eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete79/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2010.art15d
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Elternwahlrecht!? Über Dienstbarkeit, Endlichkeit und Widersinn des Elternwillens

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Hans Wocken
Das Recht von Eltern, ihr Kind auf eine Schule ihrer Wahl zu schicken, gilt als ein demokratisches Grundrecht. Die Abhandlung zeigt, dass das Elternwahlrecht sowohl im gegliederten wie in einem inklusiven Schulsystem dysfunktional ist. Der demokratische Touch der freien Schulwahl vernebelt die real existierende Selektion und dient vornehmlich der Befriedigung selektionsgepeinig-ter Eltern. Gefordert wird ein uneingeschränktes und nachhaltiges Elternwahlrecht, wohl wissend, dass damit das Ende des gegliederten Schulsystems eingeläutet wird.
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VHN, 79. Jg., S. 186 - 195 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art15d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 186 Elternwahlrecht! ? Über Dienstbarkeit, Endlichkeit und Widersinn des Elternwillens Hans Wocken Universität Hamburg n Zusammenfassung: Das Recht von Eltern, ihr Kind auf eine Schule ihrer Wahl zu schicken, gilt als ein demokratisches Grundrecht. Die Abhandlung zeigt, dass das Elternwahlrecht sowohl im gegliederten wie in einem inklusiven Schulsystem dysfunktional ist. Der demokratische Touch der freien Schulwahl vernebelt die real existierende Selektion und dient vornehmlich der Befriedigung selektionsgepeinigter Eltern. Gefordert wird ein uneingeschränktes und nachhaltiges Elternwahlrecht, wohl wissend, dass damit das Ende des gegliederten Schulsystems eingeläutet wird. Schlüsselbegriffe: Freie Schulwahl, Elternwahlrecht, Selektion, Inklusion The Parental Right to Choose! ? On the Right of Use, the Finiteness and the Nonsense of the Parental Will n Summary: The right of the parents to send their child to a school of their choice is considered a fundamental democratic right. This essay reveals that the parents’ right to choose is dysfunctional both in segmented and in inclusive school systems. The democratic touch of a free choice of school bedims the actually existing selection and helps above all to pacify the parents anguished by selective procedures. An unlimited and ongoing parental right of choice is postulated, well knowing that such a demand sounds the bell for a segmented school system. Keywords: Free choice of school, parental right to choose, selection, inclusion Das provokative Essay 1 Das Elternwahlrecht als Spielball partialer Interessen Bildungssysteme, die verschiedene Schulformen und -arten vorhalten und in denen nicht alle Kinder eine gemeinsame Schule besuchen, müssen ein Verteilungsproblem lösen: Welche Kinder dürfen oder müssen welche Schule besuchen? Und: Wer entscheidet über die Schullaufbahn der Kinder: Die Eltern nach eigenem Gutdünken? Durch Tests unterstützte Aufnahme- und Überweisungsverfahren? Der Notendurchschnitt eines Zeugnisses? Oder das Urteil von Lehrern der abgebenden und aufnehmenden Schulen? Alle - die Eltern, die Lehrer, die Schulbehörde - wollen nur das Beste für das Kind, aber wer weiß denn wirklich, was das Beste ist? Wer kann mit prophetischer Gewissheit die Entwicklung von Kindern vorhersagen? In einem gegliederten Schulsystem ist die Verteilung der Schüler auf unterschiedliche Schulen ein höchst brisantes Politikum, weil die Schule bereits im zarten Alter von 11 Jahren die vorentscheidenden Weichen für den späteren Platz in der Gesellschaft stellt und damit zu einer zentralen Agentur für die Verteilung von Lebenschancen wird. Im Folgenden soll insbesondere das sog. Elternwahlrecht, also das Recht der Eltern auf eine freie Schulwahl, auf seine Vorzüge wie auch auf seine Probleme hin analysiert werden. Welch unterschiedlichen Stellenwert das Elternwahlrecht in einem gegliederten Schulwesen haben kann, sei eingangs durch einige schlaglichtartige Hinweise beleuchtet: VHN 3/ 2010 187 Elternwahlrecht! ? n In Hamburg konnte eine bürgerlich-aristokratische Elterninitiative, die sich selbst mit dem exklusiven Anspruch „Wir wollen lernen“ ausstattete, ein professionell gemanagtes Bürgerbegehren mit der stattlichen Anzahl von ca. 160.000 Stimmen für sich entscheiden. Gegenstand des Bürgerbegehrens war der Widerstand gegen die geplante sechsjährige Primarschule. Die Initiative votierte für ein ungekürztes achtjähriges Gymnasium und drohte mit der Flucht in Privatschulen. Die Empörung dieser Eltern entzündete sich dabei in besonderer Weise an der vom schwarz-grünen Senat geplanten Abschaffung des Elternwahlrechts, das durch eine Kombination von Test- und Lehrerurteil ersetzt werden sollte. Die Suspendierung der freien Schulwahl durch die Eltern qualifizierte die ZEIT in ihrem Kommentar, dem Credo der Liberalität