eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2010.art24d
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Das provokative Essay: Behindert - alt - pflegebedürftig: Löcher im Netz des Sozialstaates!?

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Barbara Jeltsch-Schudel
Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung werden immer älter. Bei ihnen - wie auch bei andern alternden Menschen - ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Pflegebedarf im Alter steigt. Der Umgang damit und die Verantwortlichkeit dafür sind in inhaltlicher wie finanzieller Hinsicht unklar. Ist es die Behindertenhilfe, das Gesundheitswesen, die Altenhilfe? Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) in der Schweiz verkompliziert die Sache noch mehr. Die komplexe Situation führte dazu, dass „betagten Behinderten die Zwangsverlegung“ drohte. Im Essay werden u. a. folgende Fragen aufgeworfen: Wer ist zuständig für pflegebedürftige alte Menschen mit geistiger Behinderung? Welche Rolle kann bzw. soll dabei der Heilpädagogik zukommen?
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VHN, 79. Jg., S. 278 - 284 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art24d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 278 Behindert - alt - pflegebedürftig: Löcher im Netz des Sozialstaates! ? Barbara Jeltsch-Schudel Universität Freiburg/ CH n Zusammenfassung: Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung werden immer älter. Bei ihnen - wie auch bei andern alternden Menschen - ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Pflegebedarf im Alter steigt. Der Umgang damit und die Verantwortlichkeit dafür sind in inhaltlicher wie finanzieller Hinsicht unklar. Ist es die Behindertenhilfe, das Gesundheitswesen, die Altenhilfe? Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) in der Schweiz verkompliziert die Sache noch mehr. Die komplexe Situation führte dazu, dass „betagten Behinderten die Zwangsverlegung“ drohte. Im Essay werden u. a. folgende Fragen aufgeworfen: Wer ist zuständig für pflegebedürftige alte Menschen mit geistiger Behinderung? Welche Rolle kann bzw. soll dabei der Heilpädagogik zukommen? Schlüsselbegriffe: Altern, geistige Behinderung, Pflegefinanzierung Disabled - Old - In Need of Care: Gaps in the Net of the Welfare State! ? n Summary: Life expectancy of disabled people increases constantly. There is a considerable probability that they will need more care in old age - as it is the case for all elderly people. It is neither clear how to manage this situation nor who will take the responsibility in view of contents and finances. Is it the care system for persons with disabilities, the public health system, the assistance for elderly people? Since the new apportionment of finances between the cantons and the state of Switzerland has come into effect, the situation is even more complicated. As a result, some elderly persons with disabilities recently risked to be resettled by force to another institution. The author raises some questions as: Who is responsible for elderly persons with a mental handicap? What is the position of remedial education? Which role should remedial education play? Keywords: Ageing, mental disability, financing of care Wo finden pflegebedürftige alte Menschen mit geistiger Behinderung einen Platz? „Betagten Behinderten droht die Zwangsverlegung“ titelten im Sommer 2009 verschiedene Schweizer Zeitungen. Es war zu lesen, dass „sechs geistig Behinderte, die einen Grossteil ihres Lebens in der Martin Stiftung verbrachten, auf Ende Jahr in ein Pflegeheim wechseln. Dies hat das kantonale Sozialamt verfügt. Denn die Krankenkassen übernehmen nur Pflegeleistungen in Institutionen, die auf der kantonalen Pflegeheimliste aufgeführt sind.“ (Bühlmann 2009) Die Martin Stiftung im zürcherischen Erlenbach ist eine Institution, welche „137 erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung differenzierte Wohn- und Arbeitsformen“ anbietet (Martin Stiftung Erlenbach 2010). Im Leitbild werden Auftrag und Zielsetzung folgendermaßen umschrieben: „Wir ermöglichen erwachsenen Menschen mit Behinderung in allen Lebensphasen ein an der übrigen Bevölkerung orientiertes, soweit wie möglich selbstbestimmtes Leben.“ (ebd.) Im Sinne dieses Auftrages, der alle Lebensphasen umfasst, konnten auch alternde Menschen in der Martin Stiftung verbleiben, denn dies „lag für Behindertenheime finanziell drin“ Das provokative Essay VHN 4/ 2010 279 Behindert - alt - pflegebedürftig (Huber/ Mutti 2009), und so wurden dort zwei Seniorengruppen geschaffen. Weil die Anzahl der Senioren steigt, wie andernorts auch, sollte ein Neu- und Umbau ermöglichen, die „bisherigen zwei Seniorengruppen mit je elf Plätzen auf drei Gruppen mit je acht Plätzen zu verteilen“ (Moser 2009) mit der Absicht, die Situation der betreffenden alternden Menschen mit geistiger Behinderung zu verbessern. Soweit die Planung. Diese konnte jedoch nicht realisiert werden. Die im Sommer 2009 diskutierten Zwangsverlegungen sind nicht auf das Alter an sich zurückzuführen, sondern auf die (altersbedingten) gesundheitlichen Veränderungen einiger Bewohnerinnen und Bewohner, nämlich auf ihren steigenden Pflegebedarf. Eine Einrichtung der Behindertenhilfe ist nicht (unbedingt) auf einen hohen Pflegeaufwand vorbereitet, weder infrastrukturell noch personell. Deshalb beschloss der Stiftungsrat der Martin Stiftung, im Bereich Seniorenwohngruppe sechs Plätze zu streichen (Steiner 2009, 31). Dies begründete er damit, dass der Kanton sich geweigert hätte, den erhöhten Pflegeaufwand zu finanzieren (ebd.). Die Folge davon: die Zwangsverlegung der betroffenen behinderten Menschen in ein Pflegeheim, einen ihnen unbekannten Ort, obwohl sie sich in der Martin Stiftung zu Hause fühlten. Wie wird der Platz pflegebedürftiger alter Menschen mit geistiger Behinderung finanziert? Diese Vorgehensweisen werden nur auf dem Hintergrund der Änderungen der Finanzierung der Behindertenhilfe in der Schweiz verständlich. Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) führte dazu, dass Zuständigkeiten, insbesondere jene der Finanzierung verschiedenster Bereiche (von Nationalstraßen über Kläranlagen bis hin zur Invalidenversicherung), in einem großangelegten und schrittweise zu verwirklichenden Projekt zwischen Bund und Kantonen gebündelt, geklärt und gestrafft und daher auch neu verteilt werden sollten. Dieser Umbauprozess ist im Gange, Übergangsregelungen sind in Kraft, und die Kantone sind gehalten, die erforderlichen Konzepte zu erarbeiten. Dazu gehören auch die Regelungen der anerkannten Spitäler und Pflegeheime (betrifft vor allem das Gesundheitswesen) und die Vereinbarungen der Institutionen der Behindertenhilfe (betrifft vor allem das Sozialwesen). „Im Kanton Zürich wehrt sich die santésuisse (die Vereinigung der Krankenkassen der Schweiz - BJS) gegen die Schaffung neuer Pflegeplätze zulasten der obligatorischen Krankenversicherung - sei es in Alters- oder Behinderteneinrichtungen. Begründung: es gebe keine gesetzeskonforme Bedarfsplanung. Die Krankenversicherer wünschen sich aber auch ein Präzedenzurteil zur Finanzierung von Pflegeplätzen in Behinderteneinrichtungen.“ (Steiner 2009, 33) Dies verdeutlicht die Unklarheit der Zuständigkeiten des Gesundheitswesens zum einen und der Behindertenhilfe zum andern. Die Finanzierung von Pflegekosten gehört zur Krankenversicherung (mit Selbstbehalt für die Betroffenen) bzw. zum Gesundheitswesen, die Finanzierung der Heime dagegen, bislang auf Bundesebene geregelt, ist nun an die Sozialdepartemente der Kantone übergegangen. Behinderteneinrichtungen können gegebenenfalls als Pflegeeinrichtungen anerkannt werden, sofern sie entsprechende Rahmenbedingungen erfüllen. Allerdings entsteht dann in der Finanzierung eine Kostendifferenz wegen des Selbstbehaltes im Gesundheitswesen. Wer übernimmt nun die Restfinanzierung? Eigentlich sind dies laut Krankenversicherungsgesetz die