eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2010
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Was schulische Heilpädagoginnen über Lese-Rechtschreibschwierigkeiten denken. Eine qualitative Interviewstudie zur Analyse subjektiver Theorien

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2010
Markus Steffen
Anke Sodogé
Neun schulische Heilpädagoginnen wurden in problemzentrierten Interviews über ihr Wissen und ihre subjektiven Theorien zur Phänomenologie und zur Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sowie zur Förderung betroffener Kinder befragt. Besonders interessierte, inwiefern neuere Forschungsergebnisse über die Bedeutung der Unterrichtsgestaltung Eingang in die Praxis gefunden haben. Die Interviews wurden mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet und die subjektiven Theorien in zwölf Thesen reformuliert. Die Befragten hielten an der klassischen, in der Forschung aber sehr kritisch diskutierten Konzeption von LRS als Teilleistungsschwäche bei sonst normaler Intelligenz fest, gestalteten die Förderung mehrheitlich nicht sprachbezogen, sondern wahrnehmungsorientiert, unterschätzten den Faktor Unterrichtsqualität und schenkten somit neueren Strömungen in der Forschung relativ wenig Berücksichtigung.
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Fachbeitrag VHN, 79. Jg., S. 316 - 327 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art27d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 316 Was schulische Heilpädagoginnen über Lese-Rechtschreibschwierigkeiten denken. Eine qualitative Interviewstudie zur Analyse subjektiver Theorien Markus Steffen, Anke Sodogé Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich n Zusammenfassung: Neun schulische Heilpädagoginnen wurden in problemzentrierten Interviews über ihr Wissen und ihre subjektiven Theorien zur Phänomenologie und zur Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sowie zur Förderung betroffener Kinder befragt. Besonders interessierte, inwiefern neuere Forschungsergebnisse über die Bedeutung der Unterrichtsgestaltung Eingang in die Praxis gefunden haben. Die Interviews wurden mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet und die subjektiven Theorien in zwölf Thesen reformuliert. Die Befragten hielten an der klassischen, in der Forschung aber sehr kritisch diskutierten Konzeption von LRS als Teilleistungsschwäche bei sonst normaler Intelligenz fest, gestalteten die Förderung mehrheitlich nicht sprachbezogen, sondern wahrnehmungsorientiert, unterschätzten den Faktor Unterrichtsqualität und schenkten somit neueren Strömungen in der Forschung relativ wenig Berücksichtigung. Schlüsselbegriffe: Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, subjektive Theorie, phonologische Bewusstheit, schulische Heilpädagogik What do Special Education Teachers Know and Think About Reading and Writing Disorders? A Qualitative Interview Study for the Analysis of Subjective Theories n Summary: By means of problem-centred interviews, nine special education teachers have been questioned about their knowledge and their subjective theories concerning the phenomenology and the origin of reading and writing disorders as well as about the tuition and assistance of the children concerned. A matter of particular interest was the question to what extent recent research results about the relevance of instruction design have been adopted in practice. The interviews have been evaluated using the method of qualitative content analysis. By rephrasing the subjective theories into twelve theses, the following outcomes could be observed: The interviewed teachers adhered to the classical concept of reading and writing disorders as a partial disturbance of performance of children with normal intelligence, although this concept is highly queried in the scientific community. The interviewees mostly used a non-verbal, perception-oriented stimulation. They underestimated the parameter of teaching-quality. This indicates quite clearly that they did not pay enough attention to recent research results. Keywords: Reading and writing disorders, subjective theory, phonological awareness, special education teaching „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (Kurt Lewin) VHN 4/ 2010 317 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten 1 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten im Spannungsfeld von Theorie und Praxis Gravierende Probleme beim Erlernen von Lesen und Schreiben zählen mit einer Häufigkeit von 5 - 15 % zu den prominentesten schulischen Lernstörungen im deutschen Sprachraum (Hartmann 2007; Klicpera u. a. 2003). Betroffene Kinder können von erheblichen Leistungsbeeinträchtigungen und persönlichem Leidensdruck sowie vom Ausschluss der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe bedroht sein. Aktuelle Forschungsergebnisse zur Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen (z. B. Hartmann 2002, 2006; Küspert 1998; Schneider u. a. 1994; Schneider/ Küspert 2003) belegen, dass diese Schülergruppe in besonderem Maß auf einen „exzellenten Unterricht“ angewiesen ist, der auf forschungsbasiertem Fachwissen über einen didaktisch und methodisch effektiven Schriftsprachunterricht beruht (Hartmann 2007, 121). Der Einfluss der Unterrichtsqualität auf Schülerleistungen ist in der allgemeinen Unterrichtsforschung übrigens schon lange unstrittig (Helmke/ Weinert 1997; Helmke 2008). Bei der Umsetzung des Unterrichts kommt den schulischen Heilpädagoginnen 1 in der Schweiz eine Schlüsselrolle zu. Sie sind gemeinsam mit der Lehrperson für die Förderung von Schülerinnen mit Förderbedarf im Lesen- und Schreibenlernen im Unterricht verantwortlich. Für Praktikerinnen ist der Erwerb forschungsbasierten Wissens auf diesem Gebiet jedoch eine große Herausforderung, denn der aktuelle Erkenntnisstand zum Thema Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, auch „Legasthenie“, „Dyslexie“ oder „Lese-Rechtschreibschwäche“ (LRS) 2 , stellt sich als sehr heterogen dar. Die beteiligten Disziplinen (Medizin, Psychologie, Pädagogik, Sprachheilpädagogik, Neurowissenschaften u. a.) verwenden unterschiedliche Definitionen, Erklärungsmodelle und Förderkonzepte, was die wissenschaftliche Datenlage zwar vielschichtig, jedoch auch uneinheitlich und unübersichtlich macht (Klicpera/ Gasteiger-Klicpera 2007; Mand 2008, 54 - 76; Mannhaupt 2002; Strehlow/ Haffner 2002). Aufgrund der schweren Lesbarkeit der empirischen Forschungslage für Praktikerinnen sowie aufgrund unserer Erfahrungen mit Studierenden der schulischen Heilpädagogik gehen wir, übereinstimmend mit Klicpera u. a. (2003, 14), davon aus, dass neuere Forschungsergebnisse über die LRS bisher wenig Eingang in die Unterrichtspraxis finden. Empirische Untersuchungen zu dieser Frage liegen nach unserem Erkenntnisstand allerdings noch nicht vor. Im Rahmen eines an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich (2007 - 2009) durchgeführten Forschungsprojektes war es daher unser Ziel, Erkenntnisse über die subjektiven Theorien und das Fachwissen von schulischen Heilpädagoginnen über LRS zu gewinnen. Dazu haben wir neun praktizierende schulische Heilpädagoginnen in qualitativen Interviews über ihren Wissensstand und ihre subjektiven Theorien zu LRS befragt. Anschließend haben wir die aus den Interviews gewonnenen Hypothesen in einer Fragebogenerhebung an 1000 praktizierenden schulischen Heilpädagoginnen überprüft. Im vorliegenden Artikel stellen wir die Ergebnisse der Interviewstudie vor und diskutieren sie in Bezug auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, auf zukünftige Forschungsinteressen und Desiderate für die Praxis und die Ausbildung der schulischen Heilpädagoginnen. Eine kurze Erläuterung der Forschungsperspektive und -methode geht der Darstellung der Ergebnisse voraus. 2 Forschungsperspektive subjektive Theorien Mit der Erforschung subjektiver Annahmen und Theorien von Lehrpersonen und deren Einfluss auf den Unterricht beschäftigt sich modellhaft das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ (Groeben 1988). Subjektive Theorien sind eng verwandt mit dem angloamerikanischen Konzept der teachers beliefs (z. B. Kagan 1992). Beide Konstrukte beziehen sich auf im- VHN 4/ 2010 318 Markus Steffen, Anke Sodogé plizite, handlungsrelevante Kognitionen von (Lehr-)Personen zu einem Gegenstandsbereich. Sie sind nicht mit Wissensbeständen gleichzusetzen, beinhalten aber solche. Groeben (1988, 19) definiert den Begriff der subjektiven Theorie als „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt.“ Subjektive Theorien können „im Dialog-Konsens“ (z. B. in Interviews, Groeben 1988, 19) aktualisiert und expliziert werden. In unserer Untersuchung interessierten die impliziten und handlungsrelevanten Kognitionen von schulischen Heilpädagoginnen über den Gegenstandsbereich LRS. 3 Zur Forschungsmethode Zur Erhebung der subjektiven Theorien wurden problemzentrierte Interviews (Mayring 1999, 50f ) mit neun schulischen Heilpädagoginnen durchgeführt. Die interviewten Heilpädagoginnen verfügten über ein Diplom in schulischer Heilpädagogik und mindestens fünf Jahre Berufserfahrung auf der ersten und zweiten Primarschulstufe in der deutschsprachigen Schweiz. Die Interviews verliefen entlang eines Leitfadens, der die folgenden Schwerpunkte umfasste: (1) Definition von LRS, (2) Indikatoren von LRS, (3) Ursachen von LRS und (4) Förderung bei LRS. Die Auswertung der Interviews erfolgte nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2000) mit dem Ziel der thematischen Zusammenfassung des Datenmaterials in einem Kategoriensystem. Zur Kategorienbildung kam eine Kombination aus induktivem und deduktivem Vorgehen zum Einsatz (Mayring 2000, 74ff ), d. h. es wurden erste Kategorien aufgrund theoretischer Vorüberlegungen gebildet (Deduktion) und am Datenmaterial laufend verändert und ausdifferenziert (Induktion; s. Schmidt 1997, 548). Jedes Transkript wurde anhand von Leitfragen nach Aussagen durchsucht, die sich den vier Schwerpunkten zuordnen ließen. Die Aussagen wurden dann mittels der Techniken der Paraphrasierung und Generalisierung (Mayring 2000, 58f ) weiter zusammengefasst, in theoretisch begründete Kategorien umgeschrieben und abschließend zu einem fallübergreifenden Korpus von Kategorien für alle Interviews reduziert. Dieses wurde zu Themen gruppiert, anhand derer sich die subjektiven Theorien in zwölf Thesen (4.1.1 - 4.4.4) rekonstruieren ließen. 