folgend, als „Entmündigung“. n Wie die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ votiert auch die bundesweit agierende Elternbewegung „Gemeinsam leben, gemeinsam lernen“ für eine freie Schulwahl. Unter Berufung auf die UN-Behindertenrechtskonvention, der zufolge kein Kind wegen seiner Behinderung vom Besuch einer allgemeinen Schule ausgeschlossen werden darf, lehnt die Integrationsbewegung eine staatlich verordnete Sonderschulpflicht strikt ab und fordert für Eltern behinderter Kinder das uneingeschränkte Elternwahlrecht. Eine verbindliche Sonderschulpflicht für behinderte Kinder ist laut der UN-Behindertenrechtskonvention diskriminierend und ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Der Teppich „Elternwahlrecht“ ist bunt gewebt. Sowohl das rechte wie das linke Lager, sowohl Befürworter wie Gegner der Sonderschule bedienen sich des Elternwahlrechts. Auch die politischen Parteien reden mit vielen Zungen. Nicht selten sind die Unterschiede innerhalb einer Partei, also zwischen den Landesverbänden, größer als die Unterschiede zwischen den Parteien. Ob Parteien oder Ministerien, Verbände oder Basisinitiativen, Zeitungsredaktionen oder Gerichte - sie alle sind schon auf dem Glatteis Elternwille ausgerutscht und haben sich selbst in interne Widersprüche verstrickt. Die Berufung auf das Elternwahlrecht erfolgt relativ beliebig und willkürlich. Es gibt keine klare Regel, wer sich warum und mit welchem Ziel auf den Elternwillen beruft. Mit anderen Worten: Der Elternwille wird für beliebige Zwecke von Interessengruppen aller Couleur instrumentalisiert. Diese Beliebigkeit macht das Elternwahlrecht suspekt und stellt seine Geltung infrage. Kann das Elternwahlrecht ein allgemeines, universal verbindliches Regulativ für die Gestaltung eines demokratischen Schulwesens sein? Oder ist es nichts weiter als eine scheindemokratische Legitimation von gesellschaftlichen Partialinteressen? 2 Begründung des Elternwahlrechts Das Elternwahlrecht hat eindeutige verfassungsrechtliche Bezüge. Grundgesetz (GG) Artikel 6,2 bestimmt vorab in grundlegender Weise: „Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Mit diesem Artikel sind die gesetzlichen Eltern vom Grundgesetz als diejenigen eingesetzt und anerkannt, die für die Erziehung ihrer Kinder zuständig und verantwortlich sind. In dieses primäre, natürliche und fundamentale Erziehungsrecht der Eltern können und dürfen andere gesellschaftliche Agenturen und staatliche Institutionen (Sozialämter; Kindergärten; Erziehungsberatungsstellen; Religionsgemeinschaften; Schulen) nur aufgrund expliziter gesetzlicher Regelungen eingreifen. Eltern müssen etwa keinen „Elternführerschein“ machen, und sie müssen ihr Kind nicht in den Kindergarten geben. Die Erziehung der Kinder ist zunächst ihre natürliche Aufgabe, die sie nach eigenem Gutdünken selbstbestimmt erfüllen können. Die Reichweite des elterlichen Erziehungsrechts ist allerdings keineswegs unbegrenzt, wie noch zu zeigen sein wird. VHN 3/ 2010 188 Hans Wocken Der Elternwille ist nicht allein auf die Kinderjahre der Elementarstufe begrenzt, sondern kann sich durchaus auch noch auf die Gestaltung der schulischen Erziehung erstrecken. Das GG gestattet den Eltern ausdrücklich, selbst eigene Schulen einzurichten, die mit ihren Vorstellungen von einer guten Erziehung konform gehen. Das Recht zur Errichtung von Privatschulen wird allerdings vom GG an wichtige Bedingungen geknüpft: 1. Die staatliche Schulverwaltung muss „ein besonderes pädagogisches Interesse“ anerkennen. Dieses besondere pädagogische Interesse wäre immer dann gegeben, wenn die Schule ein eigenständiges pädagogisches Profil nach Art von Waldorfschulen oder Bekenntnisschulen vorweisen kann. Wohlgemerkt, es muss sich dabei um ein pädagogisches Interesse, nicht aber um standespolitische Interessen handeln. 2. Die Einrichtung von Privatschulen ist nur dann gestattet, „wenn dadurch eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird“. Dies ist eine verfassungsrechtliche Bestimmung, die vielfach unerwähnt bleibt und wohl auch von etlichen real existierenden Privatschulen nicht eingelöst wird. Privatschulen kosten Schulgeld, und das Schulgeld programmiert eine soziale Schieflage vor. Die Verfassungstreue gebietet es, mahnend in Erinnerung zu rufen, dass „Eliteschulen“ aller Art grundgesetzwidrig sind. Es wäre nicht verfassungskonform, wenn wohlhabende Eltern Privatschulen als Zufluchtsburgen für ihre vom Gymnasium abgewiesenen Kinder nutzen würden. 