eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2010
793

Dialog: Misstrauen hemmt die Lust am Tun

71
2010
Urs Haeberlin
Ernst Suter
Lieber Ernst, vor einigen Tagen hat mir ein Wissenschaftskollege - Universitätsprofessor für Pädagogik im Ruhestand, besonders bekannt für seine Untersuchungen zur Entwicklung des moralischen Urteils - als guten Wunsch zum Neuen Jahr geschrieben: „Kämpf weiter und lass dich von Fachkollegen niemals zerstören!“ Dem fügte er den rätselhaften Ratschlag an, ich solle einen Bestseller schreiben, der den Titel trage „Der Neid als Kerngeschäft menschlicher Finsternis“.
5_079_2010_003_0249
249 VHN, 79. Jg., S. 249 - 253 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art21d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Misstrauen hemmt die Lust am Tun Ein Mail-Wechsel über Vertrauen und Misstrauen in der Erziehung und im Umgang zwischen Erwachsenen Urs Haeberlin Freiburg Ernst Suter Greifensee Dialog E-Mail vom 15. Januar 2010  Lieber Ernst Vor einigen Tagen hat mir ein Wissenschaftskollege - Universitätsprofessor für Pädagogik im Ruhestand, besonders bekannt für seine Untersuchungen zur Entwicklung des moralischen Urteils - als guten Wunsch zum Neuen Jahr geschrieben: „Kämpf weiter und lass dich von Fachkollegen niemals zerstören! “ Dem fügte er den rätselhaften Ratschlag an, ich solle einen Bestseller schreiben, der den Titel trage „Der Neid als Kerngeschäft menschlicher Finsternis“. Ich kann in dieser rätselhaften Wendung mehrere Knoten nicht auflösen. Was ist mit „menschlicher Finsternis“ gemeint? Das positive Gegenteil von einer solchen negativ erscheinenden menschlichen Eigenschaft wäre die „menschliche Heiterkeit“. Wenn Neid das Kerngeschäft menschlicher Finsternis ist, dann müsste das Kerngeschäft menschlicher Heiterkeit das Gegenteil von Neid sein. Das Gegenteil würde ich annäherungsweise als Akzeptanz bezeichnen. Je mehr ich über die Bedeutung des Ratschlags brüte, umso weniger kann ich das in ihm versteckte Rätsel auflösen. Häufig nehme ich in solchen Fällen Beispiele zu Hilfe. Könnte Folgendes vielleicht ein Beispiel sein, auf welches sich der Ratschlag beziehen lässt: Weil ein Wissenschaftskollege Neid darüber empfindet, dass ich als sein Fachkollege mit meinen publizierten Forschungen Erfolg habe, denkt er im Sinne des Neids als Kerngeschäft nur noch darüber nach, wie er mir den Erfolg vermiesen kann? Deshalb würde er dann eine negative moralische Qualifizierung verdienen, nämlich „menschliche Finsternis“. Wenn er aber meinen Erfolg akzeptieren und sich mit mir zusammen darüber freuen und mir seine Freude an meinem Erfolg zeigen würde, dann würde ihm eine positive moralische Qualifizierung gebühren, nämlich menschliche Heiterkeit. Wenn dieses Beispiel eine angemessene Konkretisierung der rätselhaften Wendung ist, dann müsste man eigentlich eine zufriedenstellende Erklärung dafür finden, warum Neid eine moralisch weniger gute Gefühlsregung ist als Akzeptanz. Und noch komplizierter wird es, wenn ich wissen möchte, ob das als Akzeptanz interpretierte Verhalten eines Fachkollegen ein gespieltes und die Neid-Regung verhüllendes Getue ist, das ich nur erkennen kann, wenn ich selbst auf eine moralisch tiefere Stufe steige, nämlich vom Vertrauen in meinen Partner zum Misstrauen wechsle. Wenn die Akzeptanz aber nicht gespielt, sondern echt sein sollte, dann tue ich mit meinem Misstrauen moralisch Unrecht. Und das ist dann aus der Sicht einer dialogischen Pädagogik wiederum etwas vom Schlimmsten, was geschehen kann. In deinem pädagogischen Denken gehst du sicher mit mir einig: Jemandem zu misstrauen, der eigentlich Vertrauen verdient hätte, ist VHN 3/ 2010 250 Urs Haeberlin, Ernst Suter