eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2010.art28d
101
2010
794

„Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ - Künstlerische Bildung im Choreographischen Theater

101
2010
Johannes Heim
Formen des künstlerischen Ausdrucks werden zunehmend in den Fokus von Erziehung und Bildung gerückt. Das in diesem Beitrag dargestellte choreografische Theater arbeitet mit Formen des freien Tanzes, szenischem Spiel und Musik. Es basiert primär auf dem Ausdruck des Körpers, und sein pädagogisches Anliegen ist die Bildung der Persönlichkeit bei unterschiedlichen Altersstufen und Entwicklungsvoraussetzungen. Erfahrungen wurden insbesondere mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen gemacht. Zur Reflexion und Entwicklung der kunstpädagogischen Praxis stützt sich der Ansatz auf unterschiedliche theoretische Zugänge. In diesem Artikel werden ritualdynamische Ansätze fokussiert, wobei der Prozess der Proben und Aufführungen im choreografischen Theater als Übergangsritus nach den Theorien der Ethnologen van Gennep und Turner aufgefasst und vor diesem Hintergrund analysiert wird.
5_079_2010_4_0005
Fachbeitrag VHN, 79. Jg., S. 328 - 339 (2010) DOI 10.2378/ vhn2010.art28d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 328 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ - Künstlerische Bildung im Choreographischen Theater Johannes Heim Heidelberg n Zusammenfassung: Formen des künstlerischen Ausdrucks werden zunehmend in den Fokus von Erziehung und Bildung gerückt. Das in diesem Beitrag dargestellte choreografische Theater arbeitet mit Formen des freien Tanzes, szenischem Spiel und Musik. Es basiert primär auf dem Ausdruck des Körpers, und sein pädagogisches Anliegen ist die Bildung der Persönlichkeit bei unterschiedlichen Altersstufen und Entwicklungsvoraussetzungen. Erfahrungen wurden insbesondere mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen gemacht. Zur Reflexion und Entwicklung der kunstpädagogischen Praxis stützt sich der Ansatz auf unterschiedliche theoretische Zugänge. In diesem Artikel werden ritualdynamische Ansätze fokussiert, wobei der Prozess der Proben und Aufführungen im choreografischen Theater als Übergangsritus nach den Theorien der Ethnologen van Gennep und Turner aufgefasst und vor diesem Hintergrund analysiert wird. Schlüsselbegriffe: Choreografisches Theater, modern dance, Übergangsriten, Persönlichkeitsbildung, Theaterpädagogik „The Dancer Within“ - Artistic Education in Choreographic Theatre n Summary: Education by means of artistic expression is becoming more and more important in scientific discussion. Choreographic theatre, presented and discussed in this article, makes use of different forms of free dance, drama and music. It is primarily based on body language and its educational intention is character moulding in children and youths of different age and of different developmental stages. Expert knowledge of this approach has been gained above all in the work with children and youths living in adverse circumstances. To reflect and develop the practice of artistic education, choreographic theatre draws upon different theories. This article focuses on approaches of ritual dynamics. According to the theories of the ethnologists van Gennep and Turner, the process of rehearsal and performance in choreographic theatre is interpreted and analysed as a rite of passage. Keywords: Choreographic theatre, modern dance, rites of passage, character moulding, applied drama 1 Begriffsbestimmung und Zielsetzung In den letzten Jahren wird zunehmend der künstlerische Ausdruck in der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen - nicht zuletzt auch in der therapeutischen Betreuung - in den Fokus der Diskussion gerückt. Projekte wie diejenigen von Sir Simon Rattle und Royston Maldoom, aus denen u. a. der Film „Rhythm is it“ hervorging, haben ein brennendes Interesse unter Lehrern, Pädagogen und Therapeuten ausgelöst, wenn auch durchaus mit gemischten Bewertungen. „You can change your life in a dance class“, heißt es in dem Film. Workshops und Lehrerfortbildungen mit Royston Maldoom sind seither weit im Voraus ausgebucht. Man verspricht sich eine Art alternativer Bildung jenseits rein kognitiver Anforderungen auch für sozial schwache Gruppen sowie eine therapeutische Wirkung bei Kindern und Jugendlichen mit den unterschiedlichsten Problemen. Projekte dieser Art bleiben in der Regel jedoch von theoretischer Fundierung noch wenig berührt. Kunst hilft - und was hilft, ist gut. Eine fachliche Reflexion über die inhaltliche Ausrichtung und die Wirkungen der theaterpädagogischen Arbeit auf die Persönlichkeits- VHN 4/ 2010 329 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ bildung bleibt oft oberflächlich. Meist liegt der Schwerpunkt theoretischer Reflexion entweder bei Künstlertheorien oder gerät instruktionistisch und kompetenzorientiert bzw. bleibt rein pragmatisch. Mit dem choreografischen Theater verhält es sich, bezogen auf einen empfundenen Theoriemangel, bisher ähnlich. Der Begriff wurde ursprünglich von Johann Kresnick geprägt, um die von ihm entwickelte Form des Tanztheaters zu bezeichnen, das sich - in Abgrenzung zur zunehmend abstrakten Formästhetik des zeitgenössischen Tanzes - am ausdrucksstarken konkreten Bild orientiert. In Anlehnung an Kresnick wird der Begriff choreografisches Theater verwendet, um einerseits die Betonung der körperlichen Expression sowie andererseits die Hinwendung zum konkreten Bild zu kennzeichnen. Das choreografische Theater möchte Geschichten erzählen, Handlungen, die auch von Laien unter den Zuschauern erfasst und erlebt werden können. Insofern ist es Theater. Außerdem betont es dabei den Körper, oder besser: den Leib, als Erlebnis- und Ausdrucksmedium in Bewegung - insofern ist es choreografisch. Das Anliegen des vorliegenden Artikels ist es, den Ansatz des choreografischen Theaters darzustellen und einen ersten Versuch zu unternehmen, die bisher in der praktischen Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse auf theoretischem Hintergrund zu reflektieren und damit vermittelbar und diskutierbar zu machen. Das choreografische Theater entwickelte sich anhand zahlreicher Projekte mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen seit etwa 1997 in Heidelberg. Das pädagogische Anliegen bestand damals darin, Kinder und Jugendliche, vorwiegend in der Adoleszenzphase, über die Förderung des künstlerischen Ausdrucks in ihrer Persönlichkeitsbildung zu unterstützen. Später kamen Projekte mit jüngeren Kindern hinzu. Besonders wichtig wurde hierbei die intensive Arbeit mit dem Körperausdruck. Kooperationsprojekte mit professionellen Künstlern, die zu öffentlichen Aufführungen führten, trugen viel zur Entwicklung des choreografischen Theaters bei. Die durchweg positiven Resultate der kunstpädagogischen Arbeit waren sehr ermutigend, empirisch aber nicht so leicht zu fassen und zu beschreiben. So wurde der Ruf nach einer theoretischen Fundierung als Reflexionswerkzeug immer lauter. Die Einbeziehung von Tanz- und Theatertheorien bildete einen ersten Grundlegungsversuch, der bald ergänzt werden musste, um den Ansatz des choreografischen Theaters in theaterpädagogischen Aus- und Fortbildungskonzepten fundiert vermitteln zu können. Fruchtbare Ansätze fanden sich bei den Ethnologen Turner (2005) und van Gennep (1999), in ihren Theorien der Übergangsrituale sowie in deren Weiterentwicklung, der Ritualdynamik. Im Folgenden werden zunächst die künstlerischen Ausdrucksformen Tanz und szenisches Spiel dargestellt und reflektiert. Ein Exkurs über sprachliches Handeln nimmt Bezug auf die noch gängige Praxis des rezitativen Stils im Schülertheater. Im zweiten Teil wird der künstlerischpädagogische Prozess vor dem Hintergrund der Ritualdynamik in seinen strukturellen Wirkungsmustern beschrieben. Ein Fazit bildet den Abschluss und gibt einen Ausblick auf künftige Anliegen und weitere Quellen bei der Theoriebildung im choreografischen Theater. 2 Ausdrucksformen im choreografischen Theater Das choreografische Theater stützt sich auf drei Bereiche der Performancekünste: Tanz, szenisches Spiel sowie Musik und Gesang. Die Übergänge zwischen diesen drei Kunstformen sind fließend, wobei die Grundlage durch den körperlichen Ausdruck gebildet wird. Grundsätzlich gilt das Primat des Körpers, wodurch alle Inhalte zunächst vom körperlichen Ausdruck ausgehend erarbeitet werden. Spielszenen können choreografiert sein oder durch choreografische Elemente als Zwischenspiele ergänzt werden, bis hin zu rein choreografischen Sequenzen im Sinne von Tänzen. Musik und Gesang ordnen sich übergangslos in die beiden VHN 4/ 2010 330 Johannes Heim anderen Ausdrucksformen ein oder können zu eigenständigen Elementen innerhalb einer Aufführung werden. 2.1 Tanz Das choreografische Theater greift auf Elemente aus dem modernen Ausdruckstanz, dem Afrikanischen Tanz, der Kontaktimprovisation, des Authentic Movement und Elemente des Butoh zurück sowie seit kürzerer Zeit auch auf freie Formen des modernen Balletts. Für das choreografische Theater gilt die Regel: Wer lernt, auf der Bühne tänzerischen Ausdruck zu entfalten, der lernt zugleich die wichtigsten Grundlagen für das szenische Spiel: sich leiblich in Figur und Situation zu versetzen. Ausdruckstanz und seine Ausweitung auf mehrere Personen in der Kontaktimprovisation vermittelt Kindern und Jugendlichen Freude an der freien Bewegung mit oder ohne Musik und hilft ihnen, ihr individuelles Bewegungsvokabular zu erweitern und darüber hinaus Stimmungen sowie epische Handlungen auszudrücken. Durch die Überwindung einer an abstrakten Formen orientierten Körperästhetik und der damit einhergehenden Normierung des Körpers sowie seiner Ausdrucksmöglichkeiten verhilft der Ausdruckstanz dazu, in eine expressive Form der Bewegung zu finden, die zunächst nicht durch formale Aspekte bestimmt ist. Rudolf von Laban, der als der Begründer des deutschen Ausdruckstanzes gilt, fasst seine Auffassung tänzerischer Expression unter zwei Prämissen zusammen, die für das choreografische Theater von Bedeutung sind: n Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich. n Der Tanz dient als Mittel der Persönlichkeitsentfaltung. Über die Entwicklung tänzerischer Wahrnehmung, die für das Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenwelt sensibilisiert, kann jeder Mensch den Tanz als körperlich-seelisch-geistige Bewegung und Bewegtheit erleben und dadurch zum Selbstausdruck fähig werden: „Tänzerisch begabt ist, wer Eindrücke der Umwelt in körperlich-seelisch-geistiges Spannungsgefühl umsetzt.“ (von Laban 1920, 68) Der Afrikanische Tanz beispielsweise vermittelt im choreografischen Theater Grundformen des tänzerischen Erzählens von Geschichten und der körperlichen Übernahme einer Rolle. Seine unverwechselbaren Formen der Rhythmisierung und der intensive Einsatz von Perkussionsinstrumenten korrespondieren mit stark rhythmisch akzentuierten Musikformen, die den Kindern und Jugendlichen durch ihren alltäglichen Musikkonsum vertraut sind, und erleichtern so das Arrangement der ersten Begegnung und die Akzeptanz mit dieser Tanzform. 