3. Zu guter Letzt findet das Elternwahlrecht auch seine Rechtfertigung in dem demokratischen Axiom, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht und der Wille des Volkes die Gestaltung des Gemeinwesens prägen sollte. In diesem Sinne argumentiert etwa der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck: „Das Elternwahlrecht sollte in jedem Fall beibehalten werden, es ist eine demokratische Errungenschaft“ (WELT-online 2009). In den politischen Auseinandersetzungen spielt gerade dieser Verweis auf die demokratische Qualität des Elternwillens eine herausragende Rolle. Die Apologeten des Elternwahlrechts lehnen emphatisch jegliche Form von staatlicher Fremdbestimmung ab, bezichtigen Schulverwaltung und Schulpolitik unzulässiger Übergriffe und einer Missachtung des Elternwillens. Der Verweis auf die demokratische Qualität des Elternwillens macht Eindruck, erzeugt Wirkung und weckt vielfältige Zustimmung 3 Begrenzungen des Elternwahlrechts Die verfassungsrechtliche Zusicherung eines natürlichen Elternrechts hat der Schauspieler Sky du Mont bei einer Kundgebung der Initiative „Wir wollen lernen“ zu einer unantastbaren Norm verabsolutiert: „Ich spreche der Politik das Recht ab, über mein Kind zu entscheiden“ (ZEIT-online: Gucci-Protest). Die Ausführungen zum Privatschulwesen deuteten bereits an, dass das elterliche Erziehungsrecht keineswegs uneingeschränkt autark ist und auch nicht allezeit und allerorten gilt. Schulpflicht: Als erste Limitierung ist die Schulpflicht zu nennen. Eltern müssen ausnahmslos und ohne Wenn und Aber ihre Kinder in die Schule schicken. Die Schulpflicht existiert seit Mitte des 19. Jahrhunderts und ist seit langem eine unumstößliche Verpflichtung, die alle entwickelten Gesellschaften rechtsverbindlich gemacht haben. Der Schulbesuch wird mit staatlichem Zwang durchgesetzt; Schulschwänzen ist eine Rechtsverletzung und kann mit Bußgeld belegt werden. Alle Jahre wieder geistern Sensationsberichte über Eltern, die ihre Kinder selbst erziehen und nicht zur Schule schicken wollen, durch die Presse. Dem Widerstand solcher Eltern gegen den staatlichen Schulzwang ist so gut wie nie Erfolg beschieden; bezüglich der Schulverpflichtung endet das natürliche Erziehungsrecht der Eltern kompromisslos am Tag der Einschulung. VHN 3/ 2010 189 Elternwahlrecht! ? Sonderschulpflicht: Mit nicht minder rigoroser und unnachgiebiger Gewalt geht der Staat mit dem Willen von Eltern behinderter Kinder um. Behinderte Kinder müssen (! ) ihre Schulpflicht in einer Sonderschule erfüllen, heißt oder hieß es in den Schulgesetzen aller Bundesländer. Die Sonderschulpflicht gibt es seit über 100 Jahren. Gegen diese Sonderschulpflicht haben die Eltern behinderter Kinder in der Geschichte je nach Förderschwerpunkt in unterschiedlichem Maße Widerstand geleistet, die Förderschulen selbst haben sie - was wenig verwundert - eher ausnahmslos begrüßt und eingefordert. Zur Legitimation der Sonderschulpflicht haben vor einigen Jahrzehnten Politik und Pädagogik in schöner Eintracht sich das Konstrukt der „Sonderschulbedürftigkeit“ ausgedacht. In den Schulgesetzen aller Bundesländer war nachzulesen, dass es Kinder gibt, die der Aussonderung „bedürfen“! Zur Legitimation der Aussonderung wurden also die Ausgesonderten selbst herangezogen; die „Bedürftigen“ waren damit selbst Ursache und Rechtfertigung der schulischen Aussonderung. Und von all denjenigen, die sich so gern im Namen der Demokratie für das Elternwahlrecht aussprechen, war kein Sterbenswörtchen gegen das Unrecht der Zwangsaussonderung zu hören. Diejenigen Eltern, die sich gegen die Einweisung ihres Kindes in eine Sondereinrichtung wehrten, wurden in früheren Zeiten höchstrichterlich über das caritative Motiv der Aussonderung belehrt: „Die unter Aufwendung besonderer Kosten errichteten Hilfsschulen sind vielmehr eine Wohltat, die der Staat den Kindern angedeihen lässt“ (Bundesverwaltungsgericht 1958). Ja, die widerspenstigen Eltern wurden gar als undankbare und verantwortungslose Rabeneltern hingestellt: „Die Eltern gefährden das geistige Wohl des Kindes, wenn sie in uneinsichtiger Weise und falsch verstandener Liebe ihr Kind daran hindern, von speziell hierzu ausgebildeten Lehrern in einer Weise unterrichtet zu werden, die seinen geistigen Kräften entspricht“ (Oberlandgericht Neustadt 1959). Mittlerweile haben sich Rechtsprechung und Rechtsempfinden durchaus geändert, aber im Streit mit dem Staat ziehen Eltern behinderter Kinder immer noch den Kürzeren. Jüngst urteilte ein Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (2009): „Im Bereich der Schule treffen Erziehungsrecht und Erziehungsverantwortung der Eltern auf den Erziehungsauftrag des Staates. Dieser Auftrag ist dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nachgeordnet, sondern gleichgeordnet.