4 Ergebnisse: Rekonstruktion der subjektiven Theorien 4.1 Definition von LRS 4.1.1 Kinder mit LRS zeigen in Bezug auf Alter und Intelligenz abweichende und schwer beeinflussbare Lese- und Rechtschreibleistungen. Die befragten schulischen Heilpädagoginnen charakterisieren LRS wie folgt: „Für mich ist LRS schon ein Bereich des Lernens, der Schwierigkeiten macht, der sprachliche Bereich. Es ist schwierig für diese Kinder, ihrem Alter entsprechend zu lesen, zu schreiben oder sich mündlich auszudrücken.“ (F2) „Ja also, wo das jetzt wirklich eine ganz enorme Schwäche ist, so dass man gezielter daran arbeiten muss als bei anderen … Ja, ja, und das dann auch mit einer gezielten Förderung nicht zum gewünschten Erfolg kommt.“ (F3) „Dass ich eher von einer LRS rede, wenn ein Kind eine isolierte Schwäche in diesem Bereich hat. Sonst rede ich einfach von einem allgemein schwachen Potenzial. Dort ist dann die LRS wie inbegriffen.“ (F1) In den Definitionen sind folgende implizite Kriterien erkennbar: Abweichung der Schriftsprachleistung von der Altersnorm, Schweregrad der Probleme („enorme Schwäche“, „deutlich mehr Mühe als der Durchschnitt“), Interventionsresistenz („nicht zum gewünschten Erfolg“) sowie Diskrepanz zwischen Schriftsprachleistung und allgemeiner Intelligenz. Besonders mit dem VHN 4/ 2010 319 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten letzten Definitionsmerkmal bekennen sich die befragten Personen zu der in der medizinischen Forschung vertretenen Auffassung von LRS als Teilleistungsschwäche bei sonst guter Intelligenz. Auffallend ist, dass die Klassifizierung als Auffälligkeit ausschließlich über die Altersnormabweichung erfolgt. Die Schwierigkeiten werden nicht in Beziehung zu etablierten Phasenmodellen des Schriftspracherwerbs (z. B. Frith 1985; Günther 1986) gesetzt. 4.1.2 Die Begriffe LRS und Legasthenie sind definitorisch unklar. Eine mögliche Differenzierung versteht Legasthenie als besonders schwere Unterform von LRS. Übereinstimmend äußern alle befragten Heilpädagoginnen, dass der Begriff LRS nicht geklärt sei, was Verunsicherung auslöst: „Also ich habe gelernt, das gibt es gar nicht. Also eine Lese-Rechtschreib-Schwäche ist etwas, das es gar nicht wirklich gibt. Also das ist eine „gummige“ Angelegenheit.“ (F2) Gerne verweisen sie daher für eine präzise Definition an die Logopädin. Befragt nach der Abgrenzung der Begriffe LRS und Legasthenie zeichnen sich zwei Sichtweisen ab. Eine Minderheit betrachtet die Begriffe als synonym und führt ihre Verwendung auf wissenschaftliche Paradigmenwechsel zurück: „(…) aber grundsätzlich ist LRS einfach moderner. Legasthenie hat man schon vor 20 Jahren gesagt. Für mich verhalten sich diese Begrifflichkeiten wie früher POS und heute ADS, das einfach ein bisschen historisch gewachsen ist. Also ich unterscheide es eigentlich nicht von der Begrifflichkeit.“ (F6) Der größere Teil der Befragten unterscheidet zwischen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und Legasthenie. Dabei beziehen sie sich auf das klassische Legastheniekonzept mit seinen charakteristischen visuellen Fehlern und ordnen es als besonders schwere Unterform von LRS ein: „Also die Legastheniker sind ja die, von denen man früher immer gesagt hat, sie würden so B/ D verwechseln und so. Und Lese-Rechtschreib-Störungen sind ja weitläufiger.“ (F8) „Für mich ist es nicht synonym. Legasthenie ist wirklich eine schwerste LRS, die bis anhin von der IV übernommen worden ist, also die Therapie. Bei einer Legasthenie liegen grobe Auffälligkeiten vor. Ich finde, es ist der Schweregrad, der es ausmacht, ob ich von Legasthenie rede.“ (F1) Den Vorteil des Legastheniekonzepts sehen die befragten Lehrpersonen darin, dass diese Diagnose die Zuweisung zu einer fachspezifischen Behandlung bei der Legasthenietherapeutin oder der Logopädin ermöglicht, sowie in seiner Entlastungsfunktion für die Eltern, die darin besteht, dass die Probleme des Kindes benannt worden sind. Die Befragten sind sich jedoch der kritischen Diskussion über den Legastheniebegriff in der Fachwelt sowie seiner potenziell stigmatisierenden Wirkung bewusst: „Ich habe den Begriff der Legasthenie gar nicht mehr so kennen gelernt und auch nicht angewendet. Von dem her kann ich nicht sagen, ob das dasselbe ist oder ob es noch eine Abgrenzung gibt. Es ist ja so mit diesen Begriffen, dass die ja irgendwann belastet sind.