Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte VHN 4/10
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Individuell angepasste Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen aus dem autistischen Spektrum durch ein persