Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2010.art09d
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„Nicht (willens) wollen“: Spannungsfeld von neurobiologischer Determinierung und Willensfreiheit am Beispiel der psychiatrischen Diskussion über „moralische Idiotie“ um 1900
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Sabina Sennhauser
Die Negierung der Willensfreiheit zugunsten einer neurologischen Determinierung wurde um 1900 in der Psychiatrie bei der „moralischen Idiotie“ diskutiert. Bei dieser Form der „Idiotie“ wurde ein Mangel an altruistischen Gefühlen (Moral) konstatiert, erkenntlich an einer Nicht-Anpassung an eine Ordnung. Obschon die Auffassungen bezüglich des „Intellekts“ divergierten, strebte man allgemein eine Unzurechnungsfähigkeit an. So wurde die „moralische Idiotie“ sowohl mangels als auch wegen des Intelligenzdefekts mit Geisteskrankheit gleichgesetzt. Gleichgültig, ob die Ursachen in den Anlagen, im Intellekt oder in der sozialen Herkunft - mit jeweiliger Interdependenz mit den anderen - lokalisiert wurden: Allen Varianten galt es, eine Moral bzw. altruistische Gefühle abzusprechen. Den Betroffenen, die sich „dressieren“ ließen, sprachen insbesondere die Psychiater Bleuler und Maier ein Lebensrecht zu, den „nicht willens Wollenden“ jedoch nicht.
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Fachbeitrag VHN, 79. Jg., S. 104 - 114 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art09d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 104 „Nicht (willens) wollen“: Spannungsfeld von neurobiologischer Determinierung und Willensfreiheit am Beispiel der psychiatrischen Diskussion über „moralische Idiotie“ um 1900 Sabina Sennhauser Universität Freiburg/ Schweiz n Zusammenfassung: Die Negierung der Willensfreiheit zugunsten einer neurologischen Determinierung wurde um 1900 in der Psychiatrie bei der „moralischen Idiotie“ diskutiert. Bei dieser Form der „Idiotie“ wurde ein Mangel an altruistischen Gefühlen (Moral) konstatiert, erkenntlich an einer Nicht- Anpassung an eine Ordnung. Obschon die Auffassungen bezüglich des „Intellekts“ divergierten, strebte man allgemein eine Unzurechnungsfähigkeit an. So wurde die „moralische Idiotie“ sowohl mangels als auch wegen des Intelligenzdefekts mit Geisteskrankheit gleichgesetzt. Gleichgültig, ob die Ursachen in den Anlagen, im Intellekt oder in der sozialen Herkunft - mit jeweiliger Interdependenz mit den anderen - lokalisiert wurden: Allen „Varianten“ galt es, eine Moral bzw. altruistische Gefühle abzusprechen. Den Betroffenen, die sich „dressieren“ ließen, sprachen insbesondere die Psychiater Bleuler und Maier ein Lebensrecht zu, den „nicht willens Wollenden“ jedoch nicht. Schlüsselbegriffe: „Moralische Idiotie“, Willensfreiheit, Psychiatrie “Not (Willingly) Wanting”: Between the Poles of Neurobiological Determination and Free Will - Exemplified by the Discussion on “Moral Insanity” in the Psychiatric Discourse around 1900 n Summary: Denying free will in favour of a neurobiological determination in “moral insanity” has been discussed in psychiatric circles around 1900. “Moral insanity” was identified by a lack of altruistic feelings (morality) as measured by not adapting to the system. Despite divergent conceptions of “intellect”, “moral idiots” were generally rated as not responsible for their actions. Therefore “moral insanity” was equated with insaneness be it with or without intellectual malfunctions. No matter whether “moral insanity” was attributed to genetic, intellectual or social causes (in interdependency with each other) most psychiatrists denied these individuals’ moral or altruistic feelings. According to Bleuler and Maier individuals who let themselves be “tamed” had a right to live, all others who were “not willingly wanting” were deprived of this right. Keywords: “Moral insanity”, free will, psychiatry 1 Willensfreiheit oder neurologische Determinierung Im letzten Jahrzehnt scheint die Thematik der Willensfreiheit insbesondere aufgrund der Neurowissenschaft und der aktuellen Fälle von Pädophilie im öffentlichen Interesse zu stehen. So äußerte sich der Neurologe Markowitsch (Darnstädt/ Lakotta 2008, 72): „Noch sind es Richter, die entscheiden. Aber muss das zwangsläufig für die Ewigkeit so sein? Irgendwann könnte auch der Kernspin entscheiden, was zu tun ist.“ Richter, Psychiater und (Heil-) Pädagogen bejahen die Willensfreiheit mit Bezug auf die Menschenwürde, von einigen Neurowissenschaftlern wird sie jedoch aufgrund einer Determination durch das Gehirn verneint. Der Neurobiologe Roth geht sogar so weit, dass es „sonnenklar für jeden Fachmann“ sei, dass Hitler und Stalin nichts für ihre Gräueltaten konnten: „Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, sondern sie wurden aus VHN 2/ 2010 105 „Nicht (willens) wollen“ extrem starken Motiven dazu getrieben, ebenso wie Gewalttäter und Pädophile“ (Darnstädt/ Lakotta 2008). Eine Bestrafung wäre demnach nur sinnvoll, wenn der Angeklagte auch die Möglichkeit gehabt hätte, anders zu handeln (Hagner 2004). Analog wäre eine erzieherische Veränderung nur bei Erziehbarkeit möglich. Roth (zit. nach Speck 2009) ist jedoch der Überzeugung, dass sogenannte „antisoziale Persönlichkeiten“ weder einsichtig in ihr Tun noch überhaupt durch jegliche Erziehungsmaßnahmen - und dies schon im Kindes- und Jugendalter - zu beeinflussen, also nicht erziehbar seien. Markowitsch forderte daher, „derart gefährliche Kinder und Jugendliche in Erziehungsheime zu stecken“ bzw. „wegzusperren“ (Markowitsch 2007, zit. nach Speck 2009). Wie Otto Speck zu Recht kritisiert, stellt sich nicht nur das Problem der „kalten Begrifflichkeiten“, sondern auch die Frage nach den Kriterien des Wegsperrens und danach, „wer die Normen dafür festlegen soll“ (Speck 2009, 191). Das fundamentalste Problem ist indessen, dass eine solche naturalistische Sichtweise, welche das gesamte Verhalten als eine Funktion unserer Hirnzellen betrachtet, unser bisheriges Menschenbild erheblich erschüttert. Damit werden nicht nur Authentizität, sondern auch Schuld und Verantwortung (für sich und andere) in Abrede gestellt. Es sei ja nicht das Ich, sondern das Gehirn, das entscheide, und dieses könnten wir nicht beeinflussen (Speck 2009). Anhand von bildgebenden Verfahren wäre es somit möglich, „Straftäter“, „Psychopathen“ zu erkennen und bereits prophylaktisch lebenslang einbzw. „wegzusperren“ (Kröber 2004). Unsere Hirnstrukturen seien gemäß neurobiologischen Erkenntnissen unserem Ich vorgeschaltet, gewissermaßen als unsere Festplatte, die freie Entscheidungen verunmögliche. „Du glaubst nur, du selber hättest die Entscheidung getroffen. In Wahrheit hat dein limbisches System die Entscheidung getroffen. Warum nicht ich, fragt man zurück? Weil die Entscheidung schon fiel, als sie dir noch nicht bewusst war“ (Kröber 2004, 108). Sollte zukünftig der „Kernspin“ entscheiden, ob „Wegsperrung“ oder allenfalls noch Erziehung möglich ist? Mit einer solchen Diskussion über „Willensfreiheit oder neurologische Determinierung“ wurde die beginnende Heilpädagogik über die Psychiatrie bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert konfrontiert. Damals war es noch nicht der Kernspin, sondern die Psychiatrie, die gerade bei der „moralischen Idiotie“ sich solche Entscheidungen anmaßte. Dies soll im Folgenden erörtert werden. 2 Idiotie der Moral 2.1 Begrifflichkeiten und Widersprüchlichkeiten „Moral insanity“ oder „Moralisches Irresein“ schuf den Ursprung für den heutigen Begriff der „Psychopathie“. Diese weder trennscharfe noch konsensfähige Diagnose galt für eine Vielzahl von gesellschaftlich unerwünschten Verhaltensweisen (Kölch 2002). Laut Prichard umfasste sie „alle aus krankhaften Vorgängen des Fühlens und Handelns entspringenden psychischen Krankheitserscheinungen“ (Prichard 1835, zit. nach Binswanger 1905, 4). Er betrachtete „Moralisches Irresein“ als einen Zustand im Verlauf einer Krankheit - z. B. bei Depressionen. In der Folge wurde diese Definition ganz verschieden diagnostisch und forensisch verwertet, einmal als eigenständige Krankheit, einmal als zeitweiliger Zustand innerhalb eines anderen Störungsbildes (Binswanger 1905). Diese begriffliche und gruppenbildende Kontroverse um die „Moral insanity“ entsprang dem Streit um das isolierte versus das kombinierte Vorliegen solcher „Defekte“ (Maier 1908). So sehe laut Binswanger eine eher schweizerische Gruppe keinen Unterschied zwischen dem „geborenen Verbrecher“ und dem „moralischen Schwachsinn“, eine deutsche Gruppe gehe indessen von einer solchen Unterscheidung aus (Binswanger 1905). Die Vertreter der ersten Sichtweise - VHN 2/ 2010 106 Sabina Sennhauser Maier, Delbrück, Glauser - stützten sich dabei auf die Definition Bleulers (1893, 54; auch Maier 1908), der die „Moral insanity“ als angeborenen „Defect der moralischen Gefühle bei … Erhaltensein der Intelligenz“ definierte. Das „moralische Irresein“ ohne weitere psychopathische Eigenschaften basierte auf dem Versuch Lombrosos, „moral insanity“ einer Varietät der menschlichen Rasse zuzurechnen. Die „moralische Idiotie“ bzw. der „geborene Verbrecher“ wäre demnach ein Atavismus, d. h. ein Stillstand oder Rückschlag auf eine niedere Entwicklungsstufe (Delbrück 1897). Von Tieren, Wilden und Kindern gehe die Geschichte des Bösen aus. Lombroso erweiterte Haeckels Theorie von der Wiederholung der Philogenie in der Ontogenie der Embryonalentwicklung, indem er die kindliche Entwicklung als die phylogenetische wiederholend betrachtete. In den ersten Lebensjahren sei das „moralische Irresein“ zu finden (Person 2005). Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde das Krankheitsbild auf die „früheste kindliche Entwicklung“ eingeengt. Diese Annahme differenzierte jedoch im Strafrecht ungenügend zwischen geisteskrank - also „moralischem Schwachsinn“ - und Verbrecher (Binswanger 1905). Da schon das kleine Kind und „der Primitive(,) die Fähigkeit zur Entfaltung altruistischer Gefühle“ hätten, sei „moralische Idiotie“ kein Atavismus, sondern dem „moralischen Idioten“ würden diese Anlagen gänzlich fehlen (Glaser 1932). Von diesem Streit, der aus der Lombroso’schen Lehre vom „geborenen Verbrecher“ hervorging, blieb die „mehr oder weniger erkannte Lehre vom angeborenen moralischen Schwachsinn“ übrig, meinte Josip Glaser (1932, 93) - Arzt unter dem Burghölzli- Direktor Hans Wolfgang Maier. Glaser differenzierte 1932 aber noch in zwei Gruppen - „moralische Idiotie“ mit oder ohne „Intelligenzdefekt“. Im Unterschied zu den vorhergehenden Autoren bezeichnete er „Moralische Idioten“ nun auch als „Gesellschaftsfeinde“ (Glaser 1932). 2.2 Die Bestimmung der Moral in der „Idiotie“ 2.2.1 In den Anlagen Bleulers Fall Eugen Bleuler (1893) - Direktor der Zürcher Irrenheilanstalt Burghölzli von 1898 - 1927 (Sennhauser 2006) - schilderte die Problematik anhand eines Mannes, der aus einer „angesehenen Pfarrfamilie“ stammte. Die Eltern seien „körperlich und geistig gesund“, indessen sei der Urgroßvater „ein Verbrecher oder sonst eine dunkle Existenz gewesen“ (Bleuler 1893, 56). Laut Angaben des Vaters habe der junge Mann bereits in Kindheit und Jugend sittliche Eigenheiten gezeigt, u. a. ein stilles, verschlossenes Wesen, Sinnlichkeit, Naschsucht, Entwendungen, Mangel an Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Nach einem Aufenthalt bei Pflegeeltern mit zehn Jahren sei er wegen Unredlichkeiten in eine Rettungsanstalt gebracht worden. Nachdem eine Schulung als Landwirt wegen seiner Wahnvorstellungen nicht gefruchtet hätte, wurde er ins Burghölzli „eingeliefert“. Gestohlen habe der Junge laut Mutter schon im Vorschulalter, gemäß dem Rettungsanstaltsleiter sei er einem „schlimmen“ früheren Zögling vergleichbar, so in seiner unersättlichen Sinnlichkeit, im Erzählen von Phantasiegeschichten und in seiner Resignation, z. B. sei er regungslos, wenn er in Einzelhaft müsse (Bleuler 1893). Aus diesen anamnestischen Angaben schloss Forel in seinem Gutachten über den 19-jährigen Jugendlichen, dass er schon früh „auffallende Perversitäten, vor allem ein unverbesserliches, lügenhaftes, diebisches und reizbares Wesen“ und später dann „Mangel an Energie und Arbeitslust, Gemüthsstumpfheit und Willensschwäche“ gezeigt habe. Gleichsam diagnostizierte er einen „moralischen Defekt“, da der junge Mann „moralische Begriffe“ angelernt, aber nicht ethisch verstanden hätte. Als Behandlung - bzw. zur Prävention einer „Verbrecherlaufbahn“ - wurde eine „Internierung“ (beständige Aufsicht) vorgesehen (Bleuler 1893, VHN 2/ 2010 107 „Nicht (willens) wollen“ 59). Bei einem weiteren psychiatrischen Aufenthalt habe der junge Erwachsene mit vielen Leuten Kontakt geknüpft - z. B. als Verfasser von Liebesbriefen für die Wärter -, weswegen ihm zunehmend die Freiheit entzogen bzw. weshalb er auf eine geschlossene Abteilung versetzt wurde. Bei Austausch mit ihm drohte den Wärtern eine Buße von Fr. 20,- bis Fr. 100,-. Sein Verhältnis zu einer Wärterin sei eine wirkliche, aber nicht sehr sinnliche Liebe gewesen, was Bleuler aus dem konfiszierten Tagebuch, Briefen und Fotografien der Geliebten schloss. Der Entwendung dieser persönlichen Unterlagen habe sich der Patient heftig widersetzt (Bleuler 1893). Dennoch stufte ihn Bleuler als nicht empathisch ein. Obschon er „die Phraseologie des frommen Mannes ziemlich zur Verfügung“ habe, fehlten die religiösen Gefühle (Bleuler 1893, 63). Einzig der Begriff der Gerechtigkeit scheine wirksam zu sein, da er „Verstöße gegen die Gerechtigkeit“ sehr gut bemerke (Bleuler 1893, 66). Mangel an ethischen Gefühlen: Willensfreiheit oder Anlage Der geschilderte Patient habe wegen dem angeborenen Fehlen der altruistischen Gefühle auch keine Gründe, anders zu handeln. Beim „moralischen Idioten“ bestehe - infolge mangelnder Differenzierung zwischen Gut und Böse - kein Kampf zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns (Bleuler 1893). Ohne altruistische Gefühle würde die Gesellschaft sich in Richtung eines „Kampfes aller gegen alle“ bewegen, während solche Gefühle eine Lustmaximierung ermöglichten (Bleuler 1896). Der Verbrecher und der Geisteskranke würden sich einzig im Kriterium der Willensfreiheit unterscheiden. Bei Fehlen der Willensfreiheit liege Geisteskrankheit vor, ansonsten Verbrechen. Da „die gerichtliche Praxis“ aber noch Willensfreiheit voraussetze, genüge der „ethische Defekt“ noch nicht als Beweis für die Krankheit (Bleuler 1893). Die Kausalität führte Bleuler beim „Verbrecher“ und der „moralischen Idiotie“ auf eine „abnorme Hirnorganisation“, basierend auf einer „defekten Keimanlage“, zurück (Bleuler 1896, 52). Daher seien die „moralischen Idioten“ sowohl als „Verbrecher“ als auch als geisteskrank zu diagnostizieren und zu behandeln, ohne den Einfluss der Erziehung beizuziehen (Bleuler 1893). Der Psychiater könne nun die (A-)Normalitätsgrade der Eigenschaften des Patienten genau eruieren. Wenn er „ jeden Fall so nehmen“ könnte „wie er ist, …, so wüsste man gewöhnlich, was man zu thun hätte. Einen als unheilbar zu betrachtenden Verbrecher würde man für immer unschädlich machen, … Erste Bedingung … ist, dass Juristen und Publikum den Begriff der Willensfreiheit aufgeben …“ (Bleuler 1893, 75). Zur Befreiung von der gesellschaftlichen „Sorge um den Delinquenten“ und zum Schutz vor Wiederholungen und vor weiterer Nachkommenschaft wäre die Todesstrafe bei „unheilbaren Verbrechern“ vorzuziehen. Wegen des „verderbenden Einflusses“ auf die Ehrlichen sei aber auf die Hinrichtung zu verzichten (Bleuler 1896, 74 - 75). Anzustreben sei, die strafrechtlichen Grundlagen auf den Boden praktischer Bedürfnisse zu versetzen, rechtsphilosophische Theorien zu negieren, die Gesellschaft zu schützen und Verbrecher „human zu behandeln“, d. h. die Unverbesserlichen „unschädlich“ zu machen und die Heilbaren zu heilen. Das erreiche zwar seine Generation nicht mehr. Sie könnten aber durch Aufklärung und Belehrung „auf die Verwirklichung unserer Ideen“ hinarbeiten (Bleuler 1896). Hans Wolfgang Maier (1908) berichtete denn auch von gerichtlichen Fällen mit moralischer Idiotie aus der Zürcher Klinik. Bei der Anamnese seien vor allem die Reaktionen im praktischen Leben bis in die Kindheit zurückzuverfolgen. Bei fünf geschilderten Fällen (16 Jahre, sieben Jahre, zweimal 18 Jahre und einem älteren Mann) konstatierte Maier entweder Alkoholismus in der Familie oder familiäre “moralische Idiotie“, jedoch keinen „Intelligenzdefekt“. Die „moralischen“ Vergehen bestanden in Lügen, Diebstahl, sexuellem Missbrauch oder VHN 2/ 2010 108 Sabina Sennhauser auch in Arbeitsscheu („faul“), Unruhe, „störrischem Benehmen“ und Raufereien. Den Auffälligkeiten ging aber zumeist auch ein einschneidendes Ereignis voraus: so zweimal Scheidung der Eltern sowie sexueller Missbrauch. Die Kinder waren in Korrektionsanstalten, Erziehungsanstalten, aber auch im Zuchthaus, von wo sie entweder fortliefen oder angeblich durch erneuten Diebstahl auffielen und verwiesen wurden. Zwei waren Bettnässer (Maier 1908). Die „moralisch Imbezillen“ - nicht aber die „moralischen Idioten“ - seien von Verstößen gegen die Ordnung einzig durch Disziplinierung, z. B. durch Entzug des Sonntagsspaziergangs, Abschreibung der Milchzulagen, Versetzung ins Bett abzuhalten. Bei den „moralischen Idioten“ müsse man „unbedingt die Eliminierung solcher Kranken aus der Gesellschaft durchsetzen“ (Maier 1908, 27). Die Tötung wäre das „Vernünftigste“ und für alle „Schonendste“. Da aber die allgemeine Moral dagegen spreche, müsse man die Prophylaxe der „moralischen Idiotie“ ins Auge fassen, zumal diese durch Vererbung und Alkoholismus verursacht sei (Maier 1908). An der Idiotenkonferenz im Jahre 1909 bezeichnete der Zürcher Nervenarzt Frank - im Gegensatz zum Referenten Emil Hasenfratz (1909) - den Einfluss der Erziehung bei diesem Störungsbild als unwirksam; geboten sei eine dauernde Versorgung der „angeborenen Moralischdefekten“, zumal die Vererbung von moralischen Eigenschaften sicherer sei als die der intellektuellen (Frank 1909, 175). Hasenfratz (1909) beschrieb am selben Anlass die „moralischen Idioten“ als im schulpflichtigen Alter - v. a. in der Hilfsschule - erkennbar. Maiers Schüler Glaser definierte die Symptomatik vergleichbar. So sei ein Hang zu antisozialem Verhalten vorhanden, etwa „zur Grausamkeit und Neckerei“ usw. bis hin zum „Unvermögen, sich einer Autorität oder einer Ordnung zu fügen und die Unbeeinflussbarkeit durch Erziehung und Strafe …“ (Glaser 1932, 101 - 102). Obschon Glaser die Wechselwirkung von Erziehung und Anlage wie auch die Möglichkeit der Besserung durch gute Erziehung diskutierte, sei doch die Mehrheit der „Fälle“ anlagebedingt, wie Bleuler und Maier aufgezeigt hätten. Die individualpsychologische Auffassung Alfred Adlers stelle allerdings diese Ursache in Abrede, vielmehr sei es eine „Folge der äußeren Einflüsse, der Erziehung, des Beispiels, Milieus und der damit zusammenhängenden Erlebnisse“. Zum Beweis der anlagebedingten Verursachung bezog Glaser sich auf den „Bleulerschen“ Fall, d. h. auf den jungen Mann, welcher eben gerade aus guten Verhältnissen stamme und damit eine gute Erziehung genossen habe (Glaser 1932). Auch Heinrich Hanselmann (1927) tendierte, analog zur individualpsychologischen Sichtweise, zu umweltbedingten Störungen. Die Erziehungsfehler (der Eltern oder Lehrpersonen) würden die pathologische Störung bewirken. Ein solches Kind sei nicht absichtlich boshaft oder faul. In der Schule seien es diejenigen Kinder, „die den Lehrer zur Verzweiflung und … zu jenen bedauerlichen, den ganzen Lehrerstand schädigenden Überschreitungen des Züchtigungsrechtes treiben“ (Hanselmann 1927, 684). Auch Erziehungsanstalten seien nicht geeignet, da dort häufig die Strenge noch verstärkt statt vermindert würde. Es nütze nichts, wenn man mit Strafen die „bösen Eigenschaften“ austreiben oder damit den Trotz brechen wolle. Nicht Strafe, sondern Beobachtung stehe am Beginn, gefolgt von einer Aussprache unter vier Augen und dem Aufbau einer Bindung (Hanselmann 1927). Die Anlagebedingtheit der Moral, welche den Verbrecher nicht vom „moralischen Idioten“ und vom „Geisteskranken“ unterschied, führte zur von Bleuler plädierten Abrede der Willensfreiheit. Dieser Verzicht sollte Bleuler zufolge zur „Abschaffung einer gesetzlichen Grundlage“ führen. Anstelle eines Strafmaßes sollte eine subjektive Zuweisung der Diagnose - „Verbrecher“ oder „moralischer Idiot“ - und des Behandlungsmaßes durch die Psychiater erfolgen. Diese Diagnostik basierte jedoch weniger auf Beobachtung als vielmehr auf anam- VHN 2/ 2010 109 „Nicht (willens) wollen“ nestischen Untersuchungen (Maier, Forel). Der Richtwert für die Behandlung wäre die Heilbarkeit bzw. Unheilbarkeit der Geisteskrankheit. Damit wäre die „Heilbarkeit“, also auch die Behandlung von der willkürlichen Einschätzung der Psychiater abhängig. Die Behandlungsmethoden und die Kausalkenntnis waren aber damals in der Psychiatrie noch immer dieselben wie in den Jahren zuvor (Ackerknecht 1985). Obschon zumindest der „Imbezillität“ noch eine mögliche „Erziehbarkeit“ zugesprochen wurde, wurde den „Idioten“ Erziehbarkeit und Lebensrecht insbesondere von Maier abgesprochen. Es macht indessen den Anschein, dass sich die Erziehung auf Disziplinierung, d. h. die Anpassung an eine Ordnung beschränkte. Auch Meier u. a. (2007) kommen zum Schluss, dass Heilbarkeit mit Anpassung an die Anstaltsordnung - Wahrung der Ruhe - gleichgesetzt wurde. Einer solchen Sichtweise setzte sich Hanselmann entgegen, indem er nicht naturalistisch das anlagebedingte Gehirn, sondern individualpsychologisch das Individuum ansprach und für eine responsive Erziehung plädierte. 