“ Die vorgebliche Gleichordnung führte allerdings dazu, dass eine „behinderte“ Schülerin gegen den Willen der Eltern als Sonderschülerin eingestuft wurde - mit anderen Worten: Der Staat obsiegte gegen die „gleichen“ Eltern. Das Gericht hat Gleichheit gesagt, aber Ungleichheit praktiziert. In Gesetzgebung und Rechtsprechung galt und gilt demzufolge nicht das gleiche Elternwahlrecht für alle. Während in der Bundesrepublik Deutschland generell das Prinzip gleicher Wahlen gilt, wurde und wird das Elternwahlrecht gespalten als Zweiklassenwahlrecht praktiziert. Es gibt einen Elternwillen 1. und 2. Klasse. Die „besonderen“ Eltern werden ihres Erziehungsrechts beraubt und enteignet, und der Staat schreibt sich selbst die alleinige Kompetenz zu, das Kindeswohl behinderter Kinder vertreten zu können und für sie die allein richtige Schule zu bestimmen. Übertrittsentscheidung: Als weitere Begrenzung des Elternwahlrechts ist schließlich die Wahl der weiterführenden Schule nach der Grundschule zu nennen. Ob die Eltern bei der Entscheidung für eine Schulform der Sekundarstufe überhaupt ein Wörtchen mitzureden haben, diese Frage steht bei dem Streit um das Elternwahlrecht mehr im Zentrum als jede andere Einschulungs- und Übertrittsfrage. Beim Wechsel auf weiterführende Schulen liegen die Nerven blank, hier werden die Weichen gestellt für ein späteres Oben und Unten in der Gesellschaft. Gymnasium „Ja oder Nein“ - das ist in der bundesrepublikanischen Schulwirklichkeit die Gretchenfrage, an der sich die Geister scheiden. Wie diese Frage realpolitisch entschieden VHN 3/ 2010 190 Hans Wocken wird, wird erstaunlicherweise in den 16 Bundesländern durchaus unterschiedlich beantwortet. Hierbei haben weder die landespolitischen Regierungsmehrheiten noch die parteipolitische Farbenlehre einen durchgängigen einheitlichen Einfluss. In acht von 16 Bundesländern ist der Elternwille beim Übergang auf das Gymnasium eingeschränkt. Die Kulturhoheit der Länder lässt für den Übergang auf das Gymnasium eine kreative Vielfalt von Regelungen entstehen: Freie Elternwahl, Grundschulempfehlungen, Aufnahmeprüfungen, Probeunterricht und Probezeiten, die Durchschnittsnote der Hauptfächer, verpflichtende Beratungsgespräche sowie ein Mix aus allen Verfahren. Die bunte Vielfalt an Kriterien und Regelungen spricht nicht unbedingt dafür, dass hier Rationalität am Werke ist. Die Rechtskonstruktion des freien Elternwillens sollte einerseits gewährleisten, dass die „richtigen“ Kinder auch die „richtige“ Schule besuchen, andererseits aber auch die soziale Selektivität der Institution Schule keineswegs verstärken, sondern eher abmildern. Genau das ist aber, wie die KESS-Studie und IGLU 2006 zeigen, nicht der Fall. Fast die Hälfte aller Schüler erhält nach der vierten Klasse falsche Schulempfehlungen. Bei einem Vergleich der Steuerungsinstrumente Testurteil, Lehrerurteil und Elternwahl schneidet die Schulwahl der Eltern am schlechtesten ab. Die Elternwahl verstärkt die soziale Selektivität zu Lasten einer leistungsgerechten Schülerverteilung. Je höher die Sozialschicht, desto mehr ignorieren die Eltern die Schullaufbahnempfehlung der Grundschule. Bundesweit hat ein Akademikerkind eine 3,8fach höhere Chance als ein Arbeiterkind, qua Elternwahl tatsächlich auf das Gymnasium zu kommen, und das trotz gleicher Intelligenz und gleicher Schulleistungen (Tillmann 2009). Das Leistungsprinzip, dem sich das selektive Schulsystem angeblich verschrieben hat, wird durch die freie Schulwahl in ein Herkunftsprinzip umgewandelt. Die einschlägige wissenschaftliche Befundlage zum Elternwahlrecht kommentiert der Bildungsforscher Klaus Klemm mit der Feststellung: „Je freier die Elternwahl, desto größer die soziale Ungleichheit“ (Berliner Zeitung, 15. Mai 2009). Die Steuerungsprinzipien Leistung und Elternwille sind nicht deckungsgleich, sondern eher konträr, weil die Aufstiegsaspirationen bestimmter Schichten das Leistungskriterium missachten und unterlaufen. Wer bei den Übergangsentscheidungen die Bildungs- und Chancengerechtigkeit mehren will, muss nach Möglichkeit die Eltern aus diesem Entscheidungsprozess heraushalten. 4 Schule als Aufgabe des Staates Bevor das Wohl und Wehe des Elternwahlrechts abschließend erwogen wird, müssen die bislang erwähnten verfassungsrechtlichen Grundlagen um eine weitere Bestimmung ergänzt werden, die von außerordentlicher Bedeutung ist und eine erhebliche Relativierung des Elternwillens nach sich zieht. Dem Familien- und Elternartikel GG § 6 folgt der Artikel GG § 7, der das Schulwesen betrifft, auf dem Fuße. Dort heißt es: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ Auf den ersten Blick liest sich der bündige Satz wie ein abruptes und definitives Ende allen Elternwillens. Immerhin folgt ein abmildernder Absatz 2: „Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.