eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Passt mein „Ich“ in eine Kiste? Biografische Spuren in der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an einer Förderschule

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2010
Michaela Loskyll
Gerade für Kinder und Jugendliche mit schwierigen Bildungsbiografien bieten künstlerische Projekte im Sinne der künstlerischen Bildung einen einzigartigen Möglichkeitsraum, sich selbst als jemanden zu erfahren, der mehr Kompetenzen hat, als er bisher geahnt hat. Künstlerische Arbeit ermöglicht ihnen, sich zu entfalten, ihr eigenes Selbstbild zu stärken und Verantwortung für die eigenen Aufgaben zu übernehmen. Die Autorin belegt dies anhand ausgewählter Beispiele aus ihrer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern an einer Förderschule.
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Fachbeitrag VHN, 79. Jg., S. 204 - 211 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 204 Passt mein „Ich“ in eine Kiste? - Biografische Spuren in der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an einer Förderschule Michaela Loskyll Schriesheim n Zusammenfassung: Gerade für Kinder und Jugendliche mit schwierigen Bildungsbiografien bieten künstlerische Projekte im Sinne der künstlerischen Bildung einen einzigartigen Möglichkeitsraum, sich selbst als jemanden zu erfahren, der mehr Kompetenzen hat, als er bisher geahnt hat. Künstlerische Arbeit ermöglicht ihnen, sich zu entfalten, ihr eigenes Selbstbild zu stärken und Verantwortung für die eigenen Aufgaben zu übernehmen. Die Autorin belegt dies anhand ausgewählter Beispiele aus ihrer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern an einer Förderschule. Schlüsselbegriffe: Künstlerische Bildung, erweiterter Kunstbegriff, Lebenskunst, Förderschule Does my “Self” Fit Into a Box? - Biographical Traces in the Art Work of Children and Adolescents in a Special Needs School n Summary: Art projects in the sense of artistic education (Buschkühle 2003) provide unique opportunities for children and adolescents to experience themselves as someone, who has more competencies than he/ she has ever thought possible. Artistic activities allow these pupils to further develop, to strengthen their self-perception and to take responsibility for their own tasks. This is illustrated by the author by reference to her art lessons at a special needs school. Keywords: Artistic education, extended notion of art, art of living, special needs school Fabricando fabricamur: „Durch unser Gestalten erhalten wir selbst Gestalt“ (Wilhelm Schmid) 1 Einleitende Gedanken In einer Zeit, in der immer mehr Kinder und Jugendliche in Konflikt geraten mit den herkömmlichen Formen des Lehrens und Lernens und aus dem vorhandenen Bildungssystem herausfallen, bietet das künstlerische Lernen die Chance, neue konstruktive Erfahrungsformen kennenzulernen, in denen sich der Einzelne als „Autor und Schöpfer seiner Bilder, seiner Erfahrung und seines konkreten Wissens über und in der Welt selbst erleben kann“ (Kettel 2001, 435; Hervorh. i. O.). Als Lehrerin an einer Förderschule arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Bildungsbiografie häufig erleben mussten, dass sie den Anforderungen und Ansprüchen der Regelschule nicht genügen - in Bezug auf ihre Lernleistungen, aber auch im Hinblick auf ihr Verhalten. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit lebensbedeutsamen Themen eröffnet sich für diese Schülerinnen und Schüler ein Möglichkeitsraum, in dem sie erfahrene Grenzen und Misserfolge überwinden können. Im vorliegenden Artikel soll der Versuch unternommen werden, in Abgrenzung zu einem bisher in Theorie und Praxis weit verbreiteten traditionellen und explizit sonderpädagogischen Kunstunterricht, das in der aktuellen kunstpädagogischen Debatte diskutierte Modell ei- VHN 3/ 2010 205 Passt mein „Ich“ in eine Kiste? ner künstlerischen Bildung (vgl. Buschkühle 2003) auf die künstlerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit schwierigen Bildungsbiografien zu übertragen. 2 Künstlerische Bildung und Philosophie der Lebenskunst an einer Förderschule? Unter dem Begriff „künstlerische Bildung“ (vgl. Buschkühle 2003) werden, ausgehend von einem erweiterten Kunstbegriff in Anlehnung an Joseph Beuys, Bildungsmöglichkeiten und -potenziale der Kunst diskutiert, die in engem Zusammenhang mit der Lebensgestaltung des Subjekts in einer komplexen Gesellschaft und heterogenen Kultur stehen. Mit Blick auf die Frage nach dem hier zugrunde liegenden zeitgemäßen Bildungsbegriff erscheint eine inhaltliche Bestimmung von Bildung als Gestaltung und Selbstgestaltung des Menschen, wie sie beispielsweise von Schmid im Rahmen der Philosophie der Lebenskunst geprägt wurde (vgl. Schmid 2003), nicht nur für den Bereich der Regelschule tragfähig zu sein. Wilhelm Schmid versteht dabei Kunst als eine Technik, „mit der ein Subjekt an sich selbst arbeitet, während es an einer äußeren Form arbeitet“ (Schmid 2003, 51). Die Arbeit am Objekt wirkt nach Schmid immer auf das Subjekt selbst zurück. Insofern ist künstlerische Arbeit also immer auch Beziehungsarbeit zu sich selbst. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Diskussion um die Philosophie der Lebenskunst auch für die Sonderpädagogik an Bedeutung. Denn gerade dieses Element der Gestaltungsarbeit an sich selbst und an anderen wird in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer schwierigen Lebenslagen an den schulischen Anforderungen gescheitert sind, zum Kernelement. Es drängt sich daher die Frage auf, ob nicht gerade die pädagogische Begleitung von Kindern und Jugendlichen, die ihr Leben in der Regel unter erschwerten Bedingungen führen und auch in Zukunft führen werden, ein hohes Maß an Lebenskunst auf der Seite der Schülerinnen und Schüler wie auf der ihrer Lehrerinnen und Lehrer notwendig macht. Umso erstaunlicher ist die Beobachtung, dass Schülerinnen und Schüler mit schwierigen Bildungsbiografien in der aktuellen kunstpädagogischen Debatte bislang meist ausgeklammert werden, wenn es um die Potenziale künstlerischer Bildung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen geht. In Anlehnung an Mands These, dass schulschwache Kinder und Jugendliche keine prinzipiell anderen Unterrichtskonzepte, sondern vielmehr eine Pädagogik der Individualisierung benötigen (Mand 2003, 190), sollte auch im Bereich der künstlerischen Arbeit mit Schülerinnen und Schülern in schwierigen Lebenslagen endlich auf Sonderanthropologien und daraus abgeleitete behinderungsspezifische Verfahren verzichtet werden. Stattdessen erscheint es meiner Meinung nach sinnvoll, „Kunst als Lernprinzip, das kreative Formen der Wahrnehmung und Vorstellungsbildung, des Wissenserwerbs und der Bedeutungserzeugung beinhaltet“ (Buschkühle 2003, 26) in Beziehung zu den tatsächlichen individuellen Lernvoraussetzungen und Lebensbedingungen der jeweiligen Schülerinnen und Schüler zu setzen und gegebenenfalls so