eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Dialog: Soll die Schule Lernstörungen verhindern oder reparieren?

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2010
Erich Hartmann
Erich Ambühl
Anlass für den nachfolgenden Mail-Wechsel war ein Missgeschick. Das Korrekturexemplar eines Zeitschriftenaufsatzes erreichte infolge eines Fehlklicks am Computer eine falsche Mail-Adresse. Es ging in diesem Aufsatz um das Konzept einer Schule, in welchem systematisch eingesetzte Maßnahmen zur Vorbeugung von Lernstörungen Priorität vor den traditionellen Maßnahmen bei bereits aufgetretenen Lernstörungen haben (z. B. Therapien, Klassenwiederholung, Sonderschulplatzierung). Das RTI-Modell unterstützt Kinder, die im Regelunterricht geringe Lernfortschritte machen, durch verschiedene Interventionen. Diese sind weitgehend in den Regelschulunterricht eingebettet und können in Abhängigkeit von den Evaluationsergebnissen zunehmend intensivere Formen annehmen. Es handelt sich um ein schulisches Konzept, welches den aktuellen integrativen Tendenzen entgegenkommt und sonderpädagogische Maßnahmen konsequent in die Regelschule einbezieht. Der Mail-Empfänger las den nicht für ihn bestimmten Text und schrieb in einer ausführlichen Stellungnahme an den Verfasser, dass er die Einführung des Modells befürworte, aber angesichts der scharfen Selektionspraxis und der stark verankerten Pseudobeurteilung durch Noten Widerstand der Bildungspolitik voraussehe.
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169 VHN, 79. Jg., S. 169 - 174 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art14d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Soll die Schule Lernstörungen verhindern oder reparieren? Erich Hartmann Freiburg/ CH Erich Ambühl Lohn-Ammannsegg Dialog Lohn-Ammannsegg, 4. November 2009  Werter Herr Hartmann Ihr Aufsatz veranlasst mich, die Situation der Volksschule zu überdenken. Wo Politiker es nicht verhindern, kann Ihr Modell schon heute verwirklicht werden. Insgesamt dürfte der Widerstand des Systems gegen das von Ihnen vorgeschlagene Präventionskonzept aber massiv sein. Mit dem Ziel, die Realisierung Ihrer Ideen zu begünstigen, skizziere ich auf der Grundlage einer Grobanalyse vor allem fördernde Faktoren. Die Aufgabe der Volksschule und deren Grenzen: Jedes Kindes soll seine Persönlichkeit und seine Identität auf der Grundlage seiner einmaligen Eigenschaften, Interessen und Fähigkeiten derart entwickeln können, dass seine Begabungen zur Grundlage von Beruf (Berufung) und Lebensgestaltung werden und dass es als Bürger/ Bürgerin Verantwortung für sich selber wahrnehmen und zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beitragen kann. Weil die Grundlagen in den ersten vier Lebensjahren gelegt werden, und weil die Heranwachsenden die Schule mitten in der Pubertätskrise bereits wieder verlassen, drängt sich die Einsicht auf: Die Volksschule ist einer Gesellschaft mit begrenzter Haftung vergleichbar! Die Verantwortung für die Erziehung tragen - auch gemäß ZGB - die Eltern; Aufgaben der Schule sind die Vermittlung eines Grundwissens und die professionelle Beratung und Unterstützung der Eltern. Früherziehung als Fundament: Mit Recht verweisen Sie darauf, dass sich viele Entwicklungsfenster relativ rasch für immer schließen. Eine von Zuwendung, Wärme und Wohlwollen geprägte Besorgung der Kleinkinder ist unabdingbare Voraussetzung für jede weitere harmonische Entwicklung. Eine vernachlässigte Früherzie- Anlass für den nachfolgenden Mail-Wechsel war ein Missgeschick. Das Korrekturexemplar eines Zeitschriftenaufsatzes erreichte infolge eines Fehlklicks am Computer eine falsche