Kantone, aber diese können die Pflegekosten nach eigenem Gutdünken definieren und festlegen (CU- RAVIVA 2010, 1). Zudem trat am 1. Juli 2010 eine neue Pflegefinanzierung in Kraft, bedingt durch Veränderungen des Krankenversicherungsgesetzes. Dies hat Konsequenzen für die anderen Sozialversicherungen, z. B. die Alters- VHN 4/ 2010 280 Barbara Jeltsch-Schudel und Hinterlassenenversicherung AHV. Und dies wiederum ruft Anpassungen bezüglich der Definition von „Heim“ hervor (Bundesamt für Gesundheit 2009). Damit wird nicht klarer, wie die Restfinanzierung geleistet werden soll. Denn die Diskussion über die Pflegefinanzierung muss von drei Instanzen geführt werden, die auf Kantonswie auf Bundesebene repräsentiert sind: von der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK, der Sozialdirektorenkonferenz SODK und der Finanzdirektorenkonferenz FDK. Ausgelöst durch die NFA stehen verschiedene Finanzierungsmodelle durch die Kantone zur Debatte (siehe Jaggi 2007). Wesentlich dabei ist, dass die Kantone die Verantwortung für die Belange von Menschen mit Behinderungen zu übernehmen haben, was vorher eine Aufgabe des Bundes war. Diese Verschiebung kann bedeuten, „dass Menschen mit Behinderung, die aus anderen Kantonen stammen, nur noch mit spezieller Genehmigung in kantonalen Institutionen platziert werden“ (INSOS 2008, 2). Die Wahl einer Einrichtung in einem andern Kanton ist für behinderte (alternde) Menschen also sehr eingeschränkt. In der Kleinräumigkeit der Schweizer Kantone, in der es keinen Sinn macht, alle möglichen speziellen Institutionen in jedem Kanton zu führen, ist dies problematisch, denn es bedeutet, dass für die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Wohnort bzw. der Wohnkanton ausschlaggebend wird. Und es kann auch bedeuten, dass Bewohnerinnen und Bewohner in Institutionen ihres Heimatkantons umplatziert werden, egal, wie problematisch dies für sie ist. Nicht nur die Pflegebedürftigkeit, sondern auch die Systeme der Sozialversicherungen sind einschneidend für Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung im Alter. Nachdem die erforderlichen Unterstützungsangebote bis zum 65. Lebensjahr von der Invalidenversicherung (IV) finanziert wurden, wird nach dem 65. Lebensjahr die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) zuständig, ergänzt durch die sog. Hilflosenentschädigung. Dies hat nicht nur zur Folge, dass die Finanzierung erschwert ist, sondern auch, dass die statistische Erfassung nicht gewährleistet ist (siehe auch Brem 2007, 1260). Mit anderen Worten: da die IV-Statistik nur Personen bis zum 65. Lebensjahr erfasst, sind keine Zahlen über ältere Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung vorhanden. Dies erschwert die Planung notwendiger Angebote entscheidend. Zumal auch nicht bekannt ist, wo die betroffenen Personen leben, ob bei Angehörigen oder in einer Institution der Behindertenhilfe oder des Gesundheitswesens. Dass für diese Fragestellungen nur untaugliches Zahlenmaterial verfügbar ist, liegt auch daran, dass die Definition von „Behinderung“ sehr schwierig ist. Die Invalidenversicherung verfügt über ein Codebuch, in welchem sehr differenzierte, medizinisch begründete bzw. umschriebene Codes enthalten sind. Die Anzahl von Menschen mit „geistiger Behinderung“ lässt sich jedoch nicht einfach herausziehen, weil verschiedene Codes, allenfalls auch in Kombination, eine geistige Behinderung ausmachen können (insofern man einem individuellen Behinderungsverständnis folgt). Das Bundesamt für Statistik (BfS) hat 2009, basierend auf der Schweizerischen Gesundheitsbefragung von 2007, eine Broschüre veröffentlicht mit dem bezeichnenden Titel „Behinderung hat viele Gesichter“. Je nachdem, ob Beeinträchtigungen der Aktivität oder der Partizipation oder Schädigungen der Körperstrukturen (also alles Elemente der ICF) oder der Hilfebedarf bzw. der Bezug von finanziellen Invaliditätsleistungen (Begriffe, welche zum System der Invalidenversicherung gehören) betrachtet