Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Zurück zum Kerngeschäft der Heilpädagogik
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Karin Bernath
Wenn Bildungsverantwortliche lautstark eine „Schule für Alle“ propagieren; wenn sich heilpädagogische Ausbildungsstätten in Pädagogische Hochschulen „integrieren“ lassen; wenn sich die Heilpädagogik - zumindest die Schweizer Heilpädagogik - allmählich auf die Institution Volksschule sowie auf Lern- und Verhaltensauffälligkeit reduzieren lässt, dann ist zweifellos ein Wandel im Gange.
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VHN, 79. Jg., S. 340 - 342 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art29d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 340 Zurück zum Kerngeschäft der Heilpädagogik Karin Bernath Berufsverband Heil- und Sonderpädagogik Schweiz Trend Wenn Bildungsverantwortliche lautstark eine „Schule für Alle“ propagieren; wenn sich heilpädagogische Ausbildungsstätten in Pädagogische Hochschulen „integrieren“ lassen; wenn sich die Heilpädagogik - zumindest die Schweizer Heilpädagogik - allmählich auf die Institution Volksschule sowie auf Lern- und Verhaltensauffälligkeit reduzieren lässt, dann ist zweifellos ein Wandel im Gange. Was bedeutet dieser Wandel letztlich für die Heilpädagogik? Prüfstein werden die Antworten auf Fragen sein wie: Meinen die Bildungsverantwortlichen wirklich „Alle“, wenn sie von „Allen“ sprechen? Denken sie tatsächlich auch an behinderte Kinder, zum Beispiel an geistig behinderte, hörbehinderte, sehbehinderte, schwerbehinderte Kinder? Oder verstehen die Bildungsverantwortlichen unter „Alle“ „Alle minus die behinderten Kinder“? Zugegeben: Die Heilpädagogik stiftet mit ihren dauernden Begriffsveränderungen Verwirrung, sodass schließlich niemand mehr genau weiß, wovon eigentlich die Rede ist. Wie in keiner anderen Disziplin werden eingebürgerte Fachbegriffe durch neue Kreationen ersetzt. Sprache ist Denken, Denken ist Einstellung, Einstellung ist Haltung, Haltung ist in der Heilpädagogik zentral, und Haltungsänderungen gegenüber „Behinderten“ werden über die Sprache eingefordert - so die Erklärung, weshalb der ständige Wandel notwendig sei. Mit anderen Worten: Die Fachsprache, Markenzeichen jeglicher Disziplin, hat in der Heilpädagogik als Sprache unter Fachleuten eine spezielle Funktion. So wurden Unterscheidungen aufgegeben zwischen Auffälligkeiten, Schwierigkeiten, Störungen und Behinderungen, zwischen Schädigung und Behinderung, zwischen geistiger Behinderung, Lern-, Seh-, Hör-, Sprach-, Körper-, Verhaltensbehinderung oder schwerer Behinderung, zwischen Korrektion, Kompensation und Reedukation, wie es die Meister der „klassischen Heilpädagogik“ gelehrt haben, und zwar zugunsten von Bezeichnungen wie „Menschen mit besonderen Bildungsbedürfnissen“ oder noch aktueller: „Menschen mit verstärkten Maßnahmen“. Stellen wir nun also die Frage nochmals: Wen meinen die Bildungsverantwortlichen, wenn sie „Bildung für Alle“ propagieren? Können wir es ihnen verübeln, wenn sie nicht wissen oder nicht daran denken, dass es noch mehr Kinder gibt als jene, die Schwierigkeiten beim Lernen haben, und jene, die sich auffällig verhalten? Ein zweiter Indikator eines möglichen Wandels ist die Tatsache, dass sich heilpädagogische Ausbildungsstätten seit geraumer Zeit in Pädagogische Hochschulen integrieren lassen und sich nicht als eigenständige Ausbildungsstätten mit einer eigenen Disziplin behaupten. Das in heilpädagogischen Kreisen gerne verwendete Moor’sche Zitat „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“ (Moor 1994, 120) - auch wenn es aus dem Zusammenhang gerissen ist - bewahrheitet sich in diesem Sinne: Die Disziplin Heilpädagogik wird überflüssig. Doch fehlt erst einmal die Bildung in der Heilpädagogik, insbesondere die akademische, wird es auch keinen Nachwuchs in der Lehre mehr geben, die theoretischen Grundlagen werden fehlen, und damit blutet das heilpädagogische Berufsfeld nach und nach aus - ein wahrhaft tiefgreifender Wandel. Ist es den Pädagogischen Hochschulen zu verübeln, wenn sie die von ihnen auf fachlicher und politischer Ebene verlangte Integration auf VHN 4/ 2010 341 Zurück zum Kerngeschäft der Heilpädagogik allen Stufen angehen, wenn sie sich die fachlichen Informationen auch über die strukturelle Reorganisation sichern? Die Pädagogik ergänzt sich mit der Heilpädagogik, die ja offenbar nichts anderes ist als Pädagogik. Ein dritter Indikator für einen Wandel ist der Umstand, dass die Heilpädagogik - zumindest die Schweizer Heilpädagogik - ihr Aufgabenfeld in jüngster Zeit weitgehend auf die Institution Volksschule bzw. auf Lern- und Verhaltensauffälligkeiten reduziert hat. Die angeregten Diskussionen rund um Integration und Inklusion, um Heterogenität und Diversity lassen die Disziplin aufgehen in grenzenlose interdisziplinäre Debatten: Alle sind verschieden und