zu modifizieren, dass ein differenziertes und individualisiertes Lernen möglich wird. Mit der in der künstlerischen Bildung vollzogenen „Wiederentdeckung des Subjekts“ wird einerseits der im sonderpädagogischen Diskurs geforderten Individualisierung in besonderem Maße Rechnung getragen. Es finden aber andererseits auch Fragen nach den veränderten Bedingungen für die Herausbildung von Identität angesichts der sich wandelnden Lebensumstände in unserer Gesellschaft Eingang in die künstlerische Arbeit mit Schülerinnen und Schülern. VHN 3/ 2010 206 Michaela Loskyll 3 Die eigene Biografie als bedeutsame Themenstellung Die Veränderungen im Verständnis von Lernen und Bildung, die dem Konzept künstlerischer Bildung zugrunde liegen, ziehen auch Konsequenzen im Bereich der Themenstellungen für die künstlerische Arbeit nach sich. Im traditionellen Kunstunterricht waren die gewählten Themen mehr oder weniger beliebig und auswechselbar, da sie ohnehin in erster Linie der Einübung formaler Prinzipien und künstlerischer Techniken dienten. Dagegen stehen im Rahmen künstlerischer Bildung insbesondere solche thematischen Schwerpunkte im Vordergrund, welche die Selbstbildungsprozesse der agierenden Subjekte begünstigen. Nach Kettel (2001, 437) zeigt der „künstlerische Prozess (…) das in ihm tätige Ich als einen Ort permanenter Veränderung. Identität ist hier ein Differenzierungsgeschehen mit prozessualem Charakter“. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Identitätsbegriff wäre an dieser Stelle wünschenswert, kann aber im Rahmen dieses Artikels nicht geleistet werden. Wenn im weiteren Verlauf von Identität die Rede sein wird, so beziehe ich mich dabei auf den Versuch einer Neubestimmung der Identität, wie ihn Wilhelm Schmid im Konzept der Kohärenz vorstellt. In diesem Modell werden unterschiedliche Aspekte eines vielfarbigen Ichs in einen wechselseitigen Zusammenhang gebracht, wobei durch die Annahme eines Kernbereichs einerseits eine gewisse Beständigkeit und gleichzeitig durch die Vorstellung weiterer peripherer Bereiche andererseits eine Öffnung für Andere und Anderes möglich wird (vgl. Schmid 1998, 250 - 258.) In unserem zunehmend medial beherrschten Zeitalter berührt die Frage „Wer oder was bin ich? “ die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen. Thematisch erscheinen die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und die Selbstentdeckung der eigenen Lebensgeschichte oder des eigenen körperlichen Erscheinungsbildes in diesem Zusammenhang vor allem im Unterricht mit Jugendlichen zu Beginn der Pubertät von besonderer Wichtigkeit. Denn die „Jugendzeit stellt einen Lebensabschnitt dar, in dem durch massive Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen dem Thema Identität eine zentrale Bedeutung zukommt“ (Laser/ Josephs/ Fuhrer 1999, 134). In dieser Zeit werden sich Jugendliche zum ersten Mal der Existenz von unterschiedlichen Selbstkonzepten bzw. multiplen Identitäten und der daraus resultierenden Widersprüche bewusst. Das Herstellen von Kohärenz (vgl. Schmid 1998, 250ff ), verstanden als Band, das die „vielen Aspekte des Ichs in einem vielfarbigen Selbst in einen wechselseitigen Zusammenhang bringt“ (Schmid 1998, 252), wird für viele Schülerinnen und Schüler an einer Förderschule dadurch zusätzlich erschwert, dass ihre bisherigen biografischen Erfahrungen häufig wiederholt durch Brüche, Misserfolge, Ablehnung, familiäre und soziale Unsicherheiten usw. geprägt waren. Durch die aktive und