Mail-Adresse. Es ging in diesem Aufsatz um das Konzept einer Schule, in welchem systematisch eingesetzte Maßnahmen zur Vorbeugung von Lernstörungen Priorität vor den traditionellen Maßnahmen bei bereits aufgetretenen Lernstörungen haben (z. B. Therapien, Klassenwiederholung, Sonderschulplatzierung). Das RTI-Modell unterstützt Kinder, die im Regelunterricht geringe Lernfortschritte machen, durch verschiedene Interventionen. Diese sind weitgehend in den Regelschulunterricht eingebettet und können in Abhängigkeit von den Evaluationsergebnissen zunehmend intensivere Formen annehmen. Es handelt sich um ein schulisches Konzept, welches den aktuellen integrativen Tendenzen entgegenkommt und sonderpädagogische Maßnahmen konsequent in die Regelschule einbezieht. Der Mail-Empfänger las den nicht für ihn bestimmten Text und schrieb in einer ausführlichen Stellungnahme an den Verfasser, dass er die Einführung des Modells befürworte, aber angesichts der scharfen Selektionspraxis und der stark verankerten Pseudobeurteilung durch Noten Widerstand der Bildungspolitik voraussehe. VHN 2/ 2010 170 Erich Hartmann, Erich Ambühl hung generiert Störungen bei der Ausformung von Identität, Selbstkonzept und der Grundkompetenzen. Pestalozzi hat die Wichtigkeit der Früherziehung erkannt und zuhanden der Mütter die von sehender Liebe getragene Methode für die Entwicklung von Kopf, Herz und Hand geschaffen. Da sich heute die Mütter im Erwerbsleben verwirklichen (müssen), kommt dem entsprechenden, vom eidgenössischen Parlament der Konferenz der Sozialdirektoren zugewiesenen Projekt allererste Priorität zu. Auch die auf die Früherziehung folgende Phase verlangt Zuwendung, Wärme und Professionalität. Standortgespräche mit Eltern und Kind: Auf genetischer Grundlage konstituieren die Kinder - als Subjekt ihres Entwicklungsprozesses - ihr Selbstkonzept und ihre Identität als Angehörige einer Familie, einer Kultur, einer Religion sowie als Bürger und als Mensch selber. Aufgabe der Schule ist, ihre einmaligen Eigenschaften und Fähigkeiten frühzeitig zu erkennen. Im periodischen Gespräch mit Eltern und Kind vereinbart die zuständige Lehrperson, wie diese besonderen Begabungen gefördert und zur Grundlage von Beruf und Lebensgestaltung entwickelt werden. Aus dem Bewusstsein eigener Stärken erwachsen den Kindern ein positives Selbstkonzept und Motivation. Bildungsstandards anstatt Pseudobewertungen: Die Definition der je auf Ende der Eingangs-, Primar- und Sekundarstufe I zu erreichenden Standards in allen Kompetenzbereichen ist das eigentliche Herzstück des schweizerischen HarmoS-Projekts. Die Standards liefern ein für alle Beteiligten einsichtiges Instrument für die Ermittlung des jeweiligen Entwicklungsstandes. Fördermaßnahmen können aufgrund des genauen Standes und des Begabungsprofils vereinbart werden. Die Pseudobewertung durch Noten wird überflüssig, und deren Lernstörungen auslösende Auswirkungen werden eliminiert. Integration: In Ihrem Modell wird jedes Kind in seiner Einmaligkeit und Würde ernst genommen. Ganz selbstverständlich übertragen Sie heilpädagogische Prinzipien auf die Regelschule. Dies entspricht den durch das Behindertengleichstellungsgesetz vorgegebenen Normen und auch der von der Schweiz bereits 1994 unterzeichneten Erklärung von Salamanca. Diese legt fest, dass von schulischem Misserfolg bedrohte Kinder nicht mehr ausgesondert, sondern gemäß ihren einmaligen Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnissen in der Regelschule optimal gefördert werden. Die Aufgabe, Begabungen zu entdecken, zu fördern und zu entfalten, war bisher Vorrecht der Heilpädagogik. Mit dem Jahrhundertprojekt „Integration“ erhält diese Aufgabe mehr als nur Gastrecht in der Regelschule, sie wird selber zur Regel! Schulleitungen als Führungsgremien: Ein Vorteil Ihres Modells besteht darin, dass es bereits heute in Geleiteten Schulen verwirklicht werden kann. Als regionale Kompetenzzentren und lernende Organisationen sind diese prädestiniert, gemeinsam mit Kinderärzten/ innen/ Gynäkologen/ innen die Koordination mit der Früherziehung zu organisieren sowie die Öffentlichkeitsarbeit und dann die professionelle Beratung der Eltern bis zum Schulaustritt ihrer Kinder zu garantieren. Eliminierung von Gegenkräften: Ihr Beitrag geht von der Annahme aus, die Volksschule beurteile jedes Kind in seiner Individuallage und führe es dort weiter, wo es in seiner Entwicklung steht. Leider trifft dies nicht zu. Gesetze und Verordnungen zwingen die Lehrpersonen zu Praktiken, welche die Erziehungswissenschaft längst als schädlich erkannt hat. Integration (und Inklusion) kann nur gelingen, wenn die fragwürdige „Beurteilung“ durch Noten und das Phantom der „Bildung von Stärkeklassen“ samt ihren destruktiven Auswirkungen eliminiert und stattdessen pädagogische Prinzipien auch in der Regelschule angewandt werden. Meine Frage: Was ist zu tun, damit Politiker erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen und längst fällige Reformen der Schule im Sinn der Integration und der Vermeidung von Lernstörungen nicht weiter blockieren? Mit freundlichen Grüssen Erich Ambühl VHN 2/ 2010 171 Soll die Schule Lernstörungen verhindern oder reparieren? Freiburg, 7. November 2009  Lieber Herr Ambühl Über Ihren Brief habe ich mich gefreut. Wie mich meine langjährige Erfahrung am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg nämlich lehrt, rufen Veröffentlichungen von Akademikern zu Herausforderungen in der (Heil-)Pädagogik selten ein Echo aus Praxis oder Bildungspolitik hervor, das in einen weiterführenden Dialog münden könnte. Und wenn, dann sind die Rückmeldungen in den „Elfenbeinturm der Wissenschaft“ nicht immer zustimmend wie in Ihrem Fall. Zu dem von uns vorgestellten Praxiskonzept zur Prävention von schulischen Lernstörungen muss ich bescheidenerweise eingestehen, dass dieses sogenannte „Response-to-Intervention-Modell“ (RTI) nicht in der Freiburger Heilpädagogik entstanden ist. Es stammt vielmehr aus den USA, wo es mittlerweile gesetzlich verankert ist und in der Praxis zunehmend Verbreitung findet. Im Gegensatz zu herkömmlichen Organisationsstrukturen der schulischen Betreuung von Kindern mit Lernrisiken und -problemen ist RTI strikt im regelpädagogischen Kontext verortet, sieht also keine Aussonderung in Sonderklassen o. Ä. vor. Kernstück der schulweiten Prävention ist ein exzellenter, forschungsbasierter Unterricht in Kernfächern wie Lesen, Schreiben, Rechnen usw. Durch integrierte und konsequente Lerndiagnostik auf Klassen- und Individualebene ergibt sich einerseits die Möglichkeit, die Qualität resp. Wirksamkeit des Unterrichts zu überprüfen. Andererseits sollen dadurch möglichst früh Kinder erkannt werden, die trotz guter Instruktionen im Lernen zurückfallen und daher zusätzlich präventive Fördermaßnahmen erhalten. Bisherige Forschung spricht für den Erfolg eines solchen Vorgehens, auch wenn Lernstörungen nicht in jedem Fall verhindert werden können. Sie befürworten dieses Präventionskonzept ebenfalls und bejahen die zugrunde liegenden pädagogischen Wertvorstellungen und Visionen. Die Möglichkeit seiner Umsetzung im schweizerischen Schulsystem erachten Sie grundsätzlich als gegeben. Ihrem Schreiben entnehme ich allerdings eine beachtliche Skepsis bezüglich der politischen Unterstützung