alle sollen mit den Verschiedenen umgehen können. Ein Punkt ist allerdings bemerkenswert: Es ist bewundernswert und faszinierend, dass sich Volksschulen grundsätzlich hinterfragen und hinterfragen lassen. Ist es in diesem Zusammenhang nicht auch verständlich, dass die Heilpädagogen und -pädagoginnen die Gelegenheit nutzen und sich die Themen, die bisher in der Pädagogik angesiedelt waren, zu Eigen machen und ein wenig über den Zaun der Pädagogik grasen? Die Fachsprache leidet, Studiengänge werden zusammengelegt und aufgegeben, die theoretischen Grundlagen dünnen aus, der Nachwuchs fehlt, die Faszination der Themen liegt in der Grauzone zur Nachbardisziplin - ein Anlass zu fragen: Wo stehen wir heute, und was ist eigentlich das Kerngeschäft der Heilpädagogik? Es wäre das vierte Mal, dass sich die Heilpädagogik neu konstituieren würde. Ein erstes Mal tat sie dies, als sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Medizin ablöste, ein zweites Mal, als sie in den 60er Jahren in den Sog der Soziologie geriet, ein drittes Mal, als sie von der Psychologie entdeckt und vereinnahmt wurde. Und jetzt also gerät sie in den Einflussbereich der Pädagogik. Dürfte man nicht annehmen, dass die Hüter der Heilpädagogik über genügend Erfahrung und Hintergrund verfügen, um auch dieses Mal gestärkt aus der Krise hervorzugehen? Finden die Hüter noch ein fruchtbares Stückchen Erde? Dass die Heilpädagogik keine eigene Disziplin sei, hat sich als Folge des Mottos „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“ in vielen Köpfen festzusetzen begonnen. In der Tat: ohne universitäre Basis, d. h. ohne Nahrung aus der Theorie, darf man über kurz oder lang kaum mehr von einer Disziplin sprechen. Der da und dort erhoffte Kompromiss einer interdisziplinären Disziplin mag reizvoll sein, aber waren nicht die meisten Disziplinen schon immer interdisziplinär? Die Gründung der Internationalen Gesellschaft heilpädagogischer Berufs- und Fachverbände IGhB im Jahre 2003 ist nicht zuletzt deshalb erfolgt, um mit gemeinsamen Kräften all jene Aufgaben in den Einflussbereich der Heilpädagogik zurückzuführen, welche entscheidend sind für die Qualität eines Fachs: 1. Eine universitäre Ausbildung im Rahmen einer eigenen Disziplin, um das bestehende Wissen zu pflegen, zu generieren, weiterzugeben und das Berufsfeld weiterzuentwickeln; 2. die Möglichkeit, auch innerhalb von Berufsausbildungen auf Hochschul- und Fachschulebene das spezialisierte Wissen zu pflegen und weiterzuentwickeln; 3. die fachliche Weiterbildung zu garantieren; 4. die Arbeitsbedingungen der Fachleute in einem angemessenen Rahmen zu institutionalisieren. Die IGhB will einerseits das Erbe der Internationalen Gesellschaft für Heilpädagogik von Heinrich Hanselmann antreten und andererseits das Erbe vieler verdienter Pioniere und Persönlichkeiten in der Heilpädagogik bewahren und weiterentwickeln. Es kann sein, dass sich diese internationale Gruppierung von Verbänden aus Deutschland, Luxemburg, Österreich, Holland, Ungarn, der Slowakei und der Schweiz zu viel zumutet, aber ihre bloße Existenz und ihre Ziele sind auf jeden Fall ernst zu nehmende Indikatoren, die hellhörig machen sollten. VHN 4/ 2010 342 Karin Bernath Die IGhB weist unmissverständlich auf das Kerngeschäft der Heilpädagogik hin. Ein Kerngeschäft, das von zahlreichen Fachleuten trotz eisigem Wind über all die Zeit hinweg erledigt worden ist - auch ohne zusätzliche finanzielle und personelle Unterstützung. Damit sind all jene Leute gemeint, die sich mit Fragen rund um Behinderung - nicht Auffälligkeiten oder Schwierigkeiten - beschäftigen; die sich mit den schwerwiegenden und lange dauernden Einschränkungen, mit denen Kleinkinder, Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu leben haben, auseinandersetzen; jene Leute, die gezielt Maßnahmen anwenden, um die Folgen dieser Einschränkungen zu kompensieren oder zu korrigieren. Es sind all jene, die präventiv tätig sind im Hinblick auf eine Behinderung; die aus ihrem heilpädagogischen Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund wissen, warum sie was und wie tun, sei es in der Erfassung, der Diagnostik, der Förderung oder der Therapie, im schulischen und beruflichen Unterricht, in der Lehre, Beratung, in der institutionellen Organisation oder Leitungstätigkeit. Es sind Leute, denen Behinderung in jeder Erscheinungsform vertraut ist. Es sind Leute, die sich um das Kerngeschäft der Heilpädagogik kümmern und überzeugt sind, dass die Disziplin Heilpädagogik gestärkt aus der Krise hervorgehen und sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren wird. Literatur Moor, Paul (1994): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch: Studienausgabe. Luzern: Ed. SZH Prof. Dr. Karin Bernath Präsidentin Berufsverband Heil- und Sonderpädagogik Schweiz c/ o Paltzer Olsen Consulting AG Fraumünsterstr. 13 CH-8022 Zürich E-Mail: info@b-h-s.ch