wahrscheinlich ein menschlicher und pädagogischer Kapitalfehler. Auf diese Weise werden vermutlich viele Seelen von Kindern und Jugendlichen - aber auch von Erwachsenen - so zerstört, dass sich die Menschheit nie moralisch verbessern kann. Falls du aus pädagogischer Sicht dem zustimmen kannst, dann stellt sich natürlich eine weitere Grundfrage: Kann und soll man pädagogische Selbstverständlichkeiten des dialogischen Umgangs mit Anderen auf Situationen außerhalb des Pädagogischen, also beispielsweise den Umgang mit anderen Wissenschaftlern übertragen? Und falls man dies nicht tun kann und soll, dann bleibt eine weitere schwierige Frage offen: Nach welchen Kriterien grenze ich eine Situation, in welcher mein Partner das absolute Vertrauen verdient, von einer Situation ab, in welcher Misstrauen moralisch gerechtfertigt ist und die Integrität meines Partners nicht verletzt? Sicher erinnerst du dich aus deiner Zeit als Lehrer an Ereignisse beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen, bei welchen das Dilemma zwischen dem Ideal des absoluten Vertrauens als höchste pädagogische Notwendigkeit und real empfundener Notwendigkeit des Misstrauens besonders deutlich spürbar war? Wie bist du in deiner langen pädagogischen Praxis mit diesem Dilemma umgegangen? Das würde mich sehr interessieren. Vielleicht auch anhand von konkreten „Fällen“. Herzliche Grüsse Urs E-Mail vom 18. Januar 2010  Lieber Urs Du lädst mich zu einer Auseinandersetzung mit „Vertrauen und Misstrauen“ aus dem Blickwinkel des pädagogischen Praktikers ein. Beides sind Haltungen, welche die erzieherische Beziehung entscheidend prägen. Mit dir halte ich es für einen menschlichen Kapitalfehler, jemandem zu misstrauen, der Vertrauen verdient hätte. Nur - wer verdient denn Vertrauen? Bin ich als Lehrer meinen Schülerinnen und Schülern gegenüber nicht überhaupt zu Vertrauen verpflichtet? Und wo sich dem Ideal des absoluten Vertrauens die Notwendigkeit des Misstrauens gegenüberstellt, wie du es formulierst? Du rätst zu Beispielen - ein Schüler belügt mich nachweisbar. Ich weiß, dass ich ihm weitere Lügen zutrauen muss. Seiner Redlichkeit ist aufgrund von Erfahrungen nicht zu trauen. Kann ich seine Unverlässlichkeit im Umgang mit der Wahrheit in meiner vertrauenden Haltung mitberücksichtigen? Vielleicht indem ich klarstelle, dass ich auch künftig nicht sicher sein werde, ob er mich anlügt oder nicht. Ich lasse ihn aber gleichzeitig spüren, dass ich trotzdem auch damit rechne, dass er Recht haben könnte. Dabei nehme ich seine Not ernst, die ihn möglicherweise zum Lügen veranlasst hat. Wahrscheinlich hat er je wenig Vertrauen erfahren. Wenn ich ihm darlege, dass ich sicher glaube, was ich sehe, werden wir Gelegenheit finden, Vertrauen zu rechtfertigen, weil er dann bewusst so handeln kann, wie er sagt, während ich es beobachte. Meine Zuwendung schafft die Voraussetzung für das Vertrauen. Misstrauen wäre demgegenüber Entzug ernst nehmender Anteilnahme und redlicher Akzeptanz. Nicht ob der Schüler mein Vertrauen verdient, ist maßgebend, sondern ob mein Vertrauen dem Schüler zu Redlichkeit zu verhelfen vermag. Ob es ihm Wege öffnet, glaubwürdig zu sein. Erziehung ist Beziehungsarbeit und als solche daran orientiert, einander ernst zu nehmen, und zwar im Gelingen und im Versagen. Eine Schülerin behauptet, sich bei einer Arbeit Mühe gegeben zu haben. Ich weiß, dass ein ihr mögliches Sich-Mühe-Geben ein besseres Ergebnis zur Folge gehabt hätte. Vielleicht hat sie sich Mühe geben wollen. Wertend halte ich fest: Der Erfolg blieb aus, weil die Bemühung nicht gelang. Der Schülerin soll vermittelt werden, dass ich auf ihr Bemühen vertraue. Ihre Leistung wird nicht als Erfolg akzeptiert, weil