2.2 Szenisches Spiel Die Figur zu spielen würden wohl viele Schauspieler als Ziel und Zweck ihrer Arbeit angeben. Über das Wesen des Schauspielens oder die Aneignung der Schauspielkunst gibt es von Lessing über Diderot und Stanislavskij 1 bis hin zu Brecht bzw. aktuell Habig (2009) viele Versuche der Reflexion und theoretischen Fundierung, die Eingang in die Ausbildung von professionellen Schauspielern gefunden haben. Ein Blick in den Lehrplan einer deutschen Schauspielschule gibt Aufschluss über eine Varietät an praktischen Fächern, die heute mit dem Ausbildungsziel der Bühnenreife assoziiert werden. Rollenstudium nach Stanislavskij, Strassberg und Brecht, Stimmbildung, Gesangsunterricht, Bühnenfechten, Acting vor der Kamera, Körpertraining (Akrobatik, oft auch ein Kampfsport und eine Entspannungstechnik wie Alexandertechnik oder Tai Chi) und verschiedene Formen des Tanzes (an manchen Schulen ist afrikanischer Tanz aktuell), manchmal sogar Feldenkrais oder Eurythmie. Damit soll institutionell geschulten professionellen Schauspielern eine breite Basis an Techniken und Ausdrucksformen vermittelt werden, mit denen sie ihr Spiel und ihre Figur entwickeln können. VHN 4/ 2010 331 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ Eine derartige Professionalisierung bis hin zur Normierung und vielleicht sogar Technisierung des Ausdrucks ist mit Kindern und Jugendlichen nicht erreichbar und sollte auch nicht angestrebt werden. Hier ist von anderen Voraussetzungen und Zielvorstellungen auszugehen: Kinder und Jugendliche, Schülerinnen und Schüler haben keine professionelle Vorbildung, bewegen sich ihrer Körpererfahrung gemäß zunächst womöglich unbeholfen, sprechen unverständlich, haben Hemmungen. Arbeitet man mit Schülern zusammen, so wird man bald erkennen, dass viele von ihnen, seien auch ihre technischen Möglichkeiten und Ausdrucksmittel (anfangs) noch begrenzt, individuell bedeutsame, manchmal sogar existenzielle Lebenserfahrungen besitzen. Gelingt es, diese für die künstlerische Arbeit zu aktivieren, können sie eine Ausdrucksfähigkeit entwickeln, die in ihrer Unbefangenheit und natürlichen Kraft einen großen Reiz auf die Zuschauer ausübt. Kinder und Jugendliche haben oft kein Schema vom Wesen des Schauspielens im Kopf und sind deshalb manchmal in der Lage, durch ihr Spiel in ganz direkter Weise zu überraschen und zu berühren, da sie die Rezeptionsgewohnheiten der Zuschauer brechen. Das bedeutet, dass die Nähe zum Publikum mitunter sogar größer sein kann als bei professionellen Künstlern. Die obige Ausführung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im choreografischen Theater mit Kindern und Jugendlichen technische Aspekte eine Rolle spielen. Es braucht Anleitung und Übung, um eine Figur verkörpern zu lernen. Von professionellen Schauspielern wird erwartet, dass sie eine möglichst große Identität mit der zu spielenden Figur herstellen können. Sie lernen u. a. ihr emotionales Gedächtnis (vgl. Stanislavskij 1961, 188 - 220) zu aktivieren, um sich in eine Figur einfühlen zu können. Das bedeutet, sie suchen in ihrer eigenen Biografie Situationen, in denen sie Gefühle hatten, die sich möglichst mit denen der Figur in ihrer jeweiligen Spielsituation decken sollen. Ausgehend von Stanislavskijs Methode steht die Identität des Schauspielers mit der Figur im Mittelpunkt, die die Illusion von Echtheit und Authentizität der Bühnenfigur vermitteln soll. Die eigene Persönlichkeit des Schauspielers tritt dabei zugunsten der Figur in den Hintergrund. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist die Aktivierung des emotionalen Gedächtnisses ebenfalls bedeutsam, da ihnen eigenes biografisches Material eine Hilfe sein kann, eine Rolle auszugestalten. Aus verschiedenen Gründen ist aber eine Identität mit der Figur nicht anzustreben. Zum einen fehlen Kindern und Jugendlichen die technischen Mittel und die mehrjährige Ausbildung, die erforderlich ist, um die eigene Persönlichkeit zurückstellen und vorübergehend eine andere Identität annehmen zu können. Zum andern ist der pädagogische Aspekt der Persönlichkeitsbildung zu berücksichtigen: Für den einzelnen Jugendlichen kann es ein bedeutendes Moment sein, auf der Bühne kein anderer zu sein, sondern in der Rolle sich selbst als jemand anderen in völlig neuen Zusammenhängen wahrzunehmen. Das choreografische Theater stützt sich daher auch auf Brechts Gedanken zur epischen Spielweise (z. B. Rülicke-Weiler 1966), da sie ein dialektisches Wechselspiel von Identität mit der Figur und Distanz zu ihr zur Grundlage hat. Damit steht nicht mehr die erstrebte Einheit mit der Figur im Vordergrund, sondern die Fähigkeit, flexibel mit gradueller Nähe und Distanz zur Rolle spielen zu können. Gemäß der Forderung Brechts heißt dies für den Schauspieler, auch eine persönliche Haltung zur Figur einzunehmen, die individuell verschieden sein kann. Die Schüler lernen also, nicht nur sich selbst zu präsentieren und zu profilieren, aber auch nicht bloß als Figuren auf der Bühne zu agieren, die mit ihrer eigenen Persönlichkeit kaum etwas gemein haben. Stattdessen stehen sie als Person, als Individuum auf der Bühne, aber zugleich als Figur, sodass sie sich selbst wahrnehmen als jemanden, der auch ein anderer sein kann, ohne VHN 4/ 2010 332 Johannes Heim sich zu verlieren. Für die Persönlichkeitsbildung können solche Erfahrungen mit der Zeit zu einer Flexibilisierung des Selbstbildes und seiner Rollenzuschreibungen führen. Dadurch kann sich die Persönlichkeit im Sinne der Ambiguitätstoleranz zunehmend freier in den wechselnden Rollenerwartungen der postmodernen Gesellschaft bewegen, ohne die Einheit der eigenen Identität zu gefährden, da der alle Rollen vermittelnde und organisierende Kern, der Leib, das Körperselbstbild hervorbringt. Der Körper ist keineswegs nur im Tanz die Basis des künstlerischen Ausdrucks. Selbst Maler und Musiker können ihren Pinsel, ihr Instrument, als „Ausdrucksmittel ihres Körpers“ verstehen. Selbiges gilt in vielleicht noch gesteigertem Maße für das Theater: „In keiner anderen Kunstform steht der menschliche Körper, seine verletzliche, gewalttätige, erotische oder ‚heilige‘ Wirkung so sehr im Zentrum wie im Theater.