kreative Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit im Rahmen künstlerischer Tätigkeit eröffnen sich für die agierenden Subjekte Erfahrungsräume, in denen Selbstwirksamkeit und die Relevanz des eigenen Tuns direkt greifbar werden (vgl. Heyl 2008, 93). Künstlerische Bildung, die vor diesem Hintergrund den Beteiligten Möglichkeiten zur Reflexion und zum Aufbau eines kohärenten Selbstbildes im Sinne der Lebenskunst eröffnen will, muss entsprechende Prozesse der Selbstthematisierung dabei jedoch so initiieren, dass sie den agierenden Subjekten eine gewisse Distanzierung von der eigenen Person ermöglichen, um ihre Intimsphäre nicht zu verletzen (Sabisch/ Seyl 2004, 10). Die „selbstreflektorische Rück-Beziehung auf Erfahrungsmomente der eigenen Kindheit (…), als Selbst-Wahrnehmung fremdgewordener eigener Lebensvollzüge könnte (…) [in diesem Kontext] die (…) Identität des Übergangs, des Bruchs und der Multiplizität in he- VHN 3/ 2010 207 Passt mein „Ich“ in eine Kiste? terogenen und diskontinuierlichen Lebensverläufen ästhetisch-künstlerisch erfahrbar und lebbar werden lassen“ (Kettel 2001, 54). Für die (kunst-)pädagogische Arbeit mit Schülerinnen und Schülern in schwierigen Lebenslagen gewinnen daher insbesondere Themen, welche die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst betreffen, zunehmend an Bedeutung. Die explizite Ausrichtung auf die im künstlerischen Prozess agierenden Subjekte konkretisiert sich im Versuch, im Rahmen der künstlerischen Tätigkeit immer wieder Prozesse der Selbstbeobachtung, Selbstentfremdung und Selbstvergewisserung zu initiieren. Im Sinne der Aussage Arthur Rimbauds „Ich ist etwas Anderes, ich bin ein Anderer“ (zit. nach Stielow 2003, 142) muss ein veränderter Kunstunterricht dem Einzelnen im Rahmen künstlerischer Prozesse und mithilfe von verschiedenen künstlerischen Strategien ermöglichen, sich selbst als jemanden zu entdecken und zu verstehen, der mehr Möglichkeiten hat, als er bisher geahnt und aktiviert hat (vgl. Stielow 2003, 142). 4 Das künstlerische Projekt als Katalysator Für Kinder und Jugendliche mit negativen Bildungserfahrungen eröffnet die künstlerische Arbeit in diesem Zusammenhang ein weites Feld zur Entfaltung und Übung eines eigenaktiven, selbstverantworteten Lernens und der damit verbundenen Stärkung des eigenen Selbstbildes, das vor dem Hintergrund ihrer individuellen Biografie und ihrer durch Misserfolge geprägten schulischen Laufbahn häufig stark verunsichert ist. Interessante und lebensbedeutsame Themenstellungen bilden in der künstlerischen Arbeit einen Rahmen, in dem die Kinder und Jugendlichen auf der Grundlage eigenständiger thematischer Recherchen und Kontextbildungen eine eigene Position entwickeln können, die in der selbstständigen Erzeugung von Bedeutung im Werkkontext mündet. Außerdem bietet sich im künstlerischen Projekt ein experimenteller Möglichkeitsraum, in dem die Übernahme von Verantwortung für die eigene Arbeit erprobt werden kann. Im Sinne des von Buschkühle skizzierten Verständnisses des künstlerischen Projekts (vgl. Buschkühle 2007, 168ff ) wird der lehrerzentrierte Unterricht in weiten Teilen entbehrlich, und es stehen Formen der Einzel- und Gruppenarbeit im Vordergrund. Eine Auflösung der traditionellen Unterrichtsstrukturen im Rahmen der Projektarbeit ermöglicht es in besonderem Maße, der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler bezüglich ihrer Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen Rechnung zu tragen, ohne dass dabei das gemeinsame Lernen und die soziale Interaktion vernachlässigt werden, denn hier werden neben Eigeninitiative, Anstrengungsbereitschaft und Durchhaltevermögen auch soziale Kompetenzen gefordert und gefördert. 