dieser Innovation. Sie erwarten massiven „Widerstand des Systems“. Dies führt Sie zur Frage, was zu tun sei, damit Politiker wissenschaftliche Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen und fällige Schulreformen nicht weiter unterdrücken? Ich sehe die Antwort auf diese Frage weniger skeptisch als Sie. Nach meiner Wahrnehmung fließen Konzepte wie „Integrative Schulung“ und „Prävention“ seit einigen Jahren vermehrt in bildungspolitische Diskussionen, Absichtserklärungen und Schulentwicklungen ein. Ich kann auf politischer Ebene durchaus eine Sensibilisierung für diese Themen ausmachen, bin mir aber bewusst, dass in der Politik (auch in Wissenschaft und Praxis) fast nichts unumstritten ist. Entsprechend ist jede Schulreform bisher immer auch auf Widerstand gestoßen. Auf Ihre Frage kann ich nur aus der Sicht eines Wissenschaftlers antworten, der weder die Kunst des politischen Lobbyierens beherrscht noch Kontakte zu einflussreichen Bildungspolitikern pflegt. Aufgabe wertgeleiteter (Handlungs-)Wissenschaften wie der Heilpädagogik ist es u. a., Phänomene in der Praxis zu beschreiben und zu analysieren, um aufgrund gewonnener Erkenntnisse Problemlösungen zu entwickeln und zu überprüfen. Der Wissenstransfer in die Politik kann nur erfolgen, wenn Akademiker den Dialog mit Bildungsverantwortlichen suchen. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sich in die bildungspolitische Diskussion einzubringen: Teilnahme an Tagungen und Hearings, Beiträge in Zeitungen und Fachzeitschriften, Auftritte in Fernsehen und Radio oder Informationsvermittlung via Internet. Selbst einem kommunikativen und charismatischen Wissenschaftler dürfte es VHN 2/ 2010 172 Erich Hartmann, Erich Ambühl indes nicht gelingen, unter Politikern Einstimmigkeit hervorzurufen - dies wäre eine vermessene Absicht. Im Übrigen mahlen die politischen Mühlen in der Schweiz bekanntlich langsam, was die Notwendigkeit eines längerfristigen Engagements der Wissenschaft in der politischen und öffentlichen Auseinandersetzung begründet. Unbestritten erfordert die Umsetzung von schulischen Innovationen gelungene Kommunikation und gemeinsame Anstrengungen von Wissenschaft und Bildungspolitik. Aber auch die Schulen selbst und die Aus-/ Weiterbildung von Lehrpersonen werden in die Pflicht genommen werden müssen, damit die Präventionsaufgabe erfolgreich bewältigt werden kann. Eine Neuorientierung im oben skizzierten Sinn ist angewiesen auf eine schulorganisatorische Flexibilisierung, ein Umdenken hinsichtlich Instruktion, Diagnostik und heilpädagogischer Maßnahmen und letztlich auf eine hohe Fachkompetenz aller Beteiligten. Schulweite präventive Bemühungen implizieren ferner eine intensive Zusammenarbeit von Regel- und Heilpädagogik und ziehen eine Reorganisation traditioneller Verantwortlichkeiten und Rollen von Lehrpersonen und Spezialisten nach sich. Es wird sich insbesondere auch die Frage stellen, wie die Schulpraxis auf die neuen Herausforderungen reagieren wird. Werden die „reformgeplagten“ Schulen die Praktikabilität und das Potenzial des Präventionsmodells (an-)erkennen? Werden Lehrpersonen und Heilpädagoginnen bereit und fähig sein, herkömmliche Unterrichtsstrukturen und -verfahren, vertraute diagnostische und therapeutische Praktiken kritisch zu überdenken und gegebenenfalls zu modifizieren oder zu ersetzen zugunsten einer stärker präventionsorientierten Schule? Worin sehen Sie als Kenner unseres Bildungssystems die Voraussetzungen und Möglichkeiten, neben der Bildungspolitik auch die Schulpraxis für unsere Idee zu gewinnen? Mit freundlichen Grüssen Erich Hartmann Lohn-Ammannsegg, 13. November 2009  Lieber Herr