtbar, dass die Leistungsanforderungen im finnischen Bildungssystem offensichtlich so hoch sind, dass ein beträchtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler zusätzliche Unterstützung benötigt. Gleichwohl lässt sich die These formulieren, dass in Finnland die (zusätzliche) schulische Förderung als eine öffentliche Aufgabe verstanden und deshalb in den Schulen angeboten und staatlich finanziert wird. Dagegen ist in Deutschland die individuelle Förderung überwiegend privatisiert und kommerzialisiert: Rund ein Viertel der Schülerinnen und Schüler nimmt im Verlauf ihrer Schulzeit außerschulischen Zusatzunterricht in Anspruch, von deren Familien werden hierfür jährlich über zwei Milliarden Euro aufgebracht (Rackwitz 2005, 36). Dadurch ist ein paralleles Fördersystem entstanden, das sozial selektiv wirkt und finanziell schwache Familien benachteiligt. Vernachlässigung der Kinder mit einem Migrationshintergrund Während hinsichtlich der Förderung leistungsschwacher und behinderter Kinder Finnland zweifellos vorbildlich ist, sieht dies im bildungspolitischen und pädagogischen Umgang mit ethnischen, kulturellen und sprachlichen Differenzen ganz anders aus. Weitaus radikaler als Deutschland versteht sich Finnland bis heute nicht als Einwanderungsland, erst 1991 wurde überhaupt ein Ausländergesetz geschaffen, das Möglichkeiten der Zuwanderung vorsieht, allerdings vornehmlich zur Eheschließung mit einem finnischen Staatsbürger (Salmenhaara 2003, 2ff ). In einem Migrantenanteil von ca. 2 % der Bevölkerung spiegelt sich diese Politik statistisch eindrücklich wider. Die pädagogische Förderung junger Migranten ist ähnlich wie in Deutschland organisiert: Zunächst besucht man sechs Monate eine Vorbereitungsklasse, um zügig die finnische Sprache zu erlernen - mit dem Ziel einer raschen Integration in Regelklassen. Jedes Kind hat im Verlauf seiner gesamten Schulzeit Anrecht auf muttersprachlichen Unterricht im Umfang von zwei Wochenstunden, ergänzt durch eine sozialpädagogische Begleitung (Honkala 2008). Während jedoch rund 98 % der finnischen Schüler nach Abschluss der allgemein bildenden Schule einen weiterführenden beruflichen oder gymnasialen Bildungsgang besuchen, sind dies bei Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund lediglich 65 % VHN 2/ 2010 99 Lernen von Finnland? (Statistics Finland 2007). Bei Jugendlichen ohne einen finnischen Elternteil liegt die Quote sogar nur bei 34 % und ist somit vergleichbar mit der Zahl mittlerer und höherer Bildungsabschlüsse, die junge Migranten gegenwärtig in Deutschland erreichen (Raiser 2007, 13f ). Das Land verfolgt zudem eine repressive Asylpolitik: „The Finnish asylum process is one of the strictest, if not the strictest in the European Union“ (Salmenhaara 2003, 4). Asylsuchende werden in geschlossenen Aufnahmelagern untergebracht, etliche - selbst Jugendliche - werden aufgrund ,ungeklärter Identitäten‘ inhaftiert. Kinder sind während des sich über mehrere Jahre hinziehenden Asylverfahrens nicht in die Schulpflicht einbezogen, dürfen jedoch eine öffentliche Schule besuchen. Der Zugang zu Bildung ist somit in Finnland für Heranwachsende ohne gesicherten Aufenthaltsstatus vergleichbar erschwert wie in Deutschland (Schroeder 2007). Äußerst bildungsbenachteiligt sind auch die etwa 10.000 in Finnland lebenden Roma. Sie haben zwar seit 1994 den rechtlichen Status einer ethnischen und sprachlichen Minderheit, aber „we note that Finland faces a serious challenge in the Roma population, sometimes called gypsies. The problems include serious problems at home, high rates of [school] absenteeism, high rates of placement in special education, serious conflict between family values and school values, low use of day care and pre-primary education, and a lack of classes in the Romany language“ (Grubb u. a. 2005, 45). Eine Mikrostudie zu 142 in Südfinnland lebenden 