werden, ergeben sich unterschiedliche Zahlenverhältnisse (z. B. in Bezug auf Alter und Geschlecht). In den obigen Ausführungen wurde den politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen viel Platz eingeräumt. Dies deshalb, um die Unklarheiten und damit verbunden die hohe Komplexität der Situation pflegebedürftiger alternder Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung zu veranschaulichen. Zudem dürfte deutlich geworden sein, wie vielschichtig die verschiedenen Systeme miteinander verwoben VHN 4/ 2010 281 Behindert - alt - pflegebedürftig sind. Letzteres erfordert einen Blick auf die Systeme der Behindertenhilfe und des Gesundheitswesens. Wer ist zuständig für einen angemessenen Platz für pflegebedürftige alte Menschen mit geistiger Behinderung? Es ist an dieser Stelle keine grundsätzliche Erörterung der beiden Systeme Behindertenhilfe und Gesundheitswesen beabsichtigt, sondern es sollen lediglich einige Anmerkungen gemacht werden. Insbesondere die unterschiedliche Verwendung gleicher Begriffe lässt deutlich werden, dass verschiedene Denk- und Argumentationsmuster die beiden Systeme kennzeichnen. Nähme man das juristische System dazu, das für die Thematik ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, würde die Sache noch komplizierter. Die Geriatrie, als relevanter Bereich des Gesundheitswesens, „befasst sich mit Gesundheit im Alter und den klinischen (physischen und psychischen), den präventiven, den rehabilitativen und den sozialen Aspekten von Krankheiten bei alten Menschen“, es werden vorwiegend „gebrechliche, in der Regel hochbetagte Menschen mit multidimensionellen Krankheiten und Behinderungen“ behandelt (Grob 2007, 132). Die Grundlage der professionellen Arbeit bildet die ICF; es ist von Multimorbidität die Rede, wobei darunter ein gleichzeitiges Vorliegen mehrerer Krankheiten bzw. Behinderungen verstanden wird (ebd.). Das „Profil der Geriatrie in der Schweiz“ - so der Titel des Aufsatzes von Grob (2007) - spiegelt deutlich ein bestimmtes Verständnis von Behinderung und Krankheit. Die beiden Begriffe werden zusammen verwendet („Behinderung und Krankheit“) und dabei synonym verstanden. Es wird also unterstellt, dass es sich bei Behinderungen und Krankheiten um Veränderungen handle, die irgendwann im Leben, vorwiegend im Alter, auftreten und zu den in der ICF genannten Beeinträchtigungen führen. „Im Alters(pflege) bereich und in geriatrischen Diskussionen spricht man indes weniger von Behinderungen als von funktionellen Beeinträchtigungen“ (Heeb u. a. 2008, 27 - Hervorh. i. Orig.). Es wird darauf verwiesen, dass Multimorbidität im hohen Lebensalter häufiger auftrete und dass es um ein „Verhindern von Behinderungen“ gehe. In den Richtlinien und Empfehlungen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur „Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“ wird die Pflegebedürftigkeit älterer Personen ins Zentrum gestellt. Dazu finden sich folgende Definitionen: „Von einer ‚älteren Person‘ spricht man bei einem Menschen jenseits des 65. Lebensjahres; ‚Pflegebedürftigkeit‘ bedeutet das dauernde Angewiesensein auf Hilfe oder Unterstützung in grundlegenden Aktivitäten des täglichen Lebens (d. h. sich ankleiden, Körperpflege, Nahrungszufuhr, Benutzung der Toilette, Mobilität, Gestaltung des Tagesablaufs, soziale Kontakte). Die Pflegebedürftigkeit steigt in der Regel erst jenseits des 75. Lebensjahres markant an.“ (SAMW 2004) Die Fokussierung auf bestimmte Merkmale wird deutlich: Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung im Alter gehören hier nicht dazu. Übrigens wurde dies in der Vernehmlassung der Richtlinien auch kritisiert und mit folgender Überlegung gekontert: es „gibt (…) dennoch Aspekte (z. B. Auswirkungen einer Pflegebedürftigkeit auf die berufliche Tätigkeit oder Behinderungen im Zusammenhang mit Geburtsgebrechen), bei denen sich zusätzliche oder andere ethische Herausforderungen ergeben.