“ (Lehmann 1999, 361) 2.3 Sprachliches Handeln Eine weitere Aufgabe, die zum szenischen Spiel gehört, ist die Arbeit am Text. In der professionellen Schauspielausbildung wird der zeitlich und inhaltlich größte Aufwand betrieben, die Auszubildenden dazu zu befähigen, ihren Rollentext dem Publikum authentisch darbringen zu können. Das führt im Schülertheater zeitweise dazu, dass das Aufsagen des Textes im Mittelpunkt steht, mitunter sogar mit der eigentlichen Theaterarbeit verwechselt wird, wobei die Kriterien für einen gut gesprochenen Text primär Verständlichkeit und eine schöne Betonung zu sein scheinen. Diesem rezitativen Stil - Stanislavskij nannte es „Deklamieren“ - begegnet man häufig. Im choreografischen Theater fasst man den (verbal-)sprachlichen Ausdruck als Ausdruck des Körpers auf. Stimme und Sprechen sind ein Teil dieses Körperausdrucks, also spielen und sprechen die Schauspieler im choreografischen Theater nach Möglichkeit mit dem ganzen Körper und nicht allein mit dem Kehlkopf oder den Stimmlippen. Deshalb legt man in der Erarbeitung der Szenen den Schwerpunkt auf das körperliche Geschehen, geleitet von Fragen zu Situation und Handlung der Figuren. Sind diese geklärt, kann der Text auf das Fundament der szenischen Handlung gebettet werden. Der umgekehrte Weg führt oft zu einem handlungsarmen, rezitativen Theater, das für Schüler ohne professionelle Sprechausbildung kaum zu bewältigen ist. Für viele Kinder und Jugendliche ist der lautsprachliche Ausdruck auf situationsadäquate Funktionalität ausgerichtet; ihre Sprache ist häufig auf einem geringen Wortschatz aufgebaut und kommt mit wenig, teils verkümmerter Grammatik aus. Die pädagogische Absicht, die Theaterarbeit etwa dazu zu benutzen, Kindern und Jugendlichen auf diesem Wege einen intensiven Sprechunterricht zukommen zu lassen, mag zwar einleuchtend sein. Das choreografische Theater vermeidet jedoch einen solchen Ansatz. Ein wichtiger Grund dafür ist das Primat der Kunst in der theaterpädagogischen Arbeit, nach dem der künstlerische Ausdruck grundsätzlich nicht reduktiv für therapeutische Zwecke genutzt werden sollte, wenngleich therapeutische Effekte als Nebenprodukte begrüßt werden. Außerdem werden Schüler, vor allem solche mit Sprachproblemen, leicht ihre Bereitschaft zur Mitarbeit verweigern, wenn man ihnen ein rein formales Sprechtraining aufbürdet. Das choreografische Theater bevorzugt deshalb eine Sprache, die sich mit dem Begriff der Reduktion beschreiben lässt. Reduktion bezieht sich auf das Textmaterial sowie auf die Präsentation, den Sprechvorgang. Die Sprache im choreografischen Theater zeichnet sich durch einen sparsamen Gebrauch der Wörter aus: nicht ungewöhnlich sind Szenen, in denen ein Dialog mit Einwortsätzen geführt wird. Darin lässt sich einerseits eine Nähe zum postdramatischen Theater (vgl. Lehmann 1999) erkennen, in dem die „konventionalisierte Norm der Zeichendichte“ (151) und damit Wahrnehmungsgewohnheiten verletzt werden, um ein intensi- VHN 4/ 2010 333 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ viertes Theatererlebnis zu erzeugen; andererseits trägt das choreografische Theater damit den individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer Rechnung, um den Zugang zur künstlerischen Arbeit nicht zu erschweren oder zu verunmöglichen. Mit der Reduktion in der Sprechweise soll zudem vermieden werden, dem Publikum erklären zu wollen, was in einer Figur in einer gegebenen Situation vorgeht. Damit wird dem Publikum Raum zur Projektion und Interpretation des mehrdeutigen sprachlichen und körperlichen Ausdrucks gegeben, wodurch eine intensivere Einbindung der Zuschauer in das figurative Beziehungsgeflecht möglich wird. Bei der Erarbeitung eines Textes besteht die Schwierigkeit zunächst einmal darin, dass dieser Text in den allermeisten Fällen nicht der Text des Individuums ist, das ihn sprechen soll. Kinder und Jugendliche, die auf der Bühne einen Text sprechen sollen, haben vor allem erst einmal damit zu kämpfen, dass die Worte, die ihnen vorgeschrieben werden, nicht ihre eigenen sind, die sie aber sprechen sollen, als seien es ihre eigenen. Das geht aber nur, wenn man die feinen und komplexen physischen und psychischen Prozesse berücksichtigt, die den Impuls für ein Wort, einen Satz, einen Text bilden: „Ein Wort beginnt nicht als Wort - es ist ein Endprodukt, das als Impuls anfängt und, durch Überzeugung und Verhalten beflügelt, den notwendigen Ausdruck findet.“ (Brook 2001, 14) Wenn wir den Theaterschülern den Zugang zum Sprechen als ein Medium ihres Ausdrucks eröffnen wollen, müssen wir „erkennen, dass die einzige Methode, den wahren Zugang zum Wort zu finden, in der Wiederholung des ursprünglichen Schöpfungsvorgangs liegt.“ (Brook 2001, 15) Das bedeutet, dass Schüler jedes Mal, wenn sie ihren Text sprechen - sei es in der Probe oder auf der Bühne -, diesen aus ihrem inneren situativen Erleben neu entstehen lassen müssen. Das ist ein anstrengender, aber lohnender Weg, den sie gehen können, um in ein sprachlich ausdrucksstarkes Spiel zu finden. Die Stimmlehrerin Linklater (1997, 257) schreibt: „Sobald du die innerlich angesammelten Gefühle und Gedanken laut aussprichst, hörst du, wie die Gedanken klingen, und es entsteht die Versuchung zu wiederholen, wie es geklungen hat, anstatt neu zu schaffen, was gedacht wurde. Das ist der Grund, warum man durch das wiederholte Proben und Spielen einer Szene leicht mechanisch wird (…).