5 Der persönliche Gegenstand als bedeutungsstiftendes Element Ein möglicher Zugang, der mit Blick auf die konkreten Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen zehn und dreizehn Jahren, mit denen ich in der pädagogischen Praxis an einer Förderschule künstlerisch arbeite, besonders interessant erschien, war die indirekte Arbeit an der eigenen Biografie. Die Thematisierung des Selbst in Verbindung mit der identitätsrelevanten Bedeutsamkeit der Dinge (vgl. Laser/ Josephs/ Fuhrer 1999, 138), mit denen wir uns umgeben, eröffnet im Rahmen der künstlerischen Arbeit eine Vielzahl von Reflexionsmöglichkeiten bezüglich der eigenen Person und Lebensgeschichte oder in Bezug auf gesellschaftliche Aspekte (z. B. Konsumgewohnheiten, Gruppenzwänge usw.). Objekten, die zur Kennzeichnung der persönlichen Einzigartigkeit oder zur Darstellung der sozialen Zugehörigkeit genutzt werden, kommt in diesem Zusammenhang ebenso eine VHN 3/ 2010 208 Michaela Loskyll besondere Bedeutung zu wie Erinnerungsobjekten oder Dingen, von denen sich der Einzelne abgrenzt. Die so über das Medium der Dinge initiierten „Prozesse der Bewusstwerdung und des Ernstnehmens eigener Erfahrungsgeschichte sind notwendige Voraussetzungen (…) für die Erweiterung des eigenen Selbst- und Weltbildes“ (Niesemeier zit. n. Kämpf-Jansen 2001, 199). Im künstlerischen Prozess bieten sich dem Einzelnen vielfältige Möglichkeiten, die Erinnerungsbilder, die mit den jeweiligen Gegenständen verknüpft sind, im Rahmen der Gestaltungsarbeit in neue (Identitäts-)Konzepte zu transformieren. Das gemeinsame Rahmenthema ermöglicht den Schülerinnen und Schülern im Prozess künstlerischer Selbstverortung einerseits eine gewisse Orientierung. Die bewusst offen gewählte Themenstellung erlaubt ihnen aber andererseits dennoch, den Gegenstand ihrer Auseinandersetzung selbst zu wählen, das leblose Ding mit subjektiver Bedeutung zu füllen und somit eigene Interessenschwerpunkte zu setzen. 6 Ausschnitte aus der künstlerischen Projektarbeit - Exemplarische Darstellung individueller künstlerischer Auseinandersetzung Angeregt von meiner ganz persönlichen Erfahrung im Rahmen eines Umzugs, bei dem ich all meine persönlichen Gegenstände, die Repräsentanten meines bisherigen Lebens, in eine Kiste packen musste, entstand die Idee für das künstlerische Projekt „Passt mein Ich in eine Kiste? “ Ausgangspunkt der gemeinsamen künstlerischen Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern war eine alte Kiste mit einer Vielzahl scheinbar unzusammenhängender Gegenstände: ein Schlüssel, ein paar Milchzähne, eine Kette, ein zerbrochener Ring, eine Locke, ein kleines Spielzeugtier, eine Mundharmonika, eine alte Geldmünze … Die aus diesem stillen Impuls resultierende intensive Betrachtung und hitzige Diskussion konfrontierte die Schülerinnen und Schüler unmittelbar mit der Frage nach dem Leben des Besitzers dieser Dinge. Die Schüler bildeten auf der Grundlage der konkret vorhandenen Dinge Hypothesen über Alter, Geschlecht und Lebensbedingungen der fiktiven Person. Dabei aktivierten sie gängige Lebensentwürfe und bekannte Stereotypien; die Gegenstände wurden im Gespräch aber auch zum Auslöser für sonst in der Klasse eher tabuisierte Themen wie Verlust, Krankheit