“ (Stuck 2004, 1450) Der Nationale Gesundheitsbericht verwendet die gleichen Begriffe wiederum in einem anderen Verständnis bzw. mit etwas anderem Fokus. Es ist von vulnerablen Bevölkerungsgruppen die Rede, wozu „ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, allein Erziehende, Arbeitslose, Migranten oder Strafgefangene“ (Meyer 2009, 30) gezählt werden. Interessant ist in diesem Bericht, dass der Begriff der Behinderung je nach Lebensalter unterschied- VHN 4/ 2010 282 Barbara Jeltsch-Schudel lich konnotiert wird. So wird Behinderung bei Jugendlichen mit einer mindestens 6 Monate andauernden behandlungsbedürftigen chronischen Krankheit gleichgesetzt (68). Im Alter ist zwar von Behinderung die Rede, viel mehr aber vom Ziel, möglichst „behinderungsfrei“ zu altern (123). In einem anderen Zusammenhang tritt der Terminus Behinderung auch noch auf, nämlich als „Behinderungslast“ (220), womit die gesellschaftlichen Folgen psychischer Störungen gemeint sind. Im Glossar wird Behinderung lapidar als „vorübergehende oder langzeitliche Einschränkung der Fähigkeit einer Person, in der Gesellschaft zu funktionieren“ (358) verstanden. Diese kurzen Ausführungen zeigen, dass Alter und Behinderung im Gesundheitswesen der Schweiz sehr häufig so verstanden werden, dass Behinderung eine (möglichst zu vermeidende) Folge des Alterns ist und dass daraus Pflegebedürftigkeit entstehen kann. Dennoch lässt sich in den verschiedenen konsultierten Unterlagen weder von ,Alter‘ noch von ,Behinderung‘ eine konsistente Begriffsverwendung feststellen. Ein Blick auf die Behindertenhilfe zeigt einen etwas anderen Befund: Behinderung als Phänomen wird in mindestens zwei Aspekten wahrgenommen, nämlich dass sie eine lebenslange Bedeutung haben kann, also nicht erst im Alter entsteht (insofern mit dem Individuum zusammenhängt), und dass ihre Art und Ausprägung mit gesellschaftlichen Kontexten zusammenhängt (vgl. Bundesamt für Statistik 2009). Obgleich Zahlen - wie schon erwähnt - fehlen, ist seit Langem bekannt, dass Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung auch älter werden und eine zunehmend höhere Lebenserwartung haben. So wurde bereits vor mehr als 20 Jahren darauf hingewiesen, dass Betreuungsangebote für alte Menschen mit geistiger Behinderung zu planen seien (Bernath 1987, 1990). Interessanterweise blieb es bei der Feststellung von Schulz-Nieswandt (2006), dass sich die Hypothesen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Schaffung von Problembewusstsein und pauschalierten Befunden befänden. Im Kanton Zürich wurde ein Bericht im Auftrag des Kantonalen Sozialamtes erstellt, der die stationären Angebote und Strukturen für Erwachsene mit Behinderungen erhob (Hochschule Luzern 2008 a). Dieser Bericht spiegelt die Wahrnehmung der Situation von Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung im Alter, welche von den rechtlichen Strukturen beeinflusst ist: die erhobenen Daten beziehen sich nur auf die Altersstufe bis 65 Jahre. Noch vor Inkrafttreten der NFA war die Invalidenversicherung zuständig für die Finanzierung der stationären Angebote für Erwachsene mit Behinderungen. Aber schon damals erstreckte sich die Zeit der Zuständigkeit auf die Lebensphase vor dem Pensionsalter (gemäß der Zielsetzung der IV: Eingliederung vor Rente, wobei insbesondere die berufliche Eingliederung gemeint ist). Was nachher kommt, bleibt offen. Dies führte dazu, dass das Angebotsinventar nur auf diese Altersgruppe bezogen war. In einem zweiten Teil (Hochschule Luzern 2008 b) wurden, unterstützt von einem Expertenhearing, bei der Planung des künftigen Angebots Bedürfnisse und Erfordernisse der über 65-Jährigen einbezogen, kaum jedoch eine mögliche erhöhte Pflegebedürftigkeit. Allerdings konnten solch hochproblematische Situationen wie die eingangs geschilderte von der Martin Stiftung in Erlenbach nicht berücksichtigt werden, weil über die Finanzierungsmodelle und -zuständigkeiten zu jener Zeit zu wenig bekannt war. An diesem Beispiel mag deutlich werden, dass