“ (F4) Zusammenfassend lässt sich eine Unklarheit über die genaue Bedeutung der Begriffe LRS und Legasthenie feststellen. Besonders der Begriff LRS wird als unscharf und weitläufig aufgefasst. Der Legastheniebegriff wird teilweise als veraltet, jedoch synonym zu LRS verstanden und teilweise als eigenständiges „Störungsbild“ gefasst. Die unklare Begriffsverwendung entspricht dem Stand der Wissenschaft, welche besonders interdisziplinär kein einheitliches Begriffsverständnis hat. Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2007, 186) hierzu: „Die Diskussion über Begrifflichkeiten erinnert an den Turmbau zu Babel. Aus einem gemeinsam geplanten Turm sind individuelle Projekte geworden, und es werden Konflikte über Begrifflichkeiten ausgefochten.“ VHN 4/ 2010 320 Markus Steffen, Anke Sodogé 4.1.3 Die Zuständigkeit bei LRS zwischen Heilpädagoginnen und Sprachtherapeutinnen ist nicht geklärt Die Begriffsunschärfe im Bereich der Definition von LRS widerspiegelt sich auch in einer unklaren Zuständigkeit zwischen Heilpädagoginnen und anderen Spezialistinnen (Schulpsychologin, Logopädin, Legasthenietherapeutin). Es lässt sich eine klare Tendenz feststellen, Fälle von LRS oder Legasthenie sowohl in Bezug auf die Diagnostik als auch auf die Förderung an eine Fachperson zu delegieren: „Bei denen, die Ende der ersten Klasse so auffällig sind, dass man wirklich die Alarmglocken läuten hört, die melden wir dann dem SPD an. Dort werden sie dann sowieso umfassend getestet, und dann sitzen wir zusammen und schauen auch noch die Meinung der Schulpsychologen an. Dann sitzen wir zusammen und besprechen. Und dann schauen wir, ob wir sonst noch etwas unternehmen müssen.“ (F5) Dass dies zumindest partiell mit einer unklaren Zuständigkeit bzw. einer Rollenkonfusion zwischen Heilpädagoginnen und spezialisierten Sprachtherapeutinnen (Logopädin, Legasthenietherapeutin) zu tun hat, bringt eine Befragte explizit zum Ausdruck: „Ich wurde auch schon gefragt, wo ist die Abgrenzung, was macht die Logopädie, was macht die schulische Heilpädagogik? Im Bereich Mathematik haben wir dieses Problem in dem Sinne nicht so.“ (F6) Diese Unklarheit dürfte zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich schulische Heilpädagoginnen die Förderung dieser Kinder nicht zutrauen (zum Beispiel mangels fundierten Wissens). Zum anderen ist sie wohl im neuen Rollenverständnis der Heilpädagoginnen begründet, welche seit der Umsetzung integrativer Schulformen in umfassenderer Weise als bisher für alle Arten von schulischen Leistungsproblemen zuständig sind. 4.1.4 Die frühzeitige Diagnose von LRS steht im Konflikt mit traditionell heilpädagogischen Entwicklungsannahmen Die neuere Forschung belegt, dass Anzeichen einer späteren LRS bereits im Vorschulalter sichtbar werden und präventive Maßnahmen vielversprechend sind (z. B. Schneider/ Küspert 2003). Bezüglich der Frage, wann im Laufe der Entwicklung Lese-Rechtschreibschwierigkeiten als solche erkannt und benannt werden können, zeichnen sich zwei divergierende Grundpositionen ab. Ein Teil der Befragten ist der Auffassung, dass beginnende Lese-Rechtschreibschwierigkeiten bereits vor Schuleintritt festgestellt werden können. „Und ich denke, da fällt es dann in der ersten Klasse auf, also jetzt sieht man es ja schon im Kindergarten, also da fallen jetzt schon Kinder auf, die Silben überhaupt nicht klatschen können. Oder die Anlaute nicht hören. Und ich denke, das sind Hinweise darauf, und denen muss man dann nachgehen.“ (F7) Der andere Teil der Befragten betont, dass bis zum Ende der zweiten Klasse der Begriff LRS nicht verwendet werden darf, weil sich in diesem Zeitraum auftretende Probleme im Lesen und Schreiben als vorübergehend abweichende Entwicklungsverläufe herausstellen können, die nicht mit einem Label zu belegen sind. „In der ersten Klasse kommen die Buchstaben, in der zweiten kommt dann schon bald die Schnürlischrift. Und dafür braucht ein Kind einfach ein individuelles Tempo. Und ich würde jetzt mal sagen: wenn es am Ende der zweiten Klasse, wenn alle diese Prozesse schon etwas automatisiert sein sollten, immer noch diese Symptome zeigt, die ich geschildert habe (…), dann würde ich von einer Lese-Rechtschreibschwäche reden. Aber es ist mir wichtig, dass das Kind wirklich genug Zeit gehabt hat, um diese Prozesse zu lernen.“ (F1) Dieses Spannungsfeld zwischen dem Zulassen individueller Entwicklungsverläufe einerseits und möglichst früher Förderung andererseits ist auch in der Fachwelt weitgehend unaufgelöst. Die Tendenz zur späten Diagnose bringt traditionell heilpädagogisches Denken zum Aus- VHN 4/ 2010 321 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten druck, das sensibel ist für Stigmatisierungen und individuellen Lernwegen Raum geben will. Gleichzeitig steht es aber im Widerspruch zu den Ergebnissen der empirischen Forschung, welche u. a. die Bedeutung der frühen Diagnostik und Förderung belegen (Hartmann 2007; Schneider/ Küspert 2003; Walter 2004). 