18-jährigen Roma ergab, dass lediglich 29 die allgemein bildende Schule durchlaufen hatten, und dass nur ein Einziger einen Sekundarabschluss erwerben konnte (Viljanen 2008, 127). Ähnliche Probleme bestehen seit Jahrzehnten auch in Deutschland und sind - wie in den meisten europäischen Ländern - weitgehend ungelöst geblieben (Hornberg 2000). Finnisch und Schwedisch sind Amtssprachen und werden beide als Pflichtsprachen in der Schule gelehrt. Für die schwedische Minderheit in Südfinnland gibt es zudem ein separates schwedischsprachiges Schulsystem. Die finnische Sprachbildungspolitik entspricht somit in etwa der deutschen: Eine weitgehende Anerkennung autochthoner Sprachen (für dänische und sorbische Minderheiten gibt es auch in Deutschland separate zweisprachige Schulsysteme) korrespondiert mit eingeschränkten Rechten für allochthone Sprachen der Zugewanderten (Gogolin 2007). Eine am Leitbild „Mehrsprachigkeit“ orientierte lokale Sprachplanung, die zur Grundlage für die Auswahl angemessener Konzepte sprachlicher Bildung an den einzelnen Schulen werden könnte, gibt es in Finnland - wie in der Bundesrepublik - nur in Ausnahmefällen. Die Frage, ob im finnischen Bildungssystem die ethnische und die sprachliche Heterogenität ‚gerecht‘ bewältigt werden, lässt sich empirisch nur bedingt beantworten. Es spricht jedoch einiges für die These, dass in Finnland das Bildungssystem von der gesellschaftlichen Platzierungsfunktion junger Migranten in hohem Maße entlastet ist und dass diese Aufgabe mittels einer nationalstaatlichen, auf Abschottung zielenden Migrationspolitik erledigt wird. Auch Deutschland betreibt keine offensive Einwanderungspolitik, dennoch hat eine beträchtliche Zuwanderung stattgefunden, die im Bildungssystem durch Mechanismen ethnischer Diskriminierung bearbeitet wird (Gomolla/ Radtke 2002). In Finnland reagiert man demgegenüber auf das Phänomen weltweiter Migration mit einer restriktiven Zuwanderungspolitik, um sich - pointiert ausgedrückt - ‚die Probleme‘ gar nicht erst ins Land zu holen. Von Geschlechtergerechtigkeit weit entfernt „In the PISA study, the gender gap between the achievements of boys and girls was the widest in Finland“ (Välijärvi 2004, 8). Diese markanten Geschlechtsspezifika werden gerne mit der „Sprachenlastigkeit“ (Freymann 2002, 13) des finnischen Bildungssystems erklärt: Alle VHN 2/ 2010 100 Joachim Schroeder Schülerinnen und Schüler lernten die beiden Amtssprachen sowie eine oder gar zwei Fremdsprache(n). Mehr als ein Drittel der Wochenstundenzahl nehme der Sprachunterricht ein. Zudem werde traditionell sehr viel Wert auf Lese- und Literaturunterricht gelegt, der den Mädchen entgegenkomme, da sie sich weitaus häufiger und intensiver dem Lesen widmeten. Allerdings zeigt sich auch in Finnland ein enger Zusammenhang zwischen niedrigem sozioökonomischem Status, Geschlecht und Bildungschancen (Grubb u. a. 2005, 9), der wohl kaum allein mit einer geschlechtsdifferenten Lesesozialisation erklärbar ist. So sind 69 % der Kinder und Jugendlichen, die eine sonderpädagogische Förderung erhielten, männlich, und auch die Zahl der „drop outs“ ist bei jungen finnischen Männern wesentlich höher als bei den Frauen (Julkunen 2007, 8). „In Finland, the groups for which educational inequality is a problem, include immigrants […]; individuals in rural areas […]; and children of lower socio-economic status. The differences between boys and girls are largely in favour of girls […]; if there is a gender problem in Finland, it is that boys are more prone to misbehaving […] and to dropping out“ (Grubb u. a. 2005, 9). Der verhaltensauffällige männliche Jugendliche aus einem sozial schwachen Haushalt - diese Kunstfigur maximaler Benachteiligung fasst somit nicht nur die deutschen (Budde 2008, 13ff ), sondern auch die finnischen Verhältnisse angemessen zusammen. Insgesamt erzielen Mädchen in