Hartmann Ich danke Ihnen für Ihre Antwort, der ich eine weitreichende Übereinstimmung unserer Werthaltungen und Urteile entnehme. Ich sehe bestätigt, dass sich wahre Pädagogik ins Réduit der Heilpädagogik zurückgezogen hat; dank dem übergreifenden Jahrhundertprojekt „Integration“ ist sie berufen, einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung einer humaneren und effizienteren Schule zu leisten. Ins Réduit abgedrängt wurde die wahre Pädagogik durch zwei Charakteristika des heutigen schweizerischen Schulsystems, die meine Skepsis begründen: die Pseudobeurteilung der Kinder durch Noten und die auf Noten basierende Selektion. Wie unseriös und untauglich Noten für die Beurteilung sind, leuchtet unmittelbar ein, wenn man die gängige Praxis - die Normalverteilung nach Gauß - auf die bisher ausgesonderten Kinder anwendet: Die Großzahl fällt durch! Die sorgfältige Beurteilung der Heilpädagogik ist realistisch und fördernd. Indem sie Fördermaßnahmen dem Entwicklungsstand des Kindes anpasst, nutzt sie die Energie des Wachstums- und Reifungsprozesses und bewirkt Kontinuität, Lernerfolg, Wachstum, Selbstvertrauen, Motivation. Die „Beurteilung“ durch Noten ignoriert den Entwicklungsstand. Allen gut gemeinten Fördermaßnahmen der Regelschule haftet der Charakter des Ungefähren, Zufälligen an. Sie bewirken wenig Positives; weil viele Kinder über- oder unterfordert sind, verursachen sie Lernstörungen. Schlimmer noch wirkt sich das Phantom „Einteilung in (vermeintliche) Stärkegruppen“ aus, die Selektion. Alles im Unterricht orientiert sich an den Anforderungen von Mathematik und Sprache; alles, was nicht prüfungsrelevant ist, wird ausgeblendet. Die unter dem Durchschnitt liegende Hälfte der Kinder hat resigniert; auch von einer gezielten Förderung der Begabungen der „besseren“ Hälfte der Klasse oder von Erziehung kann keine Rede VHN 2/ 2010 173 Soll die Schule Lernstörungen verhindern oder reparieren? sein. Ergebnisse sind Demotivation, Schulverleider und Lernstörungen frustrierter Kinder, enttäuschte Eltern, Lehrpersonen mit Burnout, kostspielige Therapien. Die auf Benotung und Selektion fokussierte Schule tut nicht, was sie soll; statt zu fördern und zu motivieren entmutigt und verkrüppelt sie. Hier liegen die Gründe, warum die Schweiz im PISA-Projekt nicht vorne mithalten kann: Das Kaprizieren auf Noten und Selektion statt auf individuelle Förderung verschlingt Energie und Finanzen. Gemeinsam ist allen Spitzenländern des PISA- Projekts, dass sie keine oder dann eine späte Selektion haben. Was und wie kann die Heilpädagogik zur Verwirklichung einer humaneren und effizienteren Schule beitragen? Voraussetzung für eine gezielte Förderung ist die differenzierte und umfassende Beurteilung. Mit der Integration muss auch die Regelschule seriöser beurteilen. Damit entfällt nicht nur die Illusion, eine „Klasse“ könne als homogene Einheit unterrichtet werden; angesichts der differenzierten Beurteilung aller Kompetenzbereiche durch die Standards von HarmoS werden auch Noten als Beurteilungsinstrument hinfällig. In der Idee der Integration ist die Befreiung der Regelschule vom Laster der Pseudobeurteilung bereits enthalten. Eine Reform der traditionellen Unterrichtsmethoden ist unumgänglich. Eine optimale Förderung aller Kinder liegt im Interesse aller. Je besser eine Gesellschaft die Talente der nachwachsenden Generation entwickelt, desto besser sieht ihre Zukunft aus. Die auf einer differenzierten und umfassenden Beurteilung basierende Förderung der Kinder gibt den Lehrpersonen ihre Würde und ihre eigentliche Berufung zurück; sie können ein Berufsethos ausleben und den Kindern wieder in