4.2 Indikatoren von LRS 4.2.1 Geringe phonologische Fähigkeiten sind frühe Anzeichen einer LRS Auch wenn frühzeitige Diagnostik kritisch betrachtet wird, vermögen alle Befragten Auffälligkeiten im Bereich schriftsprachlicher Vorläuferkompetenzen als Verdachtsmomente für eine spätere LRS zu beschreiben, und zwar als typische Schwierigkeiten in der phonologischen Bewusstheit, ohne diese jedoch als solche zu benennen: „Ja, wenn man das Würzburger Training macht, so übers Sprachgefühl, ob das Kind einen Reim hört oder nicht, und noch Sprachmelodie und so Sachen … wahrnimmt, ob er Anlaute, ‚i‘ und Endlaute hört … Ob er ein Gefühl für so etwas hat, ob er das Gehör für so etwas hat. Ich finde auch noch interessant, ob er sich Verse merken kann, ob er Lieder wiedergeben kann. Kann er sich irgendwie die Wörter in einer Melodie irgendwie merken … So Sachen … so.“ (F9) Weitere sprachliche und metasprachliche Risikofaktoren wie geringe Buchstabenkenntnisse, ein kleiner Wortschatz oder geringe grammatikalische Fähigkeiten werden von den Befragten nicht genannt. Insgesamt ist fraglich, ob ihnen die Bedeutung sprachspezifischer und metasprachlicher Fähigkeiten für den Schriftspracherwerb genügend bewusst ist. 4.2.2 Auf der Unterstufe dominieren Probleme in der Lesetechnik und der Schreibproduktion Die Auffälligkeiten, in denen sich LRS auf der Unterstufe manifestieren, vermögen die befragten Lehrpersonen sehr genau zu beschreiben: „Dieses Mädchen hat beim Lesenlernen a, e verwechselt, o, u verwechselt. Es hatte Mühe, überhaupt ein- oder zweisilbige Wörter zu lesen und die Buchstaben zusammenzuhängen. (…) Schreibablauf war natürlich dann auch erschwert. D. h. der Ablauf selber von der Motorik her war gut. Aber es hat dann oft einfach Wörter ausgelassen oder Buchstaben also die Wörter gar nicht fertig geschrieben oder falsche Laute geschrieben. So dass man gar nicht verstanden hat, was es eigentlich geschrieben hat.“ (F1) Besonders umfassend beschreiben die Befragten die Probleme der Schüler im Bereich der Lesetechnik. Zum Teil verwenden sie die korrekten Fachausdrücke, mehrheitlich umschreiben sie die Lese-Rechtschreibprobleme jedoch umgangssprachlich. Das folgende Beispiel illustriert, dass die Leseprobleme präzis beobachtet und intuitiv korrekt interpretiert werden (als Rückstand in der Entwicklung vom phonologischen Rekodieren zum lexikalischen Lesen, vgl. Klicpera u. a. 2003, 24f ), jedoch nicht explizit mit einem theoretischen Modell der Schriftsprachentwicklung und/ oder den Komponenten der Lese- und Schreibkompetenz in Verbindung gebracht werden können: „Dass er nach wie vor die Wortbilder schlecht erkennt als Ganzes oder dass er schlecht antizipiert. Also dass er wirklich von Anfang bis Ende das Wort erliest und dann erst zusammenhängt.“ (F4) 4.2.3 Allgemeine Lernschwierigkeiten, Konzentrations- und Wahrnehmungsprobleme kommen erschwerend hinzu Die befragten Heilpädagoginnen beschreiben eine Reihe von Auffälligkeiten bei Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, die sich den Kategorien Kognition und Wahrnehmung zuordnen lassen. Typischerweise sind dies allgemeine Lernschwierigkeiten, Konzentrationsprobleme, Beeinträchtigungen im Gedächtnis und Auffälligkeiten in der auditiven und visuellen Wahrnehmung. VHN 4/ 2010 322 Markus Steffen, Anke Sodogé „Also jetzt von dem Jungen ausgehend, der hat dann auch einfach Konzentrationsschwierigkeiten gehabt, und das hat ihn schon gebremst in der Schule. Also das größte Problem ist ja auch das Wahrnehmungsproblem bei den Kindern.“ (F7) 4.3 Ursachen von LRS 4.3.1 Die Entstehung von LRS ist letztlich nicht geklärt. Fest steht, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren zusammenwirken „Man liest ja oft, dass es verschiedene Ursachen habe und es schwierig sei, zu sagen, woher das jetzt genau komme.“ (F4) Im Einklang mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft (vgl. Klicpera u. a. 2003, 160f ), sagen alle befragten schulischen Heilpädagoginnen, die genauen Ursachen seien unbekannt, sicher seien jedoch mehrere Faktoren an der Entstehung beteiligt. Dabei verfügen die befragten Personen implizit über ein bio-psycho-soziales Erklärungsmodell, das sich leicht in den Dimensionen der ICF (WHO 2008) reformulieren lässt, nämlich als Körperstrukturen und -funktionen, personbezogene und Umweltfaktoren. Auf Ebene der Körperstrukturen und -funktionen nennen alle Befragten eine genetische Disposition, und einige erwähnen Wahrnehmungsprobleme auditiver und visueller Art als Ursachen. „Ich erlebe auch, dass es in Familien gehäuft auftritt. Also ich bin überzeugt, dass auch eine gewisse Vererbung da ist.