“ Die Wiederholung des Schöpfungsvorgangs ist wiederum davon abhängig, dass „jede im Text enthaltene Einzelheit vom Sprecher verstanden wird. Solange der Sprecher nicht genau verstanden hat, was er sagt, wird das, was er sagt, willkürlich, narzisstisch und irreführend sein.“ (Linklater 1997, 253) Deshalb wird im choreografischen Theater vermieden, den Akteuren vorzuschreiben, wie sie einen Text sprechen sollen: Da ihnen in der Regel die technischen Möglichkeiten fehlen, das, was man ihnen vorspricht, nachahmen zu können, stellen sich in der Folge oft Ausdruckslosigkeit oder Manieriertheit ihres Spiels ein. Stattdessen sollte man seine Anweisungen an die jugendlichen Schauspieler auf Hinweise zum Verständnis von Text, Szene und ihrer Figur in der jeweiligen Situation konzentrieren. Trotz allem bietet die technische Arbeit an der Befreiung der Stimme eine gute Möglichkeit, sie beweglich und geschmeidig zu machen, ihr Volumen zu verleihen und in ganz neue Dimensionen des Erlebens und des Ausdrucks vorzudringen. Denn eine befreite Stimme ist nicht nur ein „wohlgestimmtes Instrument, sondern eine ständig geöffnete Straße, die ins kreative Zentrum hinein und hinaus führt.“ (Linklater 1997, 252) Es bleibt lediglich zu beachten, dass in der Probenarbeit bzw. der Aufführung die Konzentration der Schüler nicht allein darauf verwendet wird, an den richtigen Gebrauch der Stimme zu denken. Ziel ist es, die Sprachgewohnheit zu verändern, sodass das richtige Sprechen unbewusst erfolgt. Da ein solcher Stimmbildungsprozess eine langwierige Angelegenheit ist, die viel und regelmäßige Übung sowie professionelle Anleitung erfor- VHN 4/ 2010 334 Johannes Heim dert, kann er im choreografischen Theater mit Schülern in der Regel nur begrenzt eingesetzt werden. Der erste Schritt zu einer Befreiung des sprachlichen Ausdrucks bei Schülern ist die Befreiung und Alphabetisierung des Körpers, womit zugleich auf die weitreichenden Möglichkeiten des Tanzes verwiesen wird. Es ist von großem Nutzen, den Schülern im Tanz zu positiven Körpererfahrungen zu verhelfen, die es ihnen ermöglichen, Spannungen abzubauen, in Kontakt mit ihrer Atmung zu kommen und so die Grundlage für ein authentisches Sprechen und Spielen zu schaffen. Später kann der Tanz um sprachliche Äußerungen ergänzt werden. Die Schüler der Ecole Jacques Lecoq in Paris beispielsweise bedienen sich hierzu der sog. Mimodynamik (vgl. Lecoq 2000, 74), einer Methode, mit der der Klang einzelner Worte und ganzer Texte in gestische bzw. ganzheitliche körperliche Bewegung transformiert wird. 3 Der künstlerisch-pädagogische Prozess in Probe und Aufführung Der Prozess der Erarbeitung eines Bühnenstücks im choreografischen Theater lässt sich in zwei Spiralen beschreiben: Die kleine Spirale stellt den Probenprozess dar, in welchem Fortschritte innerhalb einer Struktur sich immer wiederholender Proben erzielt werden. Die große Spirale beschreibt die Aufführungen, in der die Seclusion (Turner 2005) der Gruppe zugunsten einer teilweisen Integration in eine breitere Öffentlichkeit überwunden wird, wobei wiederholte Aufführungen zu einer Fortentwicklung des Bühnenstückes führen. Zur Reflexion des Probenprozesses und seiner pädagogischen Wirkmechanismen im Dienste der Persönlichkeitsbildung wird auf die Theorie der Übergangsriten der Ethnologen van Gennep (1999) und Turner (2005) und in deren Nachfolge auf die Konzepte des Performativen in der Ritualdynamik (vgl. Harth/ Schenk 2004) zurückgegriffen. Übergangsriten erfolgen in drei Phasen: In der Ablösungsphase werden die Initianten von ihren alltäglichen sozialen Einbindungen und Rollenzuschreibungen getrennt; die Schwellenphase (Liminalität) beschreibt einen Zwischenzustand, in dem die Initianten als sog. Schwellenwesen weder über einen Status noch über einen Rang, eine Rolle oder eine Position verfügen; und in der Angliederungsphase (Integration) erlangen die Initianten ihren neuen Status, wobei in der strukturell orientierten Theorie offen bleibt, worin dieser besteht. Für das choreografische Theater ist der Schwellenzustand von besonderer Bedeutung, da die Initianten als Schwellenwesen die Communitas (Turner 2005, 96) bilden: Sie bezeichnet eine lockere oder undifferenzierte Gemeinschaft von Gleichen, die eng miteinander verbunden den Schwellenzustand erfahren. Die Communitas bildet in vieler Hinsicht ein Gegenmodell zur strukturierten und differenzierten Gesellschaft. In Bezug auf die oben genannten Voraussetzungen wird der künstlerisch-pädagogische Prozess im choreografischen Theater unter ritualdynamischer Perspektive untersucht. Die Bezeichnung als künstlerisch-pädagogischer Prozess erscheint deswegen geeignet, weil beide Perspektiven in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Dienst des Prozesses benötigt werden. Die künstlerische Perspektive, der in der praktischen Arbeit ein Primat zugestanden wird, bestimmt die inhaltliche und thematische Ausgestaltung des Probenprozesses. Die pädagogische Perspektive kann sich zu Zwecken didaktischer und methodischer Reflexion der involvierten Bildungsprozesse verschiedener Hilfsdisziplinen und -theorien bedienen. Allerdings muss eingeräumt werden, dass die theoretische Fundierung des choreografischen Theaters im fachlichen Diskurs noch nicht abgeschlossen ist und die folgenden Ausführungen vorwiegend auf Erfahrungswerten in der praktischen Arbeit gründen. Die ritualdynamische Perspektive und deren Hervorhebung des Performativen dient als VHN 4/ 2010 335 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ Reflexionsansatz der künstlerisch-pädagogischen sowie der entwicklungspsychologischen Prozesse innerhalb des Proben- und Aufführungsgeschehens. Diese werden anhand der Darstellung der spezifischen Phasen eines Probenprozesses näher erläutert. Die Wahl des Stoffes, die Rekrutierung einer Gruppe sowie die Suche nach einem geeigneten Raum sind hierfür bedeutsam und könnten eigens ausführlich thematisiert werden. Aus Platzgründen sollen diese Punkte jedoch nur exemplarisch in die Ausführungen zur Probenproblematik einfließen. Der nächste Schritt wäre die szenische und choreografische Erarbeitung des Bühnenstückes. 