Finnland - wie auch in Deutschland - durchschnittlich weitaus bessere schulische Leistungen und wechseln häufiger in einen weiterführenden höheren Bildungsgang oder an eine Universität. In Finnland wird schon lange über Gendergerechtigkeit debattiert, im Fünf-Jahres-Plan für die Weiterentwicklung des finnischen Bildungswesens konstatiert das Bildungsministerium allerdings selbstkritisch: „Differences between the sexes in attendance rates, and segregation in particular, have been the targets of intervention through education policy for decades, but without any clear success“ (Ministry of Education 2007, 17). Dieser Befund könnte mit der These erklärt werden, dass die Schule in ihren Inhalten, Lehrmethoden, Unterrichtsformen, Kommunikationsstrukturen und in ihrem didaktischen Material die Schülerinnen auf ‚weibliche‘, die Schüler auf ‚männliche‘ bürgerliche Wertvorstellungen formatiert und dazu tendiert, andere Lebensweisen auszugrenzen sowie abweichende Geschlechterkonzepte zu unterdrücken. Vor allem männliche Jugendliche verweigern sich einer Unterordnung unter die in der Schule wirkenden Geschlechternormierungen und nehmen das erhöhte Risiko eines Scheiterns im Bildungssystem in Kauf. Um solche normativ verursachten Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen aus der Unterschicht oder aus ethnischen Minderheiten abzubauen, wären in der Schule vor allem die Wirkungen der gegebenen sozio-okönomischen Unterschiede auf den pädagogischen Bezug und deren Folgen für den Lernerfolg zu bearbeiten. Probleme finnischer Jugendlicher beim Übergang in das Beschäftigungssystem In Finnland ist lediglich die neunjährige Gemeinschaftsschule verpflichtend, der Besuch weiterführender Bildungsgänge ist freiwillig (Sahlberg 2006, 9). Die höhere Bildung ist zweigeteilt: In einer allgemein bildenden Sekundarstufe II erwerben die Jugendlichen die Hochschulzugangsberechtigung, in polytechnischen Schulen können sie sich in dreijährigen Bildungsgängen für fast alle Ausbildungsberufe qualifizieren (vgl. Kyrö 2006, 23ff ). Finnland ist sehr erfolgreich darin, Jugendliche zum allgemein bildenden Abschluss zu führen: Weniger als 1 % geht vorzeitig von der neunjährigen Schule ab, Zahlen, die für Deutschland unvorstellbar sind (2006 gab es rund 8 % vorzeitige Abgänge). Allerdings sieht es für finnische Jugendliche wenig erfreulich aus, wenn man nach VHN 2/ 2010 101 Lernen von Finnland? deren nachschulischem Verbleib fragt: Zwar setzten 2006 rund 95 % der Absolventen der neunjährigen Pflichtschule ihre Bildungskarriere in einer der beiden weiterführenden Sekundarstufen fort, doch jeder Vierte (! ) brach die allgemein bildende Schule ab, und lediglich 11,5 % (! ! ) beendeten den beruflichen Bildungsgang (Sahlberg 2006, 10) - dies sind weitaus dramatischere Abbruchquoten als in Deutschland. Finnland verzeichnet zudem eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit. 2006 betrug sie bei den 15bis 24-Jährigen 13,7 % (Deutschland: 8,1 %), was einem Gesamt von 54.000 erwerbslosen jungen Leute entspricht (Bacher 2006, 2). Jugendliche unter 20 Jahren ohne Berufsausbildung haben keinerlei Anspruch auf eine finanzielle Unterstützung (Helve 2000, 128), weshalb sie sich häufig nicht beim Arbeitsamt melden, was zu einer „versteckten“ Jugendarbeitslosigkeit führen kann. Ähnlich wie in Deutschland sind auch in Finnland Arbeitslosigkeit und Marginalisierung in hohem Maße gesellschaftlich vererbt: Studien zeigen „that the connections between family background and dropping out are clear. The young dropouts were mostly from low-income families, less educated, and - from a labour-market perspective - in a weaker position than the population on average“ (Julkunen 2007, 4). Als These lässt sich ableiten: Finnland hat kein schulisches Abschluss-, sondern ein erhebliches Anschlussproblem. Anders als im deutschen Bildungssystem findet