“ (F3) „Aber ich denke, das hat mit dem auch zu tun, wie ein Kind wahrnimmt. (…) Wie nimmt es auf und wie vernetzt es im Gehirn. Dann denke ich, der hat dort Mühe und der Kanal ist vielleicht für dieses Kind schwierig und zu wenig gepflegt worden. Das ist aber mehr so mein ‚Bauch-Ding‘, das kann ich so nicht belegen, ja.“ (F2) Neben Wahrnehmungsproblemen werden eine reduzierte auditive und visuelle Merkfähigkeit, Blickbewegungsstörungen und grafomotorische Probleme als Ursachen genannt. Die genetische Disposition ist in der wissenschaftlichen Literatur gut belegt (z. B. Grigorenko 2004), der Einfluss von Wahrnehmungsproblemen ist sehr umstritten (z. B. Mand 2008, 74f ). Die Befunde zu Blickbewegungsstörungen sind inkonsistent (Mand 2008, 74f; Radach u. a. 2002), grafomotorische Probleme spielen keine Rolle. Für die Leseentwicklung wichtige linguistische und kognitive Kenntnisse wie Wortschatz, Weltwissen oder Sprachverstehen (Hartmann 2006) bleiben ungenannt. Auf der Ebene der personbezogenen Faktoren nennen die Befragten eine hohe dispositionelle Ängstlichkeit und Vermeidungstendenz, die zum Teil als ursächliche, zum Teil als aufrechterhaltende Faktoren angesehen werden, sowie soziale Faktoren wie Fremdsprachigkeit oder Unterschiede in der kulturellen Lesesozialisation. Als wichtigsten Umweltfaktor nennen alle Interviewten eine mangelnde sprachliche Anregung im Elternhaus, dessen Bedeutung empirisch gut fundiert ist (z. B. Klicpera u. a. 2003, 160ff ): „Ja … also ja … es ist so, ich finde es enorm wichtig zu wissen wie und ob ein Kind zuhause gefördert wird. Also hat es zuhause Zugang zu Bilderbüchern? Werden zuhause Geschichten erzählt? Also ich denke jetzt im Allgemeinen, wenn man bemerkt, dass zuhause nicht sehr viel über die Sprachebene läuft. Über Erzählung, über das miteinander Reden und so.“ (F9) Neben dem Bereich der sprachlichen Anregung werden von mehreren Befragten auch Mangelerfahrungen in anderen Entwicklungsbereichen, hauptsächlich der Entwicklung der Wahrnehmung (taktil-kinästhetisch, auditiv), der Aufmerksamkeit (Mangel an „basalen Erfahrungen“) und der sensorischen Integration beschrieben. 4.4 Förderung bei LRS 4.4.1 LRS kann nicht „geheilt“ werden, sondern man muss lernen, damit zu leben In Übereinstimmung mit dem Definitionskriterium der „Interventionsresistenz“ bezeichnen die meisten der befragten Heilpädagoginnen VHN 4/ 2010 323 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten den Erfolg von Fördermaßnahmen als unsicher und zeigen sich bezüglich der Ziele und der Wirkung der Förderung sehr vorsichtig bis resigniert. Viele gehen davon aus, dass sich die Effektivität von Fördermaßnahmen darin erschöpft, Bewältigungsstrategien zu finden, welche den Betroffenen das Leben mit einer LRS erträglich machen. „Also man kann jetzt nicht unbedingt sagen, dass meine Förderung etwas nützt. So im Sinne von, dass man … So im Sinne von, dass man die Probleme in jedem Fall ‚wegzaubern‘ kann. Man kann vielleicht ein wenig lernen damit umzugehen, aber auch das ist sehr schwierig.“ (F2) „LRS ist wie ein Rollstuhl. Man kann Strategien entwickeln, um damit leben zu lernen, aber man kann ihn nicht einfach zusammenklappen und auf die Seite schieben.“ (F2) „Ich denke aber heute, dass es keine Patentlösung gibt. Es gibt nicht DAS Förderprogramm bei LRS. Man muss ein wenig rausfinden, welcher Zugang der geeignetste ist. Meine Arbeit sehe ich als Detektivarbeit, ich versuche herauszufinden, wo das Kind Defizite oder Förderbedarf hat. Man kann nicht global sagen, das Kind hat LRS und jetzt machen wir das und das und dann geht’s ihm besser.“ (F1) Hier zeigt sich eine gewisse Ohnmacht und Überforderung der befragten Personen im Umgang mit LRS. Zumindest zum Teil dürfte diese Zurückhaltung der Befragten auf einen Mangel an Wissen über effektive Förderstrategien und einen durchschnittlich erwartbaren Fördererfolg zurückzuführen sein: „Und sonst, das ist manchmal auch das große Problem, dass ich dann auch wirklich nicht weiß, was Hand und Fuß hat. Also wirklich die Förderung an sich.“ (F8) 4.4.2 Im Bereich sprachbezogener Fördermethoden kommen hauptsächlich Förderprogramme zum Einsatz Im Bereich sprachspezifischer Fördermethoden zählen die Befragten hauptsächlich Förderprogramme auf, welche sich präventiv im Vorschulalter oder während des schulischen Schriftspracherwerbs nutzen lassen. Im Bereich der Prävention wird von allen Befragten das Würzburger Trainingsprogramm Hören, Lauschen, Lernen (Küspert/ Schneider 2000) genannt. Zwar erleichtere ein solches Programm den Einstieg in die Schriftsprachentwicklung, eine präventive Wirkung in Bezug auf LRS bezweifeln die Befragten jedoch mehrheitlich: „Zum Würzburger würde ich sagen, ich weiß wirklich nicht, ob man in der zweiten Klasse noch merkt, welche Kinder das gehabt haben und welche nicht, von der Leistung her. Ich denke einfach, der Einstieg ins Lesen- und Schreibenlernen ist sicher einfacher, wenn man schon so viel mit Worten und Spielen und so gemacht hat. Es gibt ja auch ein Alter, wo die Kinder anfangen zu reimen, sie sind dann darauf sensibilisiert. Da find ich es schon gut, dass man die sensible Phase auch nützt.