das Bemühen misslang. Wo ich als Lehrer VHN 3/ 2010 251 Misstrauen hemmt die Lust am Tun gleichzeitig auf die Möglichkeit eines Erfolgs vertraue, eröffne ich der Schülerin eine Chance, sich redlich zu bewähren (selbstverständlich muss ihr dabei ein Gelingen zugemutet werden können). Beim Vertrauen geht es um Redlichkeit, und zwar von beiden Seiten. Der Vertrauende darf sein Gegenüber nicht an seinen Erwartungen messen, sondern muss akzeptieren lernen, was ihm entgegenkommt. Im Idealfall mag dies ein redliches Verhalten sein, aber auch als ein unredliches bleibt es zuzutrauen. Oft weist ein solches ja gerade auf Nöte hin, die darauf zurückzuführen sind, dass es an Vertrauenserfahrungen mangelt. Erlebtes Misstrauen begünstigt die Schummelei. Wer Kinderverhalten interpretiert, kommt nicht darum herum, ein auffallendes Bedürfnis nach Vertrauen festzustellen. Diesem entwicklungsfördernd Rechnung zu tragen, verlangt vom Erziehenden eine Haltung des Zutrauens, die weder übernoch unterfordert. Ihr wohl wesentlichstes Merkmal müsste die Bereitschaft sein, Kinder mit Aufmerksamkeit ernst zu nehmen in ihrem Verhalten, aus welchem sich ihre Lebenserfahrungen herauslesen und ihre Förderungsbedürfnisse ableiten lassen. Dabei spielen Vertrauen und Misstrauen eine zentrale Rolle, über die weiter nachzudenken bleibt, gerade auch im Hinblick auf den Umgang mit Erwachsenen. So viel zunächst. Mit herzlichen Grüssen Ernst E-Mail vom 22. Januar 2010  Lieber Ernst Wenn ich mich an meine mehr als vierzig Jahre zurückliegende Praxis als Lehrer erinnere, laden mich deine Beispiele zur voll überzeugten Zustimmung ein. Ich habe mir damals Mühe gegeben, mit ähnlichen Vorsätzen ein Klima des gegenseitigen Vertrauens in „meiner“ Schulklasse zu schaffen. Ich war davon überzeugt, dass Kinder von Grund auf vertrauen und dass Misstrauen von Kindern gegenüber erziehenden Erwachsenen immer auf deren Fehler zurückgeht. Und in der heilpädagogischen Ausbildung hatte uns Paul Moor gelehrt, dass das gegenüber einem Kind durch falsches bzw. eigenes unredliches Verhalten verlorene Vertrauen ganz schwer wieder zurückzugewinnen ist und dass man in diesem Fall nicht mehr machen kann, als geduldig und vertrauend zu warten, bis sich das Vertrauen seitens des Kindes wieder einstellt. Wenn ich mir aber überlege, ob eine solche von aller Gesellschafts- und Bildungskritik gelöste dialogische Sichtweise von schulischen Verhältnissen nicht auch zu teilweiser Blindheit gegenüber den Realitäten im öffentlichen Bildungswesen führen könnte, werde ich unsicher. Mir drängt sich dann die Frage auf, ob das Postulat „Erziehung ist Beziehungsarbeit“ als gelebte Realität auf die aktuelle Situation der öffentlichen Schulen zutrifft und ob sie von den an Schule interessierten Eltern, Politikern und Meinungsmachern als Maßstab zur Beurteilung der Güte einer Schule und der darin agierenden einzelnen Lehrer und Lehrerinnen so gesehen wird. Zum einen hat sich gegenüber meiner vor vierzig Jahren als Lehrer erlebten Schulpraxis die Situation in Primarschulklassen, ja, teilweise auch schon im Kindergarten, deutlich verändert: ich wäre nämlich heute nicht mehr der Lehrer in Beziehung zu den Kindern in meiner Klasse, sondern ich müsste diese Beziehung mit mehreren anderen Lehrpersonen teilen. Zum andern wird von vielen Eltern und Politikern als Hauptfunktion der Schule die Vergabe der Ausgangschancen für beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg gesehen. Es hat immer herkunftsbedingte Chancenungleichheiten bei der schulischen Karriere gegeben und es gibt sie natürlich auch heute. Die benachteiligenden Faktoren haben sich allerdings etwas verschoben - nämlich von der Sozialschichtzugehörigkeit, der