“ Das ist nicht eben viel, ja, sogar sehr mager. Der Wind hat sich um 180 Grad gedreht. Schule und Elternhaus sind offenkundig zwei Territorien mit unterschiedlichen Hoheiten und Potentaten. In dem Hoheitsgebiet der Schule endet definitiv das „natürliche“ Erziehungsrecht der Eltern und beginnt unumstößlich das Erziehungsrecht des Staates. In der Schule ist der Elternwille eben nicht mehr das Höchste aller Dinge, sondern an diesem Ort hat nun eine familienübergreifende Agentur das Sagen: die staatliche Gemeinschaft. Was in der Schule gelehrt wird; ob es Noten gibt und welche Noten ein Schüler bekommt; welcher Schüler sitzen bleibt; ob und welche Schulstrafen bei Verstößen gegen die VHN 3/ 2010 191 Elternwahlrecht! ? Schulordnung verhängt werden; wie mit Schulabsentismus umgangen wird; ob auch behinderte Kinder aufgenommen werden; für welche Zwecke der Schuletat verwendet wird; wer zur neuen Schulleiterin gewählt wird; ob der Unterricht nach Montessori gestaltet wird oder ein freiheitliches Konzept verfolgt werden soll und vieles andere mehr - all dies bestimmen nicht mehr die vielen Eltern und Familien, sondern neue Gesellschafter: die Schulgemeinde, die Schulträger, die Schulverwaltungen und die Schulgesetze. Zwar haben die Eltern nun im Wege von Mitbestimmungsregelungen und -organen durchaus Mitspracherechte, aber das Sagen hat trotz aller Demokratisierung letztlich die Schule als Institution und als gesellschaftliche Einrichtung. Das hört sich alles schrecklich undemokratisch an, ist es aber nicht. Die Schule hat einen neuen Eigentümer, einen neuen Aufsichtsrat und einen neuen Hausherrn. Und das ist die Gesellschaft, genauer das vom Volke in demokratischen Wahlen eingesetzte Parlament. In einer indirekten Demokratie ist das gewählte Parlament das einzige legitime Organ, dem über die Gestaltung von Schule die alles entscheidenden Rechte zukommen. Der Wille der vielen Elterngruppierungen von A bis Z, die ja zudem keineswegs alle das Gleiche wollen, ist nicht mehr der tragende Legitimationsgrund für die Gestaltung von Schule und des Schulwesens, sondern der Volkswille, der sich in allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen artikuliert, ist maßgeblich und bestimmend. Der Volkswille ist demokratisch, der Elternwille nur bedingt. Es ist falsch, den Elternwillen einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen als repräsentativen Ausdruck des Bürgerwillens zu stilisieren. In solcher Sicht wird der Elternwille nicht negiert und nicht aufgehoben, aber doch in seiner Geltung aufgrund demokratischer Logik relativiert. Der Elternwille ist für die Gestaltung von Schule und Unterricht eine Priorität zweiter Ordnung, an vorderster Stelle steht der Staatswille, wie er durch ein gewähltes Parlament zum Ausdruck gebracht wird. Die souveräne Zuständigkeit des Staates für das Schulwesen ist fundamental und weitreichend, sie macht den Elternwillen endlich. Es ist nicht möglich, per Volksbegehren oder Volksentscheid die ungegliederte vierjährige Grundschule abzuschaffen, weil sie seit 1920 verfassungsmäßig garantiert ist. Der Staat ist auch nicht verpflichtet, ein gegliedertes Sekundarschulwesen inklusive eines Gymnasiums vorzuhalten und Alternativen anzubieten. Sofern ein demokratisch gewähltes Parlament die Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium abschaffen und in der Sekundarstufe eine gemeinsame Schule für alle Kinder einführen würde, wäre dies absolut verfassungskonform. Eine verpflichtende gemeinsame Sekundarstufenschule verstößt keineswegs gegen das Elternrecht und kann grundsätzlich auch nicht durch irgendwelche Formen von Bürgerbegehren ausgehebelt werden. Es gibt kein imperatives Mandat des Elternwillens! Und es gibt weder ein Recht auf Gymnasien noch ein Recht auf Sonderschulen! Mit diesen Ausführungen wird für einen grundsätzlichen und uneingeschränkten Vorrang des Volkswillens vor dem Elternwillen plädiert. Ein Plädoyer Volkswillen vor Elternwillen wird vermutlich als illiberal, demokratiefeindlich und elternfeindlich diskriminiert werden. Dieser Skandalisierung wird unnachgiebig widersprochen: Es gibt nichts Demokratischeres als den Volkswillen. Und dieser kann sich in verbindlicher Form nicht in Volksbegehren, in Elterninitiativen oder Unterschriftensammlungen äußern, sondern einzig und allein in demokratischen Wahlen. Das Schulsystem wird vom Volk, von allen bezahlt. Es wäre demokratiewidrig und schier unerträglich, wenn allein die besseren Kreise bestimmen würden, wie die „volkseigene“ Institution Schule strukturiert sein soll. Demokratie ist etwas anderes als Aristokratie. Der gegenwärtige hamburgische Schulkampf ist keine bloße Hamburgensie mehr, sondern hat eine übergreifende Bedeutung. Es geht darum, welchen Stellenwert der so ge- VHN 3/ 2010 192 Hans Wocken nannte Elternwille im Verhältnis zum Volkswillen hat. Ein faktisches Blockaderecht von Teilgruppierungen der Gesellschaft, welcher Herkunft und welcher Couleur auch immer, verstößt nach Auffassung des Verfassers gegen das Grundverständnis von Demokratie als Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Es geht wirklich nicht um eine Abschaffung der Mitbestimmung - das ist das Geschäft der Liberalen. Es geht auch nicht darum, die Stimme der Eltern nicht wahrzunehmen und gegen alle Widerstände erbarmungslos irgendein bildungspolitisches Konzept durchzusetzen. Elternwille und Elternwahlrecht sollen unverändert ein bedeutsames Gewicht