und Tod. Die zunächst belanglos erscheinenden Dinge wurden in der gemeinsamen Interaktion zur Projektionsfläche für Wünsche, Fragen und Ängste in Bezug auf die eigene Existenz. In der anschließenden individuellen biografischen Spurensuche und Spurensicherung trugen die Schülerinnen und Schüler eine Vielzahl von Fundstücken aus der eigenen Vergangenheit zusammen und traten über diese mitgebrachten Dinge in einen kommunikativen Austausch mit sich selbst und mit anderen. Sie ordneten, sortierten und arrangierten ihre Fundstücke zu Assemblagen in kleinen Kisten, die in einer strengen Komposition zu einem Gemeinschaftswerk der Klasse zusammengefügt wurden. „Dass Selbstreferentialität nicht allein vom einzelnen Individuum, sondern durchaus in der intersubjektiven Interaktion“ (Kettel 2002, 83) entstehen kann, wird am Beispiel der künstlerischen Auseinandersetzung von Sandra 1 mit dem Thema Spurensuche deutlich. Der Zwölfjährigen, die im Verlauf ihrer bisherigen Biografie immer wieder in verschiedenen Heimen gelebt hat und die nur wenig Zeit bei ihrer Familie verbringen konnte, fällt die Aufgabe, „eigene“ Gegenstände aus der Vergangenheit zu sammeln und mitzubringen, sehr schwer. Zunächst umgeht sie die Anforderung und gibt an, die Dinge zu Hause vergessen zu haben. Bereits im Abschlussgespräch der folgenden Stunde verbalisiert sie jedoch für mich überraschend vertrauensvoll ihr Problem: „Ich habe gar keine Sachen von früher, weil ich ja nicht zu Hause VHN 3/ 2010 209 Passt mein „Ich“ in eine Kiste? wohne. Die haben nix davon aufgehoben.“ Die Reaktion der Klasse auf dieses Problem verblüfft Sandra und mich gleichermaßen. Die Schüler nehmen eine „Bestellung“ der Gegenstände auf, die Sandra gerne mitgebracht hätte und bringen am nächsten Tag für Sandras Kiste „Platzhalter“ mit: einen Ersatzschnuller, ein Kuscheltier und Kinderkleidung. Sandra arrangiert diese fremden Dinge in ihrer „Ich“-Kiste und füllt sie damit mit „fremdem“ Leben. In den folgenden Wochen sucht Sandra, die bislang nur wenig Interesse an ihren Mitschülern gezeigt hat, zunehmend den Kontakt zu Anna, eine der Mitschülerinnen, die ihr Gegenstände für ihre Kiste mitgebracht haben. Dabei entschließt sie sich, für die weitergehende biografische Arbeit nicht ihr eigenes Leben, sondern das der Mitschülerin zum Thema ihrer Gestaltungsarbeit zu machen. Sie sammelt weitere Gegenstände, Fotos und Informationen zur Kindheit der Mitschülerin, sie führt Interviews mit ihr und bündelt diese Zeugnisse der fremden Biografie in einem Buch, das mit dem Gipskonterfei des Mädchens und einigen geschwärzten Seiten für die Geheimnisse, die keiner erfahren soll, für beide Schülerinnen einen besonderen Stellenwert bekommt. Im weiteren Verlauf des Schuljahres wird das Thema Biografie im Rahmen einer Einheit zum Thema Selbstdarstellung aufgegriffen und vertieft. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich zu dieser Zeit besonders intensiv mit medialen Bildern ihrer Stars, wobei für die Mädchen das Kriterium Schönheit und für die Jungen Coolness im Vordergrund steht. Um in der künstlerischen Selbstdarstellung diese Stereotypen zunächst aufzugreifen, später aber aufbrechen zu können, bilden in der folgenden Phase Fotoportraits der Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Grimassen den Ausgangspunkt für eine Serie von Fotoübermalungen. Diese Aufgabenstellung führt die Jugendlichen zunächst unbewusst zu einer gestalterischen Arbeit an der eigenen Identität im