ein differenzierteres Verständnis von Behinderungen in den Einrichtungen der Behindertenhilfe vorhanden ist, dass aber der Altersphase von Menschen mit lebenslangen Behinderungen mit ihren besonderen Erfordernissen zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dies trifft noch immer zu: Auch wenn Einrichtungen mit der Schaffung von angemessenen Angeboten wie Seniorengruppen reagieren, sind es zumeist punktuelle, auf einzelne Institutionen bezogene VHN 4/ 2010 283 Behindert - alt - pflegebedürftig Aktivitäten; eine koordinierte Planung fehlt in der Schweiz. Und diese wäre dringend erforderlich, wie die bisherigen Überlegungen zeigen. Wer gestaltet mit pflegebedürftigen alten Menschen mit geistiger Behinderung ihren Ort zum Leben? - Reflexion aus heilpädagogischer Sicht Zunächst: Eigentlich ist „Heilpädagogik“ nicht der zutreffende Begriff, denn es kann bei alten Menschen nicht um eine „Pädagogik“ (im ursprünglichen Wortsinn: Knabenerziehung) gehen, sondern vielmehr um eine adäquate Begleitung in der letzten Lebensphase. Doch auch dieses Aufgabengebiet beinhaltet ein gewisses Maß an heilpädagogischem Potenzial. Da ist etwa der Umgang mit heterogenen Gruppen oder mit Vielfalt: Alte Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung sind eine noch weniger homogene Gruppe als betagte Menschen an sich, da ihre Ressourcen und Bedürfnisse noch viel unterschiedlicher sind. An der Heterogenität sind sehr viele verschiedene Faktoren beteiligt, die mit dem Menschen selber, seinen Möglichkeiten und Einschränkungen ebenso zu tun haben wie mit seiner Lebensgeschichte und seinem sozialen Netz. Als weiteres Potenzial der Heilpädagogik kann das sich wandelnde Aufgabenverständnis betrachtet werden. Professionelles Handeln beschränkt sich nicht auf Erziehung und Unterricht in erschwerten Situationen, wie dies in der Heilpädagogik oft in verengender Art gesehen wird. Das Aufgabenverständnis wandelt sich gemäß den sich verändernden Anforderungen zu einem subsidiären. Das will heißen, dass Unterstützung und Begleitung - Stichwort Assistenz - im Zentrum stehen und nicht Vermittlung und Anleitung. Die subtile und differenzierte Reflexion darüber, wie Selbstbestimmung realisierbar ist und wie Fremdbestimmung verantwortet werden kann, bleibt als ständige Aufgabe präsent. Seit jeher war die Heilpädagogik mit anderen Disziplinen (Nachbarwissenschaften) in engem Austausch. Eine adäquate Begleitung in der letzten Lebensphase kann nicht von einer Profession allein übernommen werden und nicht in einem einzigen System verankert sein. Gesundheitswesen und Behindertenhilfe haben Koordinationsformen (etwa der Finanzierung! ) zu finden, wie Fachpersonen Modelle der interdisziplinären Zusammenarbeit weiterzuentwickeln und mit dem Schwerpunkt der Arbeit mit alten Menschen mit Behinderungen zu verbinden haben. Neben den genannten Ressourcen - es gäbe bestimmt noch weitere - sind aber auch Lücken zu bedenken. Es scheint mir, dass es den Fachpersonen (übrigens nicht nur der Heilpädagogik) schwer fällt, nicht „an Fortschritten“ arbeiten zu können. Dies kann für die Arbeit mit Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung im Alter zutreffen. Die Begleitung von Menschen, deren Aktivitäten sich verringern, deren Bedürfnis nach Partizipation sich wandelt, deren Ausdrucksmöglichkeiten weniger vielfältig und deren Lebensradius kleiner wird, ist eine besondere Herausforderung. Denn sie macht uns unsere Beschränktheit bewusst, unsere Ohnmacht gegenüber existenziellen Erfahrungen wie Sterben und Tod. Menschen, die alt, lebenslang behindert und pflegebedürftig sind, sind eine Gruppe, die in unserer Gesellschaft zu vergessen gehen droht. Es muss aber unbedingt verhindert werden, dass sie durch Löcher im Sozialstaat fallen. Diese Aufgabe stellt sich nicht nur unserer Disziplin, sondern ist auf die Beteiligung anderer Fachpersonen und Systeme angewiesen. Das vorliegende Essay ist der Auftakt zum Themenstrang „Alter und Behinderung“. In