in der bildungspolitischen Auseinandersetzung behalten, aber - und das ist wichtig - mit einem genau bemessenen und sorgsam austarierten Stellenwert. Elternwille und Elternwahlrecht haben insbesondere eine hervorgehobene strategische Bedeutung für die Implementation einer Schulreform, für ihre Einfädelung. Es macht wenig Sinn, Schulreformen ohne die Eltern oder gegen einen ansehnlichen Teil der Eltern zu planen und durchzusetzen. Eine von breiten Schichten ungewollte, ungeliebte und nicht mitgetragene Reform produziert Sand im Getriebe und trägt damit den Keim ihres Scheiterns bereits in sich. Die Politik ist gut beraten, auf die Eltern zu hören, mit ihnen zu reden und sie wenn irgend möglich mitzunehmen. Die Eltern sind gut beraten, ihre eigenen Standpunkte nicht zur Richtschnur einer staatlichen Bildungspolitik für ausnahmslos alle Kinder des Volkes zu erheben. 5 Wider das Elternwahlrecht Nach all dem ergibt sich eine logische Gedankenkette: 1. Das Elternwahlrecht macht nur Sinn im Kontext eines gegliederten Schulwesens. Wo es keine Alternativen gibt, gibt es auch nichts zu wählen, und das Thema Elternwahlrecht ist gegenstandslos. Das Votum für ein gegliedertes Schulwesen impliziert als eine unausweichliche Folge, dass ein rationaler Verteilungsschlüssel zur Steuerung der Schülerströme gefunden werden muss. Wie der Streifzug durch das verminte Themenfeld Elternwahlrecht gezeigt hat, ist das Elternwahlrecht weder logisch noch leistungsgerecht noch sozialgerecht. Das Elternwahlrecht ist als regulatives Prinzip fragwürdig, ja, gänzlich untauglich. Die „Leistung“ des Elternwahlrechts ist unter diesen Gesichtspunkten erbärmlich. Wenn wirklich „Eignung“ und „Leistung“ die primären und exklusiven Kriterien für die Verteilung der Schüler auf verschiedene Schulformen im hierarchisch gegliederten Schulsystem sein sollten, dann wäre die Verwendung standardisierter Testverfahren die Methode der Wahl. Sowohl dem Lehrerurteil wie auch dem Elternurteil mangelt es an prognostischer Zuverlässigkeit, vor allem aber an einer von sozialer Herkunft unabhängigen Objektivität. Aber die aus rationaler Sicht zu favorisierende Methode ist mit dem Nachteil erheblicher Nebenwirkungen verbunden: Tests zur Übertrittsauslese am Ende der Grundschule würden als eine Art „Grundschul-Abitur“ empfunden. Ein derartiges Grundschul-Abitur hätte einerseits schwerwiegende negative Rückwirkungen auf die pädagogische Arbeit in der Grundschule, die vom ersten Schultag an unter dem Damoklesschwert der Selektion stünde. Andererseits würde ein objektives, unbarmherziges Testurteil die Eltern schonungslos mit der sozialdarwinistischen Härte eines gegliederten Schulwesens konfrontieren, und dies würde von den geschockten Eltern dann verständlicherweise kompromisslos abgelehnt werden. Jede nachträgliche Einschränkung eines vorab eingeräumten Wahlrechts, etwa durch eine zeitlich begrenzte Gültigkeit der Schulwahl oder durch anschließende Bewährungskontrollen und -fristen, entwertet die liberale Großzügigkeit zunehmend und macht die einmal zugestandene freie Wahl dann in wachsendem Maße zu einer Farce, zu einem scheindemokratischen Spektakel. VHN 3/ 2010 193 Elternwahlrecht! ? 2. Das hausgemachte Problem ist da: Wie kann ein gegliedertes Schulsystem aufrechterhalten werden, ohne dass es wehtut? Eine saubere Lösung gibt es nicht, kann es gar nicht geben; von Stund an waltet beim Übergang in Sekundarschulen Beliebigkeit, Willkür und vor allem das angestrengte Bemühen um Befriedung und Besänftigung. Auf der Suche nach Lösungen aus dem unlösbaren Dilemma heißt die Devise: Die Selektion bleibt, aber sie muss psychologisch abgefedert werden; es geht weniger um richtige und rationale Lösungen, die es ja auch nicht geben kann, sondern vor allem um Schmerz- und Schocktherapie. Das ist die Geburtsstunde des Elternwahlrechts. 3. Der fundamentale Verteilungsmechanismus eines gegliederten Schulsystems ist das Leistungsprinzip und nicht der Elternwille. Das Elternwahlrecht, das ja in Wirklichkeit nur eine freie Schulwahl bis auf Widerruf erlaubt, ist dem Grunde nach in einem selektiven Schulsystem kontraproduktiv. Ein gegliedertes Schulwesen kann in letzter Konsequenz der freien Schulwahl durch die Eltern gar nicht stattgeben. Denn eine freie und an keinerlei Kriterien und Bedingungen geknüpfte Elternwahl führt zu einer Chaotisierung im gegliederten Schulwesen: Die Eltern wählen, was sie wollen, und bringen damit die ganze schöne hierarchische Gliederung durcheinander. Durch das Elternwahlrecht wird die Sonderschule partiell entvölkert und das Gymnasium partiell mit „ungeeigneten“ Schülern überschwemmt und belastet. Das kontinuierliche systemwidrige Verhalten der Eltern stört zunächst niemanden; immerhin hat das geschenkte Freiheitsgefühl einen Schulfrieden zur Folge. Aber jenseits des Burgfriedens im Schulstreit ist das konstitutive Organisationsprinzip der Gliederung nach Leistung dahin. Das Elternwahlrecht ist vergiftet. Vom gegliederten Schulwesen als Problemlösung zur Milderung von Selektionsschmerzen ins Feld geschickt, wendet sich das Wahlrecht perfiderweise gegen seinen Auftraggeber. Ein nicht limitiertes Elternwahlrecht dient nicht der Selektion, sondern unterläuft sie subversiv. Die Empfehlung ist nicht ohne Sarkasmus: Wer das gegliederte Schulwesen aufweichen und bis zur Unkenntlichkeit durcheinanderwirbeln will, wird ihm ein radikales Elternwahlrecht wünschen und gönnen. Wer es einigermaßen gut mit einem segregierenden Schulsystem meint, kann diesem System eigentlich kein Elternwahlrecht wünschen. 