soziale Selektion nicht so sehr bereits in der allgemein bildenden Schule, sondern - dann jedoch dramatisch - am Übergang in das Beschäftigungssystem statt. Mehr als dreißig Jahre lang hat sich die finnische Bildungspolitik fast ausschließlich auf die Sicherung der Qualität in der neunjährigen allgemein bildenden Gemeinschaftsschule sowie auf Frühförderung im Kindergarten und in der Vorschulerziehung konzentriert. „Secondary education has been for a long time the least interesting and attractive topic for policymakers“ (Sahlberg 2006, 16). Dem lag die rückblickend naive Ansicht zugrunde, dass mit einer qualitativ hohen allgemeinen Bildung die Grundlagen für eine erfolgreiche Bildungskarriere gelegt würden (ebd., 17). Die gleiche - nicht minder naive - Sichtweise findet sich in der deutschen Schulreformdebatte, die ebenso auf die ersten zehn Klassen fokussiert und mittels Zuhilfenahme sonder- und sozialpädagogischer Ressourcen und mit einer massiven Frühförderung im Kindergarten die solide Grundbildung sichern möchte, ohne dass vergleichbare Anstrengungen zur Verbesserung des Übergangssystems unternommen werden. In Finnland jedenfalls ist die Barriere zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem zum zentralen bildungspolitischen Thema geworden, denn dort ist „der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt der problematischste Wendepunkt im Leben junger Menschen“ (Helve 2000, 134). Finnische Lektionen Die Untersuchung verschiedener Differenzlinien ergibt: Das finnische Bildungssystem an sich ist weder erfolgreich noch gerecht. Vielmehr sind es einzelne Segmente, in denen ein hohes Maß an Bildungsgerechtigkeit hergestellt werden konnte, nämlich in der neunjährigen allgemeinen Gemeinschaftsschule, allerdings unter sträflicher Vernachlässigung der Sekundarstufen und des Berufsbildungssystems. Und es sind einzelne soziale Gruppen, die vom finnischen Bildungssystem profitieren: neben den bürgerlichen Milieus die Leistungsschwachen und vor allem Kinder mit einer Behinderung. Schwierigkeiten zeigen sich in der Bearbeitung geschlechtsspezifischer Verwerfungen und in der Vermeidung von Bildungsbenachteiligungen aufgrund von Armut. Zudem werden junge Flüchtlinge rigide ausgeschlossen, Migranten kaum gefördert und Roma ignoriert. In Deutschland wird somit über die finnischen Verhältnisse vornehmlich selektiv berichtet (eine Ausnahme ist der Band von Matthies/ Skiera 2009). VHN 2/ 2010 102 Joachim Schroeder Als überzeugend in der Debatte in Finnland erweist sich der Anspruch auf die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit und nicht nur auf die Schaffung von Chancengleichheit. Die Qualität eines Bildungssystems wird in den meisten internationalen Schulvergleichsstudien in einem kompetenzbasierten Leistungsranking bestimmt, das es jedoch nicht zwangsläufig zulässt, Bildungssysteme unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit und damit verbundener Inklusionschancen zu betrachten. Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei diesen Vergleichsstudien verstärkte gleichsam reflexartig die Förderrhetorik und führte zu einer Neuauflage kompensatorischer Förderansätze: Umfangreiche Bemühungen um Frühförderung (vor der Schule), Ganztagsbetreuung (nach dem Unterricht) und Vernetzung mit der Familien-, Kinder- und Jugendhilfe (außerhalb der Schule) sowie der Erwachsenenbildung (über die Schule hinaus) wiederholen die bislang bereits verfolgten Strategien, benachteiligte Menschen an die Normschwellen heranzuführen (vgl. Radtke 2003, 25). Wie gezeigt, setzt man auch in Finnland auf solche Instrumente. Aber dort werden, weitaus konsequenter als es in Deutschland der Fall zu sein scheint, Debatten geführt, wie Bildungssysteme nicht nur in ihrer Leistungsfähigkeit in Bezug auf individuelle Förderung, sondern auch hinsichtlich des Abbaus von Benachteiligungen sozialer