“ (F9) Dass es über das Training der phonologischen Bewusstheit hinaus eine Reihe von Aktivitäten für den Kindergarten gibt, welche sich hervorragend eignen, die vorschulischen Schriftsprachkompetenzen, speziell von Risikokindern, zu stimulieren (Hartmann 2007, 120), wird zumindest im Rahmen der Interviews von den Befragten nicht erwähnt. Wiederum erscheint fraglich (vgl. 4.2.1), ob den Befragten die Bedeutung metasprachlicher Fähigkeiten für den späteren Schriftspracherwerb hinreichend bewusst ist. 4.4.3 Motivations- und Wahrnehmungsförderung sind wichtige nichtsprachbezogene Fördermethoden Deutlich mehr Gewicht legen die Befragten auf nicht-sprachspezifische Fördermethoden. Als wichtiger Ansatz taucht hier die Motivationsförderung auf. Den Erhalt der Freude am Lesen und Schreiben, etwa durch Vermittlung von Erfolgserlebnissen oder Betonung von Leistungsfortschritten, erachten alle Befragten als wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Förderung. „Also sicher mal dass sie die Freude nicht verlieren am ganzen Lesen und Schreiben. Das ist für mich der Hauptpunkt. Lässige Büchlein lesen, auch wenn VHN 4/ 2010 324 Markus Steffen, Anke Sodogé sie zu einfach sind, dass sie merken, ich kann das. Dass sie Erfolgserlebnisse haben.“ (F2) Die Bedeutung emotionaler Unterstützung beim kindlichen Erwerb neuer Kompetenzen ist in der Literatur gut belegt (z. B. Hartmann 2007, 122). Doch es gibt keine empirischen Belege für die Wirksamkeit von isolierten therapeutischen Interventionen zur Stärkung des Selbstkonzepts und der Lernmotivation bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (Mannhaupt 2002, 249ff ). Als zweite Unterkategorie der nicht-sprachspezifischen Fördermethoden nennen die Interviewten Ansätze zur Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung. Schließlich tauchen auch alternative Methoden auf, welche oft einen unerwarteten Erfolg zeigen würden. Dies wird als Beleg dafür gewertet, dass es den „Königsweg“ der Förderung nicht gebe, sondern in jedem einzelnen Fall unterschiedliche Zugänge ausprobiert werden müssten. Hauptsächlich handelt es sich bei den genannten Alternativmethoden um umstrittene wahrnehmungsorientierte Förderprogramme, deren Wirksamkeit nicht belegt ist (von Suchodoletz 2003, 167ff; Mannhaupt 2002). „Ich hatte bspw. ein Kind, das ganz schlecht lesen lernte. Ich habe den Eltern angeraten, es im Tomatis- Institut testen zu lassen. Dort werden sie übers Gehör getestet. Die Eltern werden auch gestestet und eine Kinderpsychologin berät einen. Es ist eine sehr umstrittene Alternativtherapie. Das Kind ist dort behandelt worden und konnte nachher lesen.“ (F1) Insgesamt überwiegen nicht-sprachliche Förderansätze in den Nennungen der Interviewten. Dies entspricht im Falle der Wahrnehmungsförderung weitgehend der Tradition der klassischen Legasthenieforschung. 4.4.4 In der Unterrichtsgestaltung sind offene Lernformen zentral Die modernen Forschungsergebnisse legen großes Gewicht auf die Qualität des Leseunterrichts. Alle Befragten erkennen die Bedeutung von individualisierenden und differenzierenden Unterrichtsformen für Kinder mit LRS. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Methoden wie Lerngruppen, Werkstatt oder Wochenplan genannt. „Ich denke, es muss wirklich ein offener Unterricht sein, solche Kinder müssen wirklich mehr Zeit haben, damit sie nicht unter Druck stehen. Dass sie wirklich in ihrem Tempo etwas abschreiben können. Individualisieren ist für diese Kinder enorm wichtig.“ (F2) Wiederum zeigen sich die befragten Lehrpersonen sensibel für die individuellen Entwicklungsverläufe einzelner Schüler. Bezogen auf die didaktische Gestaltung des Unterrichts greifen sie jedoch auf relativ allgemeingültige Prinzipien von offenen Unterrichtsformen bzw. allgemeine Qualitätsmerkmale eines „guten Unterrichts“ (Meyer 2004) zurück. Sie gehen kaum auf die evidenzbasierten Spezifika eines „exzellenten Unterrichts“ ein (Förderung phonologischer und Phonembewusstheit, Fokussierung von Buchstabenwissen und Buchstaben-Laut-Korrespondenzen, Aufbau eines Sichtwortschatzes, Vermitteln von Lesestrategien, Weltwissen u. a., s. Hartmann 2007, 120ff ), von dem lese-rechtschreibschwache Kinder besonders profitieren. 