4. Elternwahlrecht und Selektion sind der Sache nach unverträglich und nicht kompatibel. Wenn das Elternwahlrecht ungeachtet dieser Widersprüchlichkeit trotzdem ermöglicht wird, dann geschieht es vornehmlich aus legitimatorischen und strategischen Gründen. Die zentrale Funktion des Elternwahlrechts in einem selektiven Schulsystem ist die Erzeugung von Zustimmung und Legitimation. Das Wahlrecht verschafft den Eltern die schöne Illusion, als würden sie selbst das schulische Schicksal ihres Kindes bestimmen können. Die wählenden Eltern haben das betörende Gefühl, dass sie selbst entscheiden dürfen und von niemandem gezwungen werden. Dieser gönnerhafte Respekt vor dem Elternwillen verbreitet eine Aura der Toleranz und entfaltet im Wahlvolk eine narkotisierende Wirkung: Wir sind zwar nicht wirklich frei, aber wir dürfen uns das einbilden. Insofern hat das Elternwahlrecht nichts weiter als eine pseudodemokratische Legitimationsfunktion für eine bittere Selektionspraxis. Ein unbegrenztes Elternwahlrecht ist der Totengräber des gegliederten Schulwesens. Ein begrenztes Elternwahlrecht ist Opium für das selektionsgepeinigte Volk. 5. Dass das Elternwahlrecht zu einem selektiven Schulsystem von Grund auf nicht passt, wird in entlarvender Weise durch die Sonderschulpflicht belegt. Eltern behinderter und leistungsschwacher Kinder dürfen sich nicht in das allgemeine Schulwesen hineinwählen, weil die freien Wahlen das konkurrierende Leistungsprinzip in Frage stellen würden. Ein geistig behindertes Kind in der allgemeinen Schule, und das auch noch ohne Sitzenbleiben? Undenkbar! VHN 3/ 2010 194 Hans Wocken Bei den Sonderschuleltern wirkt das Narkotikum Elternwahlrecht natürlich nicht, sondern lässt die Alarmglocken läuten und bringt schmerzliche Unterdrückungsgefühle hervor. In diesem Fall ist das Verbot freier Schulwahl die definitive Entmündigung. Der Staat übernimmt an ihrer statt die Vormundschaft über die behinderten Kinder und brüstet sich mit der Zusage, mehr als die Eltern das Kindeswohl im Auge zu haben. Die Sprache der Nationalsozialisten hat die ideologische Basis der Selektion unverblümt zum Ausdruck gebracht. „Minderbegabte“ und „Schädlinge“ sind „Ballastexistenzen“, von denen die allgemeine Schule „entlastet“ werden muss. 6. Last not least: Das Elternwahlrecht ist nicht das Höchste aller Rechtsgüter, sondern ist im Gegenteil einem anderen fundamentalen Grundrecht nach- und untergeordnet. Der Elternwille darf sich nicht über das Kind hinwegsetzen, sondern muss sich am „Wohl des Kindes“ (BRK Art. 7, 2) orientieren und das Recht des Kindes auf Inklusion (BRK Art 7, 1) achten. Die Eltern können das Wahlrecht nicht einfach nach Belieben wahrnehmen. Das Erziehungsrecht der Eltern ist ein sog. „dienendes Recht“, das im Auftrag und im Interesse des Kindes auszuüben ist. Die Eltern sind berechtigt und aufgefordert, in Sachwalterschaft für das Kind Inklusion einzufordern. Das Recht des Kindes auf inklusive Bildung steht also weder für Eltern noch für Behörden zur Disposition. Es ist ein menschenrechtlich verbrieftes Kinderrecht, das über allen anderen Rechten, auch über dem Elternwillen anzusiedeln ist! Ob das Kind bzw. seine Eltern die gegebenen Rechte tatsächlich in Anspruch nehmen, ist freilich ihnen überlassen. 6 Auswege Ist das Elternwahlrecht noch zu retten? Wenn das Elternwahlrecht wirklich ernst gemeint ist und nicht nur eine pseudodemokratische Befriedungs- und Beruhigungsfunktion hat, dann wären drei Vorschläge zu erwägen: Allgemeingültigkeit: Die Crux des Elternwahlrechts ist, dass es nicht allgemein gültig ist. Den gymnasialen Eltern wird es gewährt, den Sonderschuleltern verweigert; mal gilt es, mal darf es nicht gelten. Freie Wahl der weiterführenden Schule für „normale“ und verordnete Überweisung behinderter Kinder in Sondereinrichtungen - das passt nicht zum demokratischen Grundprinzip gleicher Rechte. In dieser doppelgesichtigen Form ist das Elternwahlrecht willkürlich und ärgerlich, wenn nicht gar verfassungsproblematisch. Im Namen demokratischer Gleichheit muss daher die Forderung lauten: Wenn Elternwahlrecht, dann bitte für alle! Ein bedingungsloses Elternwahlrecht bedeutet dann auch, dass es keine Vorbedingungen und Einschränkungen