Gruppen bewertet und somit mittelfristig ‚gerechtere‘ Strukturen im Feld der Bildung geschaffen werden können. Literatur Bacher, Johann (2006): Jugendarbeitslosigkeit in Finnland und Österreich: Ist der Vergleich zulässig? In: Kontraste, 2, o. S. Budde, Jürgen (2008): Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen/ männlichen Jugendlichen. Herausgegeben vom Bildungsministerium für Bildung und Forschung. Bonn/ Berlin Freymann, Thelma von (2002): Zur Binnenstruktur des finnischen Schulwesens. In: Freiheit der Wissenschaft 2, 11 - 15 Gogolin, Ingrid (2007): Sprachförderung von Migrantenkindern und -jugendlichen. In: Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Bonn, 18 - 24 Gomolla, Mechthild; Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske + Budrich Grubb, Norbert u. a. (2005): Equity in education: Finland. Paris: OECD Helve, Helena (2000): Finnland. In: Richter, Ingo; Sardei-Biermann, Sabine (Hrsg.): Jugendarbeitslosigkeit. Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme in Europa. Opladen: Leske + Budrich, 125 - 144 Honkala, Satu (2008): Schüler mit Migrationshintergrund in Helsinkier Gemeinschaftsschulen. In: Sarjala, Jukka; Häkli, Esko (Hrsg.): Jenseits von PISA. Finnlands Schulsystem und seine neuesten Entwicklungen. Berlin: Wissenschaftsverlag, 139 - 145 Hornberg, Sabine (Hrsg.) (2000): Die Schulsituation von Sinti und Roma in Europa. Frankfurt/ Main: IKO-Verlag Julkunen, Ilse (2007): Early school leaving in Finland - a problem solved? In: www.injuve.mtas. es Kyrö, Matti (2006): Vocational education and training in Finland. Luxembourg: Cedefop Panorama series 130 Matthies, Aila-Leena; Skiera, Ehrenhard (Hrsg.) (2009): Das Bildungswesen in Finnland. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag Ministry of Education (Finland) (2004): Development Plan Education and Research 2003 - 2008. Helsinki Ministry of Education (Finland) (2007): Education and training 2010 - Finland’s Interim Reports for 2005 - 2007. Helsinki Rackwitz, Rüdiger-Philipp (2005): Bildungsfaktor Nachhilfe. Erkaufte Bildungschancen. In: Pädagogik 57, 36 - 41 Radtke, Frank-Olaf (2003): Integrationsleistungen der Schule. Zur Differenz von Bildungsqualität und Beteiligungsgerechtigkeit. In: Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 42, 23 - 35 Raiser, Ulrich (2007): Erfolgreiche Migranten im deutschen Bildungssystem - es gibt sie doch. Hamburg: Lit Verlag VHN 2/ 2010 103 Lernen von Finnland? Ruoho, Kari (2006): Educational equality and part time education in Finland 1960 - 2003. In: Stechow, Elisabeth von; Hofmann, Christiane (Hrsg.): Sonderpädagogik und Pisa. Kritischkonstruktive Beiträge, 155 - 169 Sahlberg, Pasi (2006): Raising the bar: How Finland responds to the twin challenge of secondary education? In: Profesorado. Revista de curriculum y formación del profesorado 10, 3 - 26 Salmenhaara, Perttu (2003): Finland. EU and US approaches to the management of immigration. Brussels/ Helsinki Schroeder, Joachim (2007): Recht auf Bildung - auch für Flüchtlinge. Aktuelle Regelungen, konzeptionelle Überlegungen und bildungspolitische Folgerungen. In: Die Deutsche Schule 99, 224 - 241 Statistics Finland (2007): Education nrs 2006: 6ff and Special education 2005/ 06 Välijärvi, Jouni (2003/ 2004): The System and How Does It Work - Some Curricular and Pedagogical Characteristics of Finnish Comprehensive School. In: Educational Journal 31/ 32 Viljanen, Anna Maria (2008): The principle of equality in Finnish minority policy. In: European Association for Education of Adults (Ed.): Adult learning in Europe, 122 - 131 Prof. Dr. Joachim Schroeder Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich Erziehungswissenschaften Institut für Sonderpädagogik Senckenberganlage 15 D-60325 Frankfurt am Main E-Mail: J.Schroeder@em.uni-frankfurt.de Tel.: ++44 (0)69-7 98-2 20 97 Fax: ++44 (0)69-7 98-2 22 12