Stadt-Land- Herkunft und der Geschlechtszugehörigkeit hin zur nationalen bzw. ethnischen Herkunft. VHN 3/ 2010 252 Urs Haeberlin, Ernst Suter Was sich aber in den vierzig Jahren grundlegend verändert hat, ist Folgendes: Während früher vorwiegend Eltern aus der bildungsnahen Mittel- und Oberschicht um den Erhalt der schulischen Chancen für das Berufsleben ihrer Kinder kämpften, ist heute die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg ihrer Kinder mittels höchstmöglichen Bildungserfolgs bei Eltern aller sozialen Schichten verbreitet. Aber noch viel stärker verändernd auf das Schulklima wirkt wahrscheinlich der Umstand, dass das Postulat der Chancengleichheit durch Bildung in vielen parteipolitischen Programmen enthalten ist. Schule wird unter diesem politischen Druck vielleicht noch mehr als unter dem Druck der Eltern zu einem „Wettkampfstadion“. Wie sich die Wettkampfrealität im Bildungswesen in Zukunft auf den Umgang mit trotz zusätzlicher Förderung schulschwachen Kindern und Jugendlichen und mit beruflich erfolglosen jungen Erwachsenen auswirken wird, wage ich nicht vorauszusagen. Diese neue Schulrealität wirkt sich wahrscheinlich auf unser Ideal vom dialogischen Verhältnis im pädagogischen Raum der Schule wie auch im Erwachsenenbereich aus. Es deutet nämlich einiges darauf hin, dass vorbehaltloses Vertrauen in andere Menschen für Erfolg und Aufstieg in vielen Bereichen des Berufslebens und des übrigen gesellschaftlichen Lebens hindernd ist oder sogar zerstörend sein kann. Interessant ist, dass schon Heinrich Hanselmann, der Begründer der modernen Heilpädagogik, in seinem autobiografischen Jakobli-Roman beschrieben hat, wie Jakobli sich mit seinem blinden Vertrauen als dumm vorkam, nachdem er eines Tages entdeckt hatte, dass er viel besser durchs Leben kommt und mit den Erwachsenen weniger Zusammenstösse hat, wenn er sich ihnen gegenüber verstellt und nicht das sagt, was er eigentlich denkt. Mit seiner Teilung in ein inneres Ich und in ein „Verkehrs-Ich“ ebnete er sich den Weg in ein späteres erfolgreiches Erwachsenenleben. Hanselmann betrachtete dies zwar damals als Fehlentwicklung, weil die Teilung eben gegen die von ihm hoch gewertete dialogische Haltung läuft. Aber ein Blick auf die heutige Realität im Berufsleben zeigt, dass Aufstieg und Erfolg neben anderem auch die Fähigkeit verlangen, sich verstellen zu können, mit Misstrauen den verborgenen Taktiken von Konkurrenten auf die Spur kommen zu können und sich das „richtige“ Image geben zu können. Das bedeutet aber, dass unser Ideal vom dialogischen Vertrauen als Hindernis für die von den meisten Eltern erhofften beruflichen Chancen gedeutet werden müsste. Mir graut richtig vor diesem Ergebnis meiner Überlegungen. Und ich komme zum Schluss, dass ich nicht wüsste, ob und wie ich heute in der Praxis als Lehrer das Dilemma zwischen dem für mich hohen Wert des Dialogischen und der Realität des „Erfolgs durch Lügen, Sich-Verstellen und Vorspiegeln“ verkraften könnte. Herzliche Grüsse Urs E-Mail vom 26. Januar 2010  Lieber Urs Ob ich das von dir diagnostizierte Dilemma zwischen dem Ideal des Dialogischen und der Realität des Erfolgs durch „Verstellung“ verkraften könnte? Deine von Zweifeln gezeichnete Schlussfrage aufnehmend, wage ich die Antwort: Ich meine, nur im Festhalten an der Überzeugung, dass mein persönliches Vermögen zu vertrauen, Vertrauen zu schaffen und zu fördern wichtiger bleibt als jede Fähigkeit in der Schulung aller Taktiken der Erfolgsoptimierung. (Vielleicht gelingt so auch mehr Heiterkeit in gegenwärtigen Finsternissen.) Vertrauen bleibt für mich Beziehungsqualität und damit Erziehungskompetenz, auch wo Schulreformen Lernende und Lehrende