den folgenden Heften der VHN werden in mehreren Beiträgen verschiedene Aspekte aus diesem Gebiet aufgegriffen, dargestellt und diskutiert. Sie sollen jene Leserinnen und Leser sensibilisieren, die mit der Thematik noch wenig vertraut sind, und jenen Anregungen geben, die mitten drin in dieser herausfordernden Arbeit in Forschung, Wissenschaft und Praxis stehen. VHN 4/ 2010 284 Barbara Jeltsch-Schudel Literatur Bernath, Karin (1987): Einige Gedanken zum Altern von Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Schweiz. In: Wieland, H. (Hrsg.): Geistig behinderte Menschen im Alter. Heidelberg: Schindele, 131 - 139 Bernath, Karin (1990): Die neuen „Senioren“. Bulletin SZH, Luzern, Heft 3, 5 - 9 Brem, Felix (2007): Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Schweizerische Ärztezeitung 88, 1260 - 1263 Bühlmann, Beat (2009): Betagten Behinderten droht die Zwangsverlegung. In: Tages Anzeiger vom 3. 7. 2009 Bundesamt für Gesundheit (BAG) (2009): Die neue Pflegefinanzierung tritt auf den 1. Juli 2010 in Kraft. Bern 24. Juni (siehe Homepage: http: / / www.bag.admin.ch) Bundesamt für Statistik (Bf S) (2009): Behinderung hat viele Gesichter - Definitionen und Statistiken zum Thema Menschen mit Behinderungen. Neuchâtel: Eidgenössisches Departement des Innern CURAVIVA (2010): Vernehmlassung zu den neuen kantonalen Bestimmungen im Rahmen der Umsetzung der Neuordnung der Pflegefinanzierung (Kanton Zürich) Grob, Daniel (2007): Profil der Geriatrie in der Schweiz - Grundlagen und Konzepte altersmedizinischer Arbeit. In: Schweizerische Ärztezeitung 88, 132 - 139 Heeb, Jean-Luc u. a. (2008): Gesundheit im Alter - Ein Bericht aus dem Kanton Zürich. Zürich: Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich Hochschule Luzern (Hrsg.) (2008 a): Angebot und Angebotsstrukturen stationärer Betreuung der erwachsenen Menschen mit Behinderung im Kanton Zürich. Angebotsinventar 2007. Bericht im Auftrag des Kantonalen Sozialamts Zürich Hochschule Luzern (Hrsg.) (2008 b): Angebots- und Strukturentwicklung im Bereich der stationären Einrichtungen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung im Kanton Zürich. Zusammenfassung der Expertenhearings 2008 Huber, Marius; Mutti, Monica (2009): Behinderte werden Opfer von Systemstreit. In: Tages Anzeiger vom 26. 6. 2009 INSOS (2008): Dies widerspricht eindeutig dem politischen Versprechen. In: INSOS Infos April 2008, 1 - 2 Jaggi, Kurt (2007): Bericht zur Subjekt- und Objektfinanzierung von Institutionen im Behindertenbereich. Analyse von Vor- und Nachteilen. Im Auftrag der Konferenz der Sozialdirektoren und Sozialdirektorinnen (SODK) und der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) Martin Stiftung Erlenbach (2010): Homepage, http: / / www.ms-e.ch/ , 30. April 2010 Meyer, Katharina (Hrsg.) (2009): Gesundheit in der Schweiz - Nationaler Gesundheitsbericht 2008. Bern: Hans Huber Moser, Anna (2009): Doppelt Solidarität verdient. In: Zürichsee-Zeitung vom 23. 10. 2009 SAMW (2004): Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen. Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften vom 18. Mai 2004 Schulz-Nieswandt, Franz (2006): Altersformen, Lebenserwartung und Altersstruktur behinderter Menschen - unter besonderer Berücksichtigung angeborener Formen geistiger Behinderung. In: Krueger, Fritz; Degen, Johannes (Hrsg.): Das Alter behinderter Menschen. Freiburg: Lambertus, 147-191 Steiner, Barbara (2009): Bei Pflegebedürftigkeit Umplatzierung? In: CURAVIVA 80, 12/ 2009, 31 - 33 Stuck, Andreas (2004): Definitive Fassung der Richtlinien und Empfehlungen „Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“ Schweizerische Ärztezeitung 85, 1450 - 1452 PD Dr. phil. Barbara Jeltsch-Schudel Abteilungsleiterin Klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik Universität Freiburg i. Ue. Heilpädagogisches Institut Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH - 1700 Freiburg Tel. ++41 26 300 77 39 E-Mail: barbara.jeltsch@unifr.ch