5 Fazit 5.1 LRS - „das ist eine gummige Angelegenheit“ Das Phänomen LRS ist schulischen Heilpädagoginnen wohl bekannt. Sie können das Erscheinungsbild sehr gut, wenn auch nicht immer mit passenden Fachbegriffen beschreiben und Merkmale benennen, die ihnen als Abgrenzungskriterien von anderen Lernstörungen dienen. Was aber genau unter LRS verstanden werden soll und ob diese Störung von Legasthenie unterschieden werden kann oder muss, darüber herrscht bei den Praktikerinnen Unklarheit, was bei der Unübersichtlichkeit der Forschungslage zum Thema nicht verwundert. Sie VHN 4/ 2010 325 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten haben prinzipiell Kenntnis von der Kritik am Legastheniebegriff, greifen im Zweifel aber auf traditionelle Definitionen und Entstehungsmodelle der klassischen, vornehmlich medizinisch geprägten Legasthenieforschung (vgl. Dummer-Smoch 2007) zurück. Sie betonen zwar die Bedeutsamkeit individueller Entwicklungsverläufe und warnen vor Stigmatisierung durch frühe Kategorisierung, definieren LRS aber dennoch als Abweichung von der Leistungsnorm und nicht als individuellen Entwicklungsrückstand beim Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen. Möglicherweise, weil sie die entsprechenden Entwicklungsmodelle des Schriftspracherwerbs nicht kennen; zumindest werden diese in den Interviews nicht erwähnt. Die Befragten wissen zwar, dass die Ursachen von LRS komplex und multifaktoriell sind und dass dabei der genetischen Disposition eine gewisse Rolle zukommt. Die häufige Beschreibung von Wahrnehmungsproblemen bei Kindern mit LRS bringt jedoch wieder die traditionell medizinische Auffassung zum Ausdruck. Wesentliche Faktoren im Rahmen der Schriftsprachentwicklung wie Weltwissen, Wortschatz oder Sprachverstehen bleiben ungenannt. 5.2 Förderung ist „Detektivarbeit“, und man weiß nicht, „was Hand und Fuß hat“ Die Gestaltung effektiver schulischer Förderung für Kinder mit Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen empfinden die Interviewpartnerinnen als große Herausforderung, wenn nicht sogar als Überforderung, die sie gerne an externe Fachkräfte delegieren bzw. diese als Spezialistinnen hinzuziehen möchten. Für die Auswahl geeigneter Methoden und Materialien fehlen ihnen offenbar Kriterien. Den Erfolg einer Förderung bewerten sie daher mehr als Glücksfall denn als das Resultat ihrer Arbeit. Die nachgewiesene Überlegenheit sprachspezifischer, systematischer Förderung (vgl. Hartmann 2007; Mannhaupt 2002) gegenüber unspezifischen oder alternativen Fördermethoden ist offenbar nicht bekannt. Die Wirksamkeit der insgesamt gut evaluierten präventiven Förderung der phonologischen Bewusstheit wird von den Befragten infrage gestellt. Die Förderung im Unterricht wird von den schulischen Heilpädagoginnen insgesamt als nicht ausreichend für Kinder mit LRS beurteilt. 5.3 Professionelles heilpädagogisches Handeln im Spannungsfeld von Spezialisten- und Generalistentum Die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit LRS erfordert neben allgemeinen pädagogisch-didaktischen Kompetenzen und förderlichen Haltungen insbesondere Spezialwissen über den Schriftspracherwerb. Erfolgreiche Förderung von Schülern mit abweichenden und stagnierenden Lernentwicklungen in der Schriftsprache hängt wesentlich von der Qualität des Unterrichts im Lesen und Schreiben ab. Exzellenter Lese- und Schreibunterricht fokussiert den Gegenstand Schriftsprache, er basiert auf systematischen schriftsprachspezifischen Lernumgebungen und Instruktionen. Schulische Heilpädagoginnen sind Spezialistinnen für die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten unterschiedlicher Provenienz. Ihr professionelles Selbstverständnis beruht auf Leitideen wie Ganzheitlichkeit, Kompetenzorientierung, Lebensweltorientierung und Handlungsorientierung. Sie verfügen über ein breites allgemeines heilpädagogisches Wissen, aber nur über wenig Spezialwissen über LRS. Die Förderung von Schülerinnen mit LRS ist eine ihrer zahlreichen Aufgaben, die sie, wie die Auswertung der Interviews zeigt, als herausfordernd und teilweise überfordernd erleben. Allerdings muss betont werden, dass die vorliegende Arbeit eine qualitative Studie mit explorativem Charakter ist und die formulierten Hypothesen an einer kleinen, nichtrepräsentativen Stichprobe gewonnen wurden. In einem weiteren Teilprojekt wurden die Hypothesen in einem Fragebogen an einer Stichprobe von 1000 Schulischen Heilpädagoginnen in der VHN 4/ 2010 326 Markus Steffen, Anke Sodogé deutschsprachigen Schweiz überprüft. Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse ist geplant. Sollten sich die in der Interviewstudie sichtbaren Wissensdefizite auch in der quantitativen Erhebung zeigen, wäre zum Wohle der Schülerinnen und Schüler mit LRS sowie zur Unterstützung und Entlastung der schulischen Heilpädagoginnen die Bereitstellung von Weiterbildungsangeboten zum Thema wünschenswert. Anmerkungen 1 Es wird durchgehend die weibliche Form verwandt, die männliche ist dabei eingeschlossen. 2 Folgend wird einfachheitshalber durchgehend die Abkürzung LRS verwendet Literatur Brügelmann, H. (1984): Lesen- und Schreibenlernen als Denkentwicklung. In: Zeitschrift für Pädagogik 30, 69 - 91 Dann, H.-D. (1994): Pädagogisches Verstehen. Subjektive Theorien und erfolgreiches Handeln von Lehrkräften. 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