3.1 Phase I: Unspezifisches Warmup Die Probe beginnt mit dem Betreten des Raumes, in dem sie stattfinden soll. Es hat sich hierbei als wichtig erwiesen, eine Lokalität zu haben, die räumlich und symbolisch vom Alltagserleben der Kinder und Jugendlichen abgrenzbar ist, insbesondere bei der Arbeit mit Schülergruppen. Um sich auf einen kreativen Prozess einlassen zu können und Hemmungen abzuschwächen, die besonders bei unerfahrenen Mitgliedern einer Gruppe gegenüber der körperbetonten Arbeitsweise im choreografischen Theater bestehen, müssen vorübergehend die Selbstbilder und die Beziehungsmuster des Alltags innerhalb der Gruppe abgelegt werden, da diese sonst in Form von Konflikten und Schamgefühlen und der daraus resultierenden Verweigerung die Arbeit erschweren würden. Dies entspricht der Ablösungsphase (Seclusion) des Übergangsritus. Primäres Ziel ist im Probenprozess bei neu zusammengestellten Gruppen daher die Bildung eines bewertungsfreien Rahmens, der den Teilnehmern den Zugang zum sogenannten Ludischen eröffnet. Das Ludische ist eine Dimension des Performativen in der Ritualdynamik und bezeichnet nach Wulf und Zirfas (2004, 87) „einen spielerischen Ernst, der gewisse Grenzen wahrt, und so die Pflicht mit der Freiwilligkeit, die Solidarität mit der Individualität verknüpft“. Das bedeutet, dass die Übungen, Improvisationen und das Einstudieren des Bühnenstückes einerseits individuelle Ausdrucksformen und -qualitäten freisetzen und zur Geltung kommen lassen sollen, dies zugleich aber im Halt und Rahmen der Gruppe sowie in Bezug zu Thema und Inhalt erfolgen soll. Die Arbeit mit dem Körper und die Fähigkeit zu körperlich-sprachlicher Expression sind nicht Selbstzweck, sondern richten sich immer auf das Ziel der Aufführung des Bühnenstückes. Die Probe beginnt entweder mit einem kleinen Ritual im Kreis (z. B. an den Händen halten, kurze Phase der Stille und Achtsamkeit auf Körper und Atmung) oder bei erfahreneren Gruppen nicht ritualisiert, d. h. mit unspezifischen Übungen, die auf das Stück bezogen sind. Dies ist die erste Phase, das unspezifische Warmup. Sie dient dazu, den Alltag in Raum und Zeit zu verlassen, vergangene Konflikte, die außerhalb des Probenraumes stattfanden, vorübergehend abzulegen und über die intensive Arbeit mit dem Körper in Dehnungs-, Kräftigungs- und Tanzsowie Kontaktimprovisationsübungen im Hier und Jetzt anzukommen. Der Probenprozess als solcher bildet in der Terminologie der Übergangsriten (van Gennep 1999) die Schwellenphase mit der oben beschriebenen völligen Aufhebung aller sozialen Status- und Rollenzuschreibungen. Damit ist ein Möglichkeitsraum des kreativen Experimentierens mit dem Material, aber auch mit sich selbst eröffnet, ganz im Sinne des fabricando fabricamur nach Wilhelm Schmid (1998). Darüber hinaus wird durch diese Übungen die Expressivität und das Ausdrucksrepertoire grundlegend entwickelt, das Bewegungsvokabular in Beziehung zum Körper entfaltet, die Alphabetisierung des Körpers vollzogen. Ein Beispiel für eine Übung, die in dieser Phase vorkommen kann, ist das geliebte Objekt: Zur Musik nehmen die Akteure in tänzerischer Improvisation Kontakt mit einem Objekt auf, dem sie in ihrer Imagination große Liebe VHN 4/ 2010 336 Johannes Heim und Wertschätzung entgegenbringen, entwickeln eine freie Bewegungssequenz mit dem Objekt und beenden die Etüde mit einer Verabschiedung und Trennung vom geliebten Objekt. Die Alphabetisierung des Körpers lässt sich unter ritualdynamischer Perspektive als eine Dimension des Performativen auffassen, die die Grundlage für Rituale bildet: Rituale erscheinen vor allem als „körperliche Handlungsformen“ (Wulf/ Zirfas 2004, 88). Gestik, Mimik und in umfassenderem Sinne: Körperausdruck sind als „signifikante Bewegung (…) und symbolische Darstellung von Intentionen und Emotionen (…) an der Vergesellschaftung des Einzelnen und an der Entstehung und Ausgestaltung der Gemeinschaft beteiligt. In allen rituellen Situationen sind sie Mittel der Sinngebung, die soziale Subjekte dabei unterstützen, eine Beziehung zueinander aufzubauen und sich verständlich zu machen.“ (Wulf/ Zirfas 2004, 88) Aus dem oben Genannten ergibt sich, dass die Betonung des Körpers im choreografischen Theater nicht aus rein künstlerischen Erwägungen erfolgt. Sie dient auch einem pädagogischen Ziel: der Entwicklung tragfähiger (Arbeits-) Beziehungen in der Gruppe sowie in langfristiger Perspektive der Entwicklung von Beziehungsfähigkeit. In der Terminologie Turners (2005) trägt die Arbeit am und mit dem eigenen Körper sowie dem des Partners zur Entstehung der Communitas bei. 3.2 Phase II: Szenische Improvisation Die zweite Phase im Probenprozess, die szenische Improvisation, führt inhaltlich an die am jeweiligen Termin zu erprobende Szene heran. In Kleingruppen erproben die Teilnehmer eigenständig oder mit Unterstützung durch die Leitung in körperlicher Form die Spielsituation, also das Grundthema, das der eigentlichen Szene, die in dieser Probe bearbeitet werden soll, zugrunde liegt. In diesem Prozess sind die Anleiter gefordert, aus dem Material der Szene Spielsituationen und Spielaufgaben zu extrahieren, die den Kleingruppen in freier Form zur improvisatorischen Bearbeitung überlassen werden können. Es geht um die