geradezu in ein Beziehungschaos stürzen lassen und mit den gleich gewichteten Postulaten „Individualisierung“ und „Teamarbeit“ verwirrende Widersprüch- VHN 3/ 2010 253 Misstrauen hemmt die Lust am Tun lichkeiten schaffen. Mir scheint, da werden Arbeitsformen und Strukturen des Zusammenlebens aus der Erwachsenenwelt viel zu unbedacht einfach in Schulorganisationen hineinkopiert. Hinzu kommt, dass heute von den Schulen die ungebührlich überhöhte Bedeutung von Beruf und Sozialstatus bedenkenlos übernommen wird. Die in diesen Feldern bis zum Überdruss grassierende „Imagepflege“ ist unter Kindern und alten Menschen weder üblich noch nötig. Aber - so interpretierst auch du die heutige Schulrealität - unter der politischen Flagge „Chancengleichheit“ segeln wir rücksichtslos höchstmöglichen Bildungserfolgen entgegen, geraten dabei in eine Atmosphäre der „Wettkampfstadien“ und meinen, dabei vorab Taktiken des Sich-Verstellens entwickeln zu müssen. Allein am Gelingen der Profilierung und Selbstinszenierung interessiert, schichten viele Schulen nur noch Bausteine für eine Karrierenpyramide aufeinander und vernachlässigen dabei sträflich eine ausgleichende Gemüts-, eine ganzheitliche Menschenerziehung. Immer mehr Lehrpläne konkurrenzieren sich untereinander wie Warenhauskataloge, wobei die Preisangaben als Zeitbudgets daherkommen. Das heutige Bildungsideal gleicht einem Abbild käuflichen Reichtums an Wissen und Leistungsvermögen. Wo da dem wissenschaftlich tätigen Pädagogen graut, droht dem Praktiker die Resignation. Allerdings soll sich das pädagogische Bemühen (nach Paul Moor) nicht einfach gegen das Vorhandene, sondern für das Fehlende einsetzen. Also gilt es zu überlegen, was denn angesichts einer unerfreulichen gegenwärtigen Wirklichkeit im Dienste einer besseren Möglichkeit als Zukunft zu unternehmen wäre. Das mich persönlich am meisten beunruhigende Merkmal heutigen Erziehungs- und Schulungsverständnisses ist die Gleichschaltung der Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern. Es fehlt nach meinen Beobachtungen unserer Zeit schlicht am Sinn für die Stufen menschlicher Entwicklung. Bezogen auf unsere Thematik sei beispielhaft darauf hingewiesen, dass Vertrauen und Misstrauen dem Kind wegweisende Lebenserfahrungen vermitteln. Sie prägen schon früh kindliches Verhalten, noch bevor willentliches Handeln möglich ist. Vertrauen bestärkt die Bereitschaft zu wagen, Misstrauen hemmt die Lust am Tun. So wird nicht nur das Gemüt, sondern ebenso die sich entwickelnde Willenskraft des Kindes beeinflusst. Der erwachsene Mensch hingegen versteht in der Regel, wahlweise zu wollen. Er traut, wo es ihm gerechtfertigt erscheint, er misstraut, wo er mit Enttäuschung zu rechnen hat. (Hier dürften auch Gunst und Missgunst ihre Wurzeln haben.) Aus unserer Diskussion leitet sich mir die Ansicht ab, im Blick auf die Zukunft wäre vermehrt Orientierung am Werdegang des Menschen nötig. Statt von der Erwachsenenwelt her einfach auf die Kinderwelt zu schließen, könnten wir Pädagogen ja ebenso gut unsere Orientiertheit von der Lebenssituation des Kindes her zu einer Sicht des Lebensnotwendigen und Lebenswerten entwickeln und daraus Schlüsse ziehen, wie die gegenwärtige Realität beeinflusst werden müsste - z. B. mit einer Wiederentdeckung der Vertrauenswürdigkeit im menschlichen Zusammenleben. So grüsse ich dich zuversichtlich und herzlich Ernst Prof. em. Dr. Urs Haeberlin Emeritierter Ordinarius für Heilpädagogik Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ Schweiz Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: urs.haeberlin@unifr.ch Ernst Suter Sonderschullehrer im Ruhestand Sandbüelstraße 30 CH-8606 Greifensee E-Mail: ernstsuter@ggaweb.ch