doppelten Sinne: Durch die Veränderung der Fotos schaffen die Jugendlichen eine individuelle Aussage im Werk, in der es ihnen zunehmend gelingt, stereotype Darstellungen von Schönheit oder Coolness zu überwinden, und gleichzeitig gestalten sie ihr jeweils eigenes Bild von sich selbst gedanklich neu, verändern ihr Abbild nach ihren Wünschen und Vorstellungen - zum Teil bis zur Unkenntlichkeit der eigenen Person. Am Beispiel von Christoph werden dabei auch Schwierigkeiten sichtbar, denen sich die Schülerinnen und Schüler in der künstlerischen Arbeit aussetzen, wenn sie über einen Zeitraum von mehreren Wochen hinweg „über sich und an sich selbst intensiv (…) arbeiten, nachdenken, sich - individuell oder in der Gruppe - zu sich selbst, zur eigenen entstehenden Arbeit immer wieder selbst-kritisch verhalten müssen“ (Kettel 2002, 81). Bereits nach den ersten beiden für ihn nicht sehr befriedigenden Versuchen der Fotoübermalung und -zerschneidung möchte Christoph zunächst nicht weiter am Projekt teilnehmen. Während seine Mitschüler an ihren Fotos arbeiten, zieht er sich regelmäßig ins Klassenzimmer zurück und arbeitet dort an anderen Aufgaben. Vom Interesse an der Arbeit seiner Mitschüler getrieben, kommt er aber immer wieder zur Gruppe zurück und beteiligt sich durch interessante Impulse und kritische Kommentare an der Gestaltungsarbeit seiner Mitschüler und entdeckt dabei neue Anknüpfungspunkte und Ideen für die eigene Arbeit. An diesen Suchprozessen von Christoph wird ein Charakteristikum der künstlerischen Arbeit besonders deutlich: Im schöpferischen Prozess befindet sich das Individuum in einer ständigen Bewegung zwischen den Polen des Scheiterns und des Gelingens, zwischen Resignation und Motivation (vgl. Buschkühle 2003, 37). Nur durch die Freiräume, den eigenen künstlerischen Prozess auch einmal selbstbestimmt unterbrechen zu dürfen, und durch den kommunikativen Austausch mit anderen am Prozess Beteiligten (Schülern und Lehrern) gelingt es Christoph, sein Interesse an der Auseinandersetzung mit der Aufgabenstellung wieder zu gewinnen. Am Ende dieser Einheit entwickelt dieser Schüler, der im bisherigen VHN 3/ 2010 210 Michaela Loskyll Kunstunterricht die Arbeit mit Farbe entweder generell verweigert oder seine Bilder immer komplett geschwärzt hat, in der experimentellen Veränderung seiner eigenen Fotografien mittels unterschiedlicher künstlerischer Techniken zunehmend Freude am Umgang mit dem eigenen Bild. Die positive Rückmeldung seiner Mitschüler, die sein Portrait als Titelbild für die entstandene Bildersammlung auswählen, erfüllt ihn am Ende sichtbar mit Stolz. In anschließenden künstlerischen Projekten arbeitete Christoph bevorzugt im Bereich der Malerei. 7 Bilanzierung und Ausblick In der künstlerischen Gestaltungsarbeit bietet sich insbesondere auch für Kinder und Jugendliche mit schwierigen Bildungsbiografien ein einzigartiger Freiraum zur spielerischen Erprobung und Übung wesentlicher Fähigkeiten, die für eine gelingende Lebensführung in unserer heterogenen Gesellschaft wichtig sind, z. B. Kritikfähigkeit, Anstrengungsbereitschaft, Eigeninitiative, Positionierungs- und Kommunikationsfähigkeit. Mit Blick auf die durch zahlreiche Brüche und Ungewissheiten geprägte Biografie vieler Schülerinnen und Schüler an einer Förderschule sind im künstlerischen Prozess meiner Meinung nach darüber hinaus „gerade die Momente des Scheiterns oder der Notwendigkeit, eigene Wege zu erfinden, umzuleiten oder neu zu entwerfen“ (Blohm 2002, 51) besonders bedeutsam. Diese Momente der Persönlichkeitsbildung sind universell und bieten Entwicklungsanreize für jeden Schüler - unabhängig davon, welche Schule er besucht. So zeigten beispielsweise die Schülerinnen und Schüler einer vierten Klasse an einer Schule für Körperbehinderte, mit denen meine Kollegin Vesna Neidenberger parallel am selben Thema gearbeitet hat, in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie eine erstaunliche Offenheit im Austausch über positive wie negative Kindheitserlebnisse (z. B. lange Krankenhausaufenthalte). In der werkprozessorientierten Didaktik künstlerischer Bildung finden die Schülerinnen und Schüler ein weites Feld an individuellen Zugangsmöglichkeiten, die auch nicht an der Norm orientierte Wege und - aufgrund der methodischen Offenheit - eigene Ausdrucksmöglichkeiten möglich machen. Die Ergebnisse der Gestaltung können im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs als Werke bestehen, ohne dafür auf Vergleiche mit der Altersnorm oder auf das Konstrukt der „Behindertenkunst“ zurückgreifen zu müssen. Ein derart veränderter Kunstunterricht kann es insbesondere Schülerinnen und Schülern in Risikosituationen im Rahmen künstlerischer Prozesse und über verschiedene künstlerische Strategien ermöglichen, sich selbst als jemanden zu entdecken und zu verstehen, der mehr Möglichkeiten und Potenzial hat, als er bisher geahnt und aktiviert hat. Anmerkung 1 Die Namen der Schülerinnen und Schüler wurden geändert. Literatur Blohm, M. (2002): Biografiearbeit, Didaktik und ästhetische Praxis. Reflexionen über ein schwieriges Verhältnis. In: Blohm, M. (Hrsg.): Berührungen und Verflechtungen. Biografische Spuren in ästhetischen Prozessen. Köln: Salon, 39 - 54 Buschkühle, C.-P. (2003): Konturen künstlerischer Bildung. In: Buschkühle, C.-P. (Hrsg.): Perspektiven künstlerischer Bildung. Köln: Salon, 19 - 44 Buschkühle, C.- P. (2007): Die Welt als Spiel. Band 2: Kunstpädagogik: Theorie und Praxis künstlerischer Bildung. Oberhausen: Athena Heyl, T. (2008): Phantasie und Forschergeist. Mit Kindern künstlerische Wege entdecken. München: Kösel Kämpf-Jansen, H. (2001): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon Kettel, J. (2001): SelbstFREMDheit. Elemente einer anderen Kunstpädagogik. Oberhausen: Athena VHN 3/ 2010 211 Passt mein „Ich“ in eine Kiste? Kettel, J. (2002): Selbstreferenz als biografische Arbeit in künstlerischen Bildfindungsprozessen. In: Blohm, M. (Hrsg.): Berührungen und Verflechtungen. Biografische Spuren in ästhetischen Prozessen. Köln: Salon, 69 - 84 Laser, S.; Josephs, I. E.; Fuhrer, U. (1999): Die Bedeutung der Dinge für die Identität Jugendlicher. In: Fuhrer, U.; Josephs, I. E.: Persönliche Objekte, Identität und Entwicklung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 134 - 147 Mand, J. (2003): Lern- und Verhaltensprobleme in der Schule. Stuttgart: Kohlhammer Sabisch, A.; Seydel, F. (2004): Biografieren. Biografische Prozesse im Kunstunterricht. In: Kunst und Unterricht, 4 - 10 Schmid, W. (1998): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Schmid, W. (2003): Schule der Lebenskunst. In: Buschkühle, C.-P.: Perspektiven künstlerischer Bildung. Köln: Salon, 47 - 58 Stielow, R. (2003): Problemfelder und Schlüsselprobleme einer künstlerischen Kunstpädagogik in der Schule der Zukunft. In: Buschkühle, C.-P. (Hrsg.): Perspektiven künstlerischer Bildung. Köln: Salon, 141 - 158 Michaela Loskyll Friedensstraße 2 D-69198 Schriesheim