Geschichte, die die Szene später erzählen soll. Die Betonung liegt auch in dieser Phase auf dem körperlichperformativen Erproben der Spielsituation: Die Teilnehmer haben die Aufgabe, in choreografischer Weise zu improvisieren, wobei grundsätzlich alles erlaubt ist, wenn es in Beziehung zur Spielaufgabe bleibt. Das Sprechen von Text ist dabei möglich, aber keineswegs notwendig. Oft wird Musik zur Unterstützung eingesetzt. Die Werke der Kleingruppen haben stets einen klaren Anfang sowie ein klares Ende, sodass das in dieser Phase entstehende Material präsentiert werden kann. Die Präsentation steht immer am Ende der Phase der szenischen Improvisation. Jede Gruppe präsentiert den anderen ihre Ergebnisse. Es wird grundsätzlich nicht bewertet. Rückmeldungen und Anregungen zur Weiterarbeit durch die Teilnehmer sind gestattet, sofern sie konstruktiv sind. Aus pädagogischer Perspektive bieten die Präsentationen im Rahmen der Probe die Möglichkeit, innerhalb der Gruppe Erfahrungen mit der Präsentation von Arbeitsergebnissen vor einem „Publikum“ zu machen. Dadurch wird späteren Prozessen der Beziehungsaufnahme zum Publikum und deren Rückwirkungen auf die Darsteller vorgegriffen, und diese werden in die Probe integriert. Im geschützten und bewertungsfreien Rahmen der Gruppe (Communitas) können die Teilnehmer Erfahrungen mit dem Sich-Öffnen und dem Gesehen-Werden machen, die sich stärkend auf das Vertrauen in die eigene Persönlichkeit und deren Ausdrucksfähigkeit auswirken. Damit wird aus ritualdynamischer Perspektive die szenische Aufführung als Dimension des Performativen bereits in die Probe integriert. Aus künstlerischer Perspektive dient diese Phase zudem der Generierung von Material, von dem ausgewählte Sequenzen in das fertige Bühnenstück eingehen werden. VHN 4/ 2010 337 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ 3.3 Phase III: Erprobung und Einübung Die dritte Phase der Erprobung und Einübung befasst sich mit der Gestaltung der Szene, wie sie im fertigen Bühnenstück vorkommen wird. Sofern sie den Teilnehmern nicht bereits im Detail bekannt ist, wird sie zunächst vorgestellt - erzählt oder mit verteilten Rollen gelesen. Dann wird in einem Prozess des wechselseitigen Austausches zwischen Teilnehmern und Leitung die körperliche Form der endgültigen szenischen Darstellung (Tanz, szenisches Spiel oder Musik/ Gesang) ausgehandelt. Dabei wird nach Möglichkeit szenisches und choreografisches Material aus der vorangegangenen Phase integriert, wobei die Arbeit einer Gruppe selten vollständig übernommen wird, sondern vielmehr kurze, von allen für brauchbar befundene Sequenzen der einzelnen Gruppen verwendet werden. Bei der Eingliederung und Ausgestaltung dieser Sequenzen ist die Leitung maßgeblich mitbeteiligt. Ist einmal eine Form gefunden, mit der alle einverstanden sind, beginnt die Einübung. In vielen, oft anstrengenden Wiederholungen wird die Szene geprobt, ein sogenannter mimetischer Prozess von inszenatorischem Vorbild und Nachahmung vollzieht sich. Mimesis bezieht sich auf „Prozesse der kreativen Nachahmung, die sich auf Vorbilder und an den Handlungen anderer ausrichtet. (…) Soziales und kulturelles Handeln ist mithin insofern mimetisch-performativ, als es (…) das Soziale individuell wie vice versa das Individuelle sozial zum Ausdruck bringt, eine körperliche Durch-, Aus- und Aufführung ist und schließlich die Kontinuität und Differenzialität der sozialen Wirklichkeit hervorbringt und gestaltet.“ (Wulf/ Zirfas 2004, 89) Alle Mühen der zahllosen Wiederholungen einer jeden Szenenprobe nimmt die Gruppe auf sich, weil es eine Aufführung geben wird, bei der der Einzelne wie die Gruppe sich sowohl selbst als auch in den Figuren in ihren Beziehungen und Handlungen dem Publikum zeigen, somit das Individuelle im sozialen Rahmen der Beziehung zum Publikum dargestellt werden kann. Die Gruppe bringt das Soziale der Figuren, aber auch das Miteinander im Ensemble auf ihre Weise individuell zum Ausdruck. In den Aufführungen wird die sog. Angliederungsphase nach van Gennep (1999) vollzogen: die (Re-)Integration der Gruppe in die Gesellschaft mit neuem Status, in diesem Fall dem eines Ensembles von Darstellern, Tänzern, Künstlern, die der Gesellschaft ihre Expressivität darbieten und dafür mit Applaus wertgeschätzt werden. Zugleich wird über das „Ritual“ Aufführung die Gesellschaft in Vertretung durch das Publikum mitgestaltet. 3.4 Phase IV: Abschluss und Ausblick Die letzte Phase Abschluss und Ausblick beendet das Probengeschehen, schließt den „Ritualraum“ Theaterprobe und bringt die Teilnehmer wieder in den Alltag zurück. Häufig versammelt sich die Gruppe im Kreis, um eine kurze Rekapitulation der Probe zu geben, wobei alle Teilnehmer Kritik, Anregungen und Ideen oder Eindrücke einbringen können. Meist werden bei dieser Gelegenheit auch die nächsten Probentermine besprochen. Die Betrachtung und Bewertung des vergangenen Probengeschehens sorgt für eine schrittweise Distanzierung von der affektiven Beteiligung an der künstlerischen Arbeit mit ihrem expressiven Charakter und hilft, wieder in die alltägliche Rollenidentität zu finden. Der Ausblick auf den weiteren Arbeitsprozess schafft hierbei Kontinuität, die wichtig ist, um die Gruppe für ein längeres Projekt zusammenzuhalten. In der Terminologie der Übergangsriten nach van Gennep (1999) würde diese letzte Phase neben den Aufführungen ebenfalls der Angliederungsphase entsprechen (s. van Gennep 1999, 21). Die hier im Sinne des Übergangsritus zu leistende Aufgabe wäre die Annahme einer neuen Identität, die durch die Prozesse des Schwellenzustands in der Probe durch Aufhebung bisheriger Rollenzuschreibungen und Identitätsmerkmale ermöglicht