für die Teilnahme behinderter Kinder am gemeinsamen Unterricht geben darf. Eine inklusive Schule kennt im Prinzip kein Elternwahlrecht. Alle behinderten Kinder gehen selbstverständlich in die Schule ihres Einzugsgebiets, ohne Antrag, ohne sonderpädagogisches Gutachten und ohne jeglichen Ressourcenvorbehalt. Und die Schule kann sich nicht aussuchen, ob sie behinderte Kinder aufnehmen will oder nicht. Nachhaltigkeit: Ein weiterer Mangel des existierenden Elternwahlrechts ist, dass dem geäußerten Elternwillen keine dauerhafte Nachhaltigkeit zugesichert wird. Der Elternwille gilt befristet und auf Probe, er kann bei mangelnder Bewährung mit einem Federstrich wieder korrigiert werden. Der abgelaufenen Bewährungsfrist folgt eine ultimative Selektionsentscheidung auf dem Fuße - ohne Rücksicht auf den Elternwillen. Die befristete Gültigkeit des Elternwillens entwertet die Wahl zu einem pseudodemokratischen Spiel: Es darf dem Scheine nach gewählt werden, eine nachhaltige Verbindlichkeit wird aber der Elternentscheidung nicht eingeräumt. Die Eltern dürfen mal „auf Probe“ mitreden, die Würfel fallen aber später und woanders. Demokratische Glaubwürdigkeit kommt dem Elternwahlrecht erst dann zu, wenn es mehr ist als ein vergängliches Strohfeuer. Alle Schulen haben die Entscheidung der Eltern als VHN 3/ 2010 195 Elternwahlrecht! ? verbindlich zu akzeptieren, und zwar für die gesamte Dauer der gesetzlichen Schulpflicht. Gegen die ausdrückliche Zustimmung der Eltern darf kein Kind aus der gewählten Schule ausgeschult werden. Die Entscheidung der Eltern für eine bestimmte Schule hat bindende Kraft, sie gilt auf Dauer und kann nicht durch die gewählte Schule aufgehoben werden. Abschaffung der Sonderschulpflicht: Die UN- Behindertenrechtskonvention fordert den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems. Sofern parallel zu inklusiven Schulen auch weiterhin Sonderschulen vorgehalten werden sollen (was nicht zwingend erforderlich, aber durchaus möglich ist), muss konsequenterweise dann auch den Eltern behinderter Kinder ein Wahlrecht eingeräumt werden. Die Zeiten, in denen Eltern sich gegen die Einweisung in eine Sonderschule gerichtlich zur Wehr setzen oder vor Gericht einen Integrationsplatz erkämpfen mussten, sind ein für allemal vorbei. Behinderte Kinder haben einen Rechtsanspruch auf Inklusion, die Sonderschulpflicht ist rechtswidrig und unwiderruflich abgeschafft. Umgekehrt kann und darf es durchaus eine Inklusionspflicht geben. Aus mancherlei guten Gründen empfiehlt es sich aber, zum gegenwärtigen Zeitpunkt einerseits für bestimmte Förderschwerpunkte, hier insbesondere für spezielle Behinderungen, und andererseits in der Implementations- und Übergangsphase ein Sonderschulangebot weiterhin verfügbar zu halten; dies impliziert dann natürlich auch ein Elternwahlrecht. In Kurzfassung: Wenn Sonderschule und Inklusion mögliche Optionen sind, dann muss es auch ein Elternwahlrecht geben! Der Bildungspolitik sollte unmissverständlich klar sein, dass die freie Entscheidung von Eltern behinderter Kinder außer durch das oberste Regulativ des Kindeswohls durch keinerlei Restriktionen und Vorbehalte eingeschränkt werden kann und für die gesamte Pflichtschulzeit gilt. Ein geistig behindertes Kind sitzt folglich in der Primar- und Sekundarstufe mit vollem Recht in der allgemeinen Schule. Wenn nun im Falle von Behinderungen ein Elternwahlrecht etabliert wird bzw. werden muss, dann hat das gegliederte Schulsystem ein neues Gerechtigkeitsproblem, dann gibt es ein neues Gleichheitsdilemma, jetzt aber mit umgekehrten Vorzeichen: Wenn die Eltern behinderter Kinder frei wählen dürfen, warum dann eigentlich nicht all die anderen Eltern auch? Die Elterninitiative „Wir wollen lernen“ kämpft für das Elternwahlrecht. Wenn diese beiden Bedingungen - erstens Elternwahlrecht für alle und zweitens Elternschulwahl auf Dauer - mit einbezogen sind, dann wäre auch die Initiative ihres anstößigen elitären Charakters entkleidet. Als Fazit bleibt: Das Elternwahlrecht ist in beiden Schulsystemen schlichtweg dysfunktional. In einem integrierten Schulsystem ist es dysfunktional, weil es mangels wählbarer Alternativen nicht gebraucht wird. In einem segregierenden Schulsystem ist es dysfunktional, weil es das Steuerungsprinzip Leistung unterläuft und damit das segregierende System aushöhlt und zerstört. Ein ehrliches Elternwahlrecht ist in einem integrativen System gegenstandslos und überflüssig und in einem segregativen System kontraproduktiv und inkompatibel. Also weg damit oder gleiches Recht für alle! Literatur Tillmann, K.-J. (2009): Sechsjährige Primarschule in Hamburg: Empirische Befunde und pädagogische Bewertungen. In: Daschner, P. (Hrsg.): Hamburg macht Schule. Hamburg (Sonderheft), 10 - 29 Prof. Dr. paed. (em.) Hans Wocken Frühlingstraße 13 D-90522 Oberasbach Tel.: ++49 (0) 911 - 69 94 43 97 E-Mail: hans-wocken@t-online.de