2.2.2 Im Intellekt In einer eher „deutschen“ Psychiatrie war eine andere Gruppe vertreten, die davon ausging, dass der „geborene Verbrecher“ nicht der „Moral insanity“ entspreche, außer wenn nebst dem „moralischen Defekt“ auch eine „geistige Erkrankung“ - eine intellektuelle Entwicklungshemmung oder eine andere psychische Krankheit - vorliege. So umfasse bereits der angeborene Schwachsinn - v. a. die Idiotie - eine Gefühlsverarmung und -stumpfheit. Einhergehend mit der „verkümmerten intellektuellen Entwicklung“ würden sich perverse Gefühlsregungen „mächtig“ entfalten (Binswanger 1905, 10). Bei seinem Klienten mit „moralischer Idiotie“, der ab zehn Jahren bis zum Alter von 16 Jahren in der Psychiatrie weilte, würde die „so geringfügige intellektuelle Leistungsfähigkeit ausschließlich in den Dienst dieser perversen Gefühlsregungen gestellt“ (Binswanger 1905, 14). Unter planmäßiger Führung - v. a. in Erziehungsheimen oder Hilfsschulen - würden sich jedoch Gefühle der Dankbarkeit, der Heimatliebe und der Anhänglichkeit entwickeln, d. h. altruistische Regungen. Ursachen für diese „moralische Idiotie“ waren wiederum Vererbung, Alkohol- oder Syphiliseinfluss (Binswanger 1905). Die „Gefühlsperversionen“ wurden nun als Folge des „mangelnden Intellektes“ und als erziehbar betrachtet. Diese Kombination von „Imbezillität“ und „moralischem Irresein“ lässt sich bereits 1891 bei Paul Sollier finden, welcher in der Abteilung für „idiotische Kinder“ im Bicêtre (Frankreich) arbeitete und „Imbezille“ als „arbeitsscheu, asozial, Vagabunden, Prostituierte, geschlechtlich pervers, faul und zuchtlos“ bezeichnete. Die Verbindung von „Idiotie“ bzw. von „Imbezillität oder Schwachsinn“ mit „Anti-Sozialität“ und „moralischen Defekten“ setzte sich von Theodor Heller im Jahr 1904 über das Enzyklopädische Handbuch der Heilpädagogik von 1911 bis zu Arno Fuchs in den 1920er Jahren fort (Jantzen 1980, 2003). Im besagten Handbuch wird der „Imbezille“ als u. a. gefühlsarm, häufig in kriminelle Machenschaften verwickelt und als bei Strafvollzug und Militärdienst scheiternd beschrieben (Dannemann 1911). Bei der „Moral insanity“ oder „moralischen Anästhesie“ sei „neben guten sonstigen geistigen Leistungen ein auffälliger Zug von gemütlicher Stumpfheit und Bildungsunfähigkeit auf dem Gebiete der moralischen Empfindungen schon in früher Kindheit zu beobachten“. Ursächlich wurde eine „heriditäre Belastung“ nebst Krankheiten oder Unfällen im Kindesalter angegeben sowie symptomatisch eine - nicht sogleich feststellbare - intellektuelle Schwäche (Dannemann 1911, 56 - 57). Eine mögliche Erklärung für die Kombination mit dem „Intellekt“ liefert Näcke (1902), ebenfalls Irrenarzt. Ihm zufolge vertritt die neuere Psychologische Lehre entgegen der früheren „Isolierung“ nunmehr eine Verbundenheit der Funktionen des Fühlens, Denkens VHN 2/ 2010 110 Sabina Sennhauser und Wollens. Die den Intellekt begleitenden Lust- und Unlustgefühle seien die Wurzel des Willens und würden vor dem Intellekt bestehen. Die Moral sei die Summe aller altruistischen Gefühle, richte sich nach dem Nützlichen aus und entwickle sich über die Nächstenliebe zur Gattungsliebe. Gefühle sind laut Näcke der Ursprung des „Intellektes“ und des „Willens“, ohne sie oder bei „Störungen“ seien demnach „Intellekt“ und „Wille“ nicht vorhanden oder ebenfalls gestört. Über Fälle von „Moral insanity“ mit „intaktem“ Intellekt habe nur Bleuler berichtet. Die „Idioten“ könnten zwar gutmütig sein und auch altruistische Gefühle zeigen, indessen würde bei den „Imbezillen“ das Triebleben überwiegen, sodass der Name „Antisoziale“ für sie passend sei. Eine anatomisch begründete und klinisch „demonstrable“ echte „Moral insanity“ (bei intaktem Intellekt) gebe es kaum. Menschen mit einer solchen Diagnose seien zurechnungsfähig, hingegen nicht mit einem (zusätzlichen) „Intelligenzdefekt“. Im Gegensatz zur englischen Rechtsprechung, welche einen „moralischen Schwachsinn“ anerkenne, unterlasse dies das Deutsche Strafgesetzbuch. Vornehmlich hätten sich Juristen dagegen gesträubt (Näcke 1902). In Deutschland sei die „Moral insanity“ noch nicht als alleiniger Grund zur Unzurechnungsfähigkeit erkannt (Frank 1909). 2.2.3 Im sozialen Status War es bei Bleuler ein Erwachsener, so wurden bei Maier, Näcke und Binswanger Jugendliche und Kinder in der Irrenanstalt begutachtet. Insbesondere bei den Fürsorgezöglingen, v. a. Kinder der sozialen Unterschicht, seien viele psychische Mängel auszumachen. Die Ärzte hingegen entstammten vorwiegend der bürgerlichen Schicht, also eher der Oberschicht (Kölch 2002). Eine solche Zuweisung an die soziale Unterschicht lässt sich beispielhaft bei der Schilderung von sittlicher Verwahrlosung durch den Juristen Robert Briner ersehen. Laut Briner ist die Kriminalität Ausdruck der sittlichen Verwahrlosung. In Zürich müsse sich die Jugendanwaltschaft mit ca. 700 - 800 kriminellen Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen. Die Ursachen der Verwahrlosung seien „Schwachsinn“ - d. h. „Idiotie, Imbezillität und Debilität“. Dazu zählte Briner auch Repetenten und Nicht-Absolventen der gesamten achtjährigen Schuldauer. Die Verwahrlosung resultiere aus der Urteilsschwäche, der Haltlosigkeit und der Labilität. Nebst der „intellektuellen Schwäche“ liege eine „Gefühlsstumpfheit“ vor, z. B. Grausamkeit, Rachsucht. Sehr oft seien die Kinder und Jugendlichen darüber hinaus Bettnässer, was dann auch zu Liederlichkeit und Arbeitsscheu führe. Diese psychopathischen Kinder könnten sich in der Welt nicht zurechtfinden und würden deswegen zu „antisozialen Elementen“ (Briner 1923). Seit neuester Zeit erst hätten Psychologie, Psychiatrie, Jugendstrafrechtspflege und Jugendhilfe diese Gefahren erkannt. Die Verwahrlosung oder das asoziale Verhalten trete indessen nur auf, „wenn es zur rechten Zeit an der richtigen Behandlung fehle“. Zwar rücke man nun ab vom „geborenen Verbrecher“ nach Lombroso; die moderne Schule lasse nur noch Prädisposition gelten, d. h. „eine angeborene geringe Widerstandskraft gegen moralische Versuchungen“ (Briner 1923, 508). Das von Briner skizzierte Bild der Verwahrlosung ist vergleichbar mit der zuvor beschriebenen „moralischen Idiotie“; indessen wird nun „Gefühlsstumpfheit“ mit mangelnder Intelligenz und zusätzlich - wie nachfolgend ersichtlich - mit sozialer Herkunft kombiniert. Ob die Grenzen ausprobiert würden, sei von den sozialen Verhältnissen abhängig. Verheerend sei eine schlimme Anlage, gepaart mit einem schlimmen Milieu. Weitere Ursachen seien die soziale Lage der Familie, die Wohnungsverhältnisse, Zerrüttung, uneheliche Abstammung, Armut, Scheidungen usw. Die Überwindung dieser Ursachen sah Briner in rassehygienischen Maßnahmen sowie im Ausbau der Sozialpolitik bzw. der Sozialhygiene, VHN 2/ 2010 111 „Nicht (willens) wollen“ d. h. der frühen Erfassung, dem Zusammenwirken von Pädagogen und Arzt sowie der individuellen gründlichen Behandlung. Ferner umfasse die Sozialpolitik die Zusammenarbeit von Schul-, Vormundschafts-, Armenbehörden und Strafrichter. Dabei hätten strafrechtliche Maßnahmen der Erziehung zu dienen. Dem folge die Aufklärung des Volkes über diese Maßnahmen (Briner 1923). Die richtige Behandlung würde die - durch soziale Verhältnisse ausgelöste - Asozialität verhindern. Möglicherweise bestand eine solche Behandlung auch in der Bevormundung und Kindswegnahme, denn in Zürich wurde damals das Vormundschaftswesen ausgebaut, nicht zuletzt infolge eines Gesetzesartikels aus dem eidgenössischen Zivilgesetzbuch von 1912 (Huonker 2003), der den Vormundschaftsbehörden die Kindswegnahme bei Verwahrlosung erlaubte (ZGB Art. 285, zit. nach Hasenfratz 1929). Laut Kölch (2002) geriet in dieser Zeit die Betrachtung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen zum Versuch der Kontrolle der Oberbzw. Mittelschicht über die Unterschicht, denn die bei Unterschichtskindern beobachteten „Verhaltensauffälligkeiten“ wurden als Gefahr für die bürgerliche Ordnung gedeutet. 3 Folgerungen Nebst der begrifflichen Vielfalt und unterschiedlichen Zuschreibungen divergieren die Auffassungen über „Moral insanity“ vorwiegend in Bezug auf die „Intelligenz“. Während die einen die Existenz einer isolierten „Moral insanity“ im Sinne Bleulers eher verneinen (Näcke, Binswanger), wird sie von den anderen umso vehementer vertreten (Forel, Bleuler, Maier, Glaser). Die Gemeinsamkeit besteht indessen darin, dass beide Gruppen eine Unzurechnungsfähigkeit anstrebten, sei es in der Gleichsetzung der „moralischen Idiotie“ ohne Intelligenzdefekt mit Geisteskrankheit oder der „moralischen Idiotie“ aufgrund des Intelligenzdefektes mit Geisteskrankheit. Als Symptomatik der fehlenden Moral wurde hingegen beiderseits ein Mangel an altruistischen Gefühlen vertreten, der sich letztlich in der „Nicht-Anpassung an eine (ihre) Ordnung“ äußerte. Die Ursachen des Gefühlsmangels wurden entweder im isolierten Vorliegen von fehlenden Anlagen (Bleuler, Maier, Glaser, Frank) oder in deren Kombination mit einer „Störung des Intellektes“ (Näcke, Binswanger) geortet. In gewissen Auffassungen wurden sie zusätzlich mit sozialer Herkunft (Briner) in Verbindung gebracht oder dann nur im Umfeld (Erziehungsfehler) (Hanselmann) lokalisiert. Während bei einer anlagebedingten Verursachung (Bleuler, Maier) die Wirkung von Erziehung verneint wird, ist diese bei der Kombination mit dem „Intellekt“ wiederum eher möglich. Bei beiden Auffassungen - außer bei individualpsychologischen Gegenpositionen (Adler, Hanselmann) - erscheint die Erziehung indessen in Form einer „Dressur“, welche nicht zuletzt auch der Schichtenstabilisierung diente. Dadurch konnte bereits auf Kinder einer bestimmten sozialen Herkunft Einfluss genommen werden - auch durch die zivilgesetzlich legalisierte Kindswegnahme. Die moralische Behandlung des „Idioten“ wird von Foucault als Konfrontation von zwei Willen (des Arztes und des Kranken) beschrieben, die um die Macht kämpfen. Dabei sei der „Idiot“ derjenige, der nicht wollen will. Einem Lehrmeister vergleichbar, wird nun der Psychiater zum alleinigen Meister, die Anstalt zum Disziplinarraum. Damit die Psychiater aber nun auch an „Idioten“ gelangten (mit der Kostenübernahme der Gemeinde), mussten diese gefährlich sein, so Foucaults These (Foucault 2005, 311ff ): „Die Gefahr ist jenes dritte Element, das es ermöglicht, den Prozess der Internierung und Unterstützung in Gang zu setzen, und die Ärzte stellen tatsächlich Bescheinigungen in diesem Sinne aus“ (317). Um den Idioten hatte sich nun eine Familie gebildet, „vom Lügner zum Giftstreuer, vom Päderasten zum Mörder … - dieses ganze allgemeine Gebiet der Anomalie, …“. Zusammen ergab sich VHN 2/ 2010 112 Sabina Sennhauser ein Spannungsfeld um die „moralische Idiotie“ von „(Nicht-)Anpassung an eine Ordnung“ (Irrenanstalt, bürgerliche Schicht) als Symptomatik, deren Folge das Absprechen der Willensfreiheit, d. h. die „Unzurechnungsfähigkeit“ ist, die durch die „Anlage“ in Kombination mit Intellekt und als letztes hinzugefügtes Element „sozialer Herkunft“ verursacht wird. Die Psychiatrie hatte die Tendenz, zu einer Macht über das Anormale zu werden, „zu einer Macht, die bestimmt, was anormal ist, es kontrolliert und korrigiert“ (Foucault 2005, 319). Eine solche Macht wurde im Prinzip von Bleuler (sowie von Maier) beansprucht, indem er aufgrund der Negierung der Willensfreiheit statt „Richter“ die „psychiatrische Begutachtung und Bemessung der Behandlung“ forderte, womit der Betroffene in psychiatrische Willkür geraten würde; zumal es laut Bleuler und Maier (subjektiv) gerechtfertigt wäre, „Unheilbare“ „unschädlich zu machen“. Der damalige Materialismus - zu welchem auch die Ansichten Bleulers zu zählen sind - hat laut Pauen (2007) seinen Erklärungsanspruch weiter ausgedehnt und auch „spekulative“ Behauptungen aufgestellt, so wurde auch Metaphysisches - z. B. Willensfreiheit - abzusichern versucht. Letztlich widerspiegle die Diskussion um die Willensfreiheit den Konflikt zwischen den auf Vereinheitlichung, Reduktion und Bestimmung von Gesetzmäßigkeiten abzielenden empirischen Wissenschaften und „dem menschlichen Anspruch auf Einzigartigkeit, Irreduzibilität und Freiheit der Geisteswissenschaften“ (Pauen 2007, 124). Laut Speck (2008) geht es im Sinne des epistemischen Dualismus nach Habermas (2005, 172) darum, subjektive Willensfreiheit und objektive Determiniertheit des Handelns als zwei Aspekte derselben Wirklichkeit anzusehen, die zwar korrelieren können, sich aber nicht gegenseitig erklären oder gar miteinander verschmelzen. Die Begründungen der Urteils- und Handlungsprozesse sind mit dem Individuum selbst verbunden (Habermas 2005, 168). Willensfreiheit ist in diesem Sinne moralische Freiheit, d. h. sofern der Mensch „sich das Gesetz (Nomos) selbst gibt. Da ,selbst‘ auf griechisch ,autor‘ heißt, spricht Kant von Autonomie … Die Frage der Willensfreiheit entscheidet sich jedenfalls nicht … an einer ,Atomaren‘ Handlung, sondern an der Art des zugrundeliegenden Gesetzes“ (Höffe 2004, 181). Der normative Inhalt einer moralischen Entscheidung ist demzufolge nicht neuronal, sondern kulturell gegeben, also im sozialen Miteinander, und in diesem Bereich hat Erziehung bzw. Pädagogik ihre Berechtigung (Speck 2008). Es geht und ging demnach um die Problematik der Transformation der Biologie in Kultur und umgekehrt. Normen - ob des Strafrechts oder der Moral - werden oder wurden durch die Kultur, d. h. die Gemeinschaft gebildet. Dabei stellt sich die Frage, wie sich physiologische, neurologische oder genetische in kulturelle Vorgänge übersetzen lassen; und genau daran scheitert laut Habermas (2005) die Naturalisierung des Geistes. Woran lässt sich die Begründung für eine Handlung - bzw. der Inhalt derselben - in einem Kernspin oder in den Genen erkennen? Sind anamnestische Angaben oder die soziale Schicht ausreichend, um daran die fehlenden Anlagen für die altruistischen Gefühle zu erkennen? Diese Deutung von latenten Variablen ist damit hypothetischer - bei der beschriebenen Diskussion über „die moralische Idiotie“ sehr subjektiver - und nicht abschließender Natur. Zudem führt eine - auf Gefühlen basierende - Handlungsverpflichtung zu einer Eliminierung des moralischen Denkens - damit auch von Argumenten und Gründen - und wäre vergleichbar mit einer „Dressur“ (Bayertz 2004). Als eine solche „Dressur“ könnte die Disziplinierung Maiers oder die von Foucault aufgeworfene Schulmeisterliche Erziehung im Machtgefälle Arzt - Patient aufgefasst werden. Wird indessen der nicht (willens) wollende Idiot dem Willen des „Meisters“ nicht gefügig, so könnte sich das Absprechen des Willens des „Idioten“ auch aus einer Frustration über die nicht fruchtende „Dressur“ ergeben haben. Um seine Macht zu wahren, wird der Idiot von seinem „Meister“ objektiviert - also vollständig entmachtet. VHN 2/ 2010 113 „Nicht (willens) wollen“ Obschon die psychiatrische Rezeption des naturwissenschaftlichen Materialismus zur innovativen „Befreiung von den Irren“ von philosophischen und theologischen Schuldzuweisungen und damit zu einem Beginn von Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen geführt hat, beanspruchte sie auch eine naturwissenschaftliche Vormachtstellung gegenüber den Geisteswissenschaften (Philosophie, Theologie) und damit gegenüber dem Subjekt. Die Gefahr liegt also vielmehr darin, das Physiologische, Neurologische oder Genetische über das Geistige und Moralische zu stellen, dadurch zu erklären und zu determinieren - oder umgekehrt - und damit den Machtanspruch des einen über das andere auszuweiten. Wie dem auch sei: Die eingangs erwähnte These des Neurobiologen Roth über die Verbrechen von Exponenten totalitärer Diktaturen greift auch aufgrund der Revisionismusgefahr klar zu kurz. Laut dem Strafrechtsprofessor Burckhardt ist die „Persönliche Schuld“ die Grundlage des Strafrechtes. „Der innere Grund des Schuldvorwurfs ist darin zu sehen, dass der Mensch darauf angelegt ist, im Bewusstsein der Freiheit zu handeln und sich als Urheber seiner Entscheidungen zu begreifen“ (Burckhardt 2004, 11). Literatur Ackerknecht, Erwin (1985): Kurze Geschichte der Psychiatrie. 3., verbesserte Auflage. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag Bayertz, Kurt (2004): Warum überhaupt moralisch sein? München: Beck Bleuler, Eugen (1893): Über „moralische Idiotie“. In: Wernich, A. (Hrsg.): Vierteljahresschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen. Dritte Folge. VI. Band. Supplement- Heft. Berlin: Verlag von August Hirschwald, 54 - 77 Bleuler, Eugen (1896): Der geborene Verbrecher. München: J. F. Lehmann Binswanger, Otto (1905): Über den moralischen Schwachsinn, mit besonderer Berücksichtigung der kindlichen Altersstufe. In: Ziegler, Th.; Ziehen, Th. (Hrsg.): Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der Pädagogischen Psychologie und Physiologie. Berlin: Verlag von Reuthe & Reichard Briner, Robert (1923): Verwahrlosung und Kriminalität der schulentlassenen Jugend. In: Schweizerische Gesellschaft für Gesundheitspflege (Hrsg.): Schweizerische Zeitschrift für Gesundheitspflege. Fortsetzung des Jahrbuches der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 4. Vol., 3. Jg., 505 - 519 Burckhardt, Björn (2004): Bemerkungen zu den revisionistischen Übergriffen der Hirnforschung auf das Strafrecht. Erweiterte Fassung eines Beitrages zur Podiumsdiskussion Neuro 2004 Symposium I: Der freie Mensch - eine Illusion? Abdruck des ursprünglichen Beitrags in: Kaiser, G. (Hrsg.) (2005): Dokumentation Neuro 2004: Hirnforschung für die Zukunft, 40 - 49 Dannemann, Adolf (1911): Moralische Anästhesie. In: Dannemann, A.; Schober, H.; Schulze, E.: Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Halle a. S.: Carl Marhold, 56 - 57 Darnstädt, Thomas; Lakotta, Beate (2008): Von Menschen und Monstern. In: Der Spiegel 19, 64 - 74 Delbrück, Anton (1897): Gerichtliche Psychopathologie. Ein kurzes Lehrbuch für Studierende, Ärzte und Juristen. Leipzig: Johann Ambrosius Barth Foucault, Michel (2005): Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973 - 1974. Herausgegeben von Jacques Lagrange. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Frank, L. (1909): I. Votant zu „Die moralisch Schwachen“ von Hasenfratz. In: Auer, C. (Hrsg.): Verhandlungen der VII. Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen in Altdorf am 5. und 6. Juli 1909, 173 - 175 Glaser, Josip (1932): Zum gegenwärtigen Stand der Frage vom moralischen Defekt. In: Bumke, O. u. A. (Hrsg.): Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Berlin: Julius Springer, 93 - 103 Habermas, Jürgen (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/ M.: Suhrkamp VHN 2/ 2010 114 Sabina Sennhauser Hagner, Michael (2004): Homo cerebralis. Eine wissenschaftsgeschichtliche Einschätzung. In: Geyer, Ch. (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 250 - 254 Hanselmann, Heinrich (1927): Ueber die Hilfe für Kinder, die dem ordentlichen Unterricht nicht zu folgen vermögen. In: Schweizerische Zeitschrift für Gesundheitspflege, VII. Jahrgang, 5. Heft. Sonderheft: Dritter Zürcher Jugendhilfekurs 11. - 16. Juli 1927. Thema: Die Hilfe für die schulpflichtige Jugend, 670 - 692 Hasenfratz, Emil (1909): Die moralisch Schwachen. In: Auer, C. (Hrsg.): Verhandlungen der VII. Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen in Altdorf am 5. und 6. Juli 1909, 160 - 172 Höffe, Otfried (2004): Der entlarvte Ruck. Was sagt Kant den Gehirnforschern? In: Geyer, Ch. (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 177 - 182 Huonker, Thomas (2003): Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890 - 1970. Zürich: Orell Füssli Verlag Jantzen, Wolfgang (2003/ 1980): Die Entwicklung des Begriffs Imbezillität als Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit Minderheiten - Ein Beitrag zur Ideengeschichte von Psychiatrie und Behindertenpädagogik. Verfasst im Oktober 1980 anlässlich eines Vortrags auf der 17. Arbeitstagung der Dozenten für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern in Essen Kölch, Michael Gregor (2002): Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin 1920 - 1935. Diagnose „Psychopathie“ im Spannungsfeld von Psychiatrie, Individualpsychologie und Politik. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der medizinischen Doktorwürde des Fachbereichs Humanmedizin der Freien Universität Berlin Kröber, Hans-Ludwig (2004): Die Hirnforschung bleibt hinter dem Begriff strafrechtlicher Verantwortlichkeit zurück. In: Geyer, Ch. (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 103 - 110 Maier, Hans Wolfgang (1908): Über „moralische Idiotie“. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Genehmigt auf Antrag von Herrn Prof. Dr. Bleuler. Leipzig: Johann Ambrosius Barth Meier, Marietta; Bernet, Brigitta; Dubach, Roswitha; Germann, Urs (2007): Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich 1870 - 1970. Zürich: Chronos Verlag Näcke, Paul (1902): Über die sogenannte „Moral insanity“. Wiesbaden: Verlag von J. F. Bergmann Pauen, Michael (2007): Vom Streit über die Seelenfrage bis zur Erklärungslücke. Wissenschaftlicher Materialismus und die Philosophie der Naturforscher im Vergleich mit dem Physikalismus der Gegenwart. In: Bayertz, K.; Gerhard, M.; Jaecke, W. (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 102 - 126 Person, Jutta (2005): Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870 - 1930. Köln: Königshausen & Neumann Sennhauser, Sabina (2006): Eugenische Tendenzen in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung in der schweizerischen Psychiatrie 1880 - 1920. Eine Analyse des eugenischen Gedankengutes der Direktoren August Forel und Eugen Bleuler und dessen Umsetzung in Form der Behandlungsmaßnahmen an Menschen mit geistiger Behinderung in der psychiatrischen Klinik Zürich (Burghölzli). Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit der Universität Fribourg/ CH Speck, Otto (2008): Hirnforschung und Erziehung. Eine pädagogische Auseinandersetzung mit neurobiologischen Erkenntnissen. München: Ernst Reinhardt Speck, Otto (2009): Hirnforschung und Erziehungshilfe - Neurobiologische Chancen und Begrenzungen. In: VHN 78, 186 - 196 Lic. phil. Sabina Sennhauser Universität Freiburg/ Schweiz Heilpädagogisches Institut Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: sabina.sennhauser@unifr.ch