wird. Hier ist zu verzeichnen, dass diese Phase der Angliederung VHN 4/ 2010 338 Johannes Heim oder (Re-)Integration im Probenprozess nur marginal gelingt: Entgegen den pädagogischen Hoffnungen vieler künstlerischer Angebote an Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen scheinen sich Entwicklungsprozesse der Persönlichkeit in großen Zeiträumen zu vollziehen, wobei den Aufführungen eine gewichtige Bedeutung zukommt. Um genauere Aussagen machen zu können, wären in Zukunft weitergehende Untersuchungen über die Auswirkungen der künstlerisch-pädagogischen Arbeit im choreografischen Theater notwendig. Vielversprechend scheint hierfür beispielsweise die Theorie der Mentalisierung von Fonagy u. a. (2004) zu sein, da sie eine entwicklungspsychologische Perspektive einnimmt und sich eingehend mit der Entwicklung der Affektregulierung (Fonagy u. a. 2004, 12) befasst. Unter Mentalisierung versteht man in dieser Theorie die Fähigkeit, das eigene oder das Verhalten anderer durch die Zuschreibung von mentalen Zuständen zu interpretieren. Mentalisierung und Affektregulierung werden für die Entwicklung des Selbstgefühls als grundlegend angesehen. In einfachen Worten ließe sich auch sagen, dass Affektregulierung und ihre Beziehung zur Mentalisierung u. a. die Entwicklung des Einfühlungsvermögens (in die Befindlichkeiten anderer, aber auch in sich selbst) zu beschreiben versucht. Dies wäre ein für das choreografische Theater bedeutsamer Entwicklungsprozess, da die künstlerische Arbeit es u. a. erfordert, sich körperlich und emotional in Figur, Situation und Ausdruck einzufühlen und sowohl empathisch als auch körperlich sensibel mit den Mitgliedern des Ensembles zusammenzuarbeiten. 4 Fazit In diesem Artikel wurde schwerpunktmäßig auf die strukturellen Wirkungsmuster der Ritualdynamik zurückgegriffen, um bestimmte Effekte des choreographischen Theaters zu erklären oder sie gar gezielt erzeugen zu können. Eine weitere, mehr philosophisch ausgerichtete Grundlage bietet die von Wilhelm Schmid (z. B. 1998) in populärer Weise ausgearbeitete Philosophie der Lebenskunst (s. Heim 2003). Loskyll (2010) bezieht sich in der Grundlegung ihrer künstlerischen Bildungsarbeit ebenfalls auf Schmids Lebenskunstansatz. In Abgrenzung zu den Vertretern des ritualdynamischen Ansatzes in der Nachfolge Turners wird im choreografischen Theater den Inhalten des Übergangsritus durchaus Bedeutung beigemessen. Dem symbolischen Gehalt der im choreografischen Theater bearbeiteten Themen kommt grundlegende Bedeutung zu, da diese sich auf menschliche Grunderfahrungen, existenzielle bzw. archetypische Motive beziehen sollen wie z. B. Liebe, Hass, Gewalt, Mitgefühl, Angenommen- oder Ausgegrenzt-Sein, um nur einige zu nennen. Sie werden im künstlerischen Schaffen leiblich erfahren und zum Ausdruck gebracht. Insofern ist der semiotische Gehalt der im choreografischen Theater verwendeten Zeichen und Symbole nicht von der Struktur ablösbar und für den gesamten Prozess konstitutiv. Die Ausarbeitung von Theorien, die die künstlerischen wie pädagogischen Prozesse und Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und -bildung der Teilnehmer des choreografischen Theaters adäquat zu beschreiben vermögen, wird Aufgabe zukünftiger Arbeiten sein. Einstweilen bleibt die Freude an der lebendigen Praxis. Anmerkung 1 Die in dieser Arbeit verwendete Schreibweise: Stanislavskij entspricht den aktuellen Schreibungen slawischer Namen. Der Einfachheit halber wurde im Literaturverzeichnis die veraltete Schreibweise verwendet. Literatur Brook, Peter (2001): Der leere Raum. 4. Aufl. Berlin: Alexanderverlag Fonagy, Peter; Gergely, György; Jurist, Elliot L.; Target, Mary (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta VHN 4/ 2010 339 „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ van Gennep, Arnold (1999): Übergangsriten. Frankfurt/ Main; New York: Campus Habig, Hubert (2009): Schauspielen. Gestalten des Selbst zwischen Sollen und Sein. Heidelberg: Winter Harth, Dietrich; Schenk, Gerrit Jasper (Hrsg.) (2004): Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns. Heidelberg: Synchron Heim, Johannes (2003): Grundlagen und Praxis des Bewegungstheaters mit sog. schwierigen Kindern und Jugendlichen. Wissenschaftliche Hausarbeit für das Lehramt an Sonderschulen. Heidelberg: Pädagogische Hochschule von Laban, Rudolf (1920): Die Welt des Tänzers. Stuttgart: Seifert Lecoq, Jacques (2000): Der poetische Körper. Eine Lehre vom Theaterschaffen. Berlin: Alexanderverlag Lehmann, Hans-Ties (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt/ Main: Verlag der Autoren Linklater, Kristin (1997): Die persönliche Stimme entwickeln. Ein ganzheitliches Übungsprogramm zur Befreiung der Stimme. München: Reinhardt Loskyll, Michaela (2010): Passt mein „Ich“ in eine Kiste? - Biografische Spuren in der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an einer Förderschule. In: VHN 79, 204 - 211 Rülicke-Weiler, Käthe (1966): Die Dramaturgie Brechts. Berlin: Henschel Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/ Main: Suhrkamp Stanislawski, Konstantin (1961): Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Bd. I: Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens. Berlin: Henschel Turner, Victor (2005): Das Ritual. Struktur und Antistruktur. Frankfurt/ Main: Campus Wulf, Christoph; Zirfas, Jörg (2004): Performativität, Ritual und Gemeinschaft. Ein Beitrag aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. In: Harth, Dietrich; Schenk, Gerrit Jasper (Hrsg.): Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns. Heidelberg: Synchron, 73 - 94 Johannes Heim, Sonderschullehrer Im Hofert 6 D-69118 Heidelberg E-Mail: jg.heim@t-online.de