die Augen schauen. Eine echte Motivation ist die Folge, selbst dann, wenn Lehrerinnen und Lehrer im Moment noch gezwungen werden, das Falschgeld „Noten“ zu handhaben. Diesbezüglich wird noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen. Sie fragen, wie der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Bildungspolitik verbessert werden könne, wie Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis besser zusammenarbeiten, wie unser Anliegen in der reformgeplagten Volksschule in die Praxis umgesetzt und wie die Schulpraktiker für unser Anliegen gewonnen werden können. Meine Antwort: Durch das Prinzip des maître chercheur. Jede Geleitete Schule ist nicht nur eine lernende, sie ist auch eine forschende Organisation. Ausgehend von der Ausgangslage und der Notwendigkeit der Umsetzung der Integration formuliert sie - inklusive Elternschaft - ihre Forschungsanliegen. Aufgabe der Heilpädagogen/ innen und der universitären Forschung ist die wissenschaftliche Begleitung zyklisch verlaufender Projekte. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden in derartiger Zusammenarbeit dankbar angenommen, neue werden gewonnen und gemäß den jeweiligen Bedürfnissen modifiziert und umgesetzt. Die Anliegen der Heilpädagogik sind dann erfüllt, wenn die jetzige „profane“ Benotungs- und Selektionspädagogik überwunden und die Heilpädagogik zur Allgemeinen Pädagogik geworden ist. Mit der Idee zur Prävention von Lernstörungen leisten Sie einen wichtigen Beitrag. Für ihre Verwirklichung wünsche ich Ihnen gutes Gelingen! Mit herzlichen Grüssen Erich Ambühl Freiburg, 15. November 2009  Lieber Herr Ambühl Die Schule als lernfähige und forschende Institution bildet unbestritten eine wichtige Grundlage dafür, pädagogische Innovationen gewinnbringend in die Praxis umzusetzen, zu evaluieren und bei Bedarf zu modifizieren. Ein solches komplexes Unterfangen bedarf der wissenschaftlichen Begleitung, was eine konstruktive VHN 2/ 2010 174 Erich Hartmann, Erich Ambühl Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Praxis voraussetzt. Sie signalisieren eine grundsätzliche Bereitschaft der Schule, sich auf diesen Prozess einzulassen, was ich meinerseits für die Wissenschaft antizipiere. Natürlich wird die erfolgreiche Kooperation in allen Lebensbereichen eine sich immer wieder neu stellende Herausforderung sein. Es gibt für Wissenschaft, Politik und Praxis bestimmt noch viel zu tun auf dem Weg zu einer Schule, welche die pädagogische Aufgabe der Prävention konsequent und effektiv umsetzt und somit zum möglichst erfolgreichen Lernen aller Kinder beiträgt. Auf die Wichtigkeit, das familiäre Umfeld der Schülerinnen und Schüler mit einzubeziehen und seine möglichen Ressourcen zu nutzen, haben Sie richtigerweise hingewiesen. Wissend, dass auch die Schule ein Ort ist, an dem tief greifende Veränderungen nicht von heute auf morgen erreicht werden können, danke ich Ihnen herzlich für die ermutigenden Zeilen. Mit freundlichen Grüssen Erich Hartmann Literatur Hartmann, E. (2008): Konzeption und Diagnostik von schriftsprachlichen Lernstörungen im Responsiveness-to-Intervention-Modell. Eine kritische Würdigung. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77, 123 - 137 Müller, Ch. M.; Hartmann, E. (2009): Schulweite Prävention von Lernproblemen im RTI-Modell. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 15, 25 - 33 Dr. Erich Hartmann Lehr- und Forschungsrat Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ CH Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: erich.hartmann@unifr.ch Erich Ambühl Schulinspektor Steinackerstraße 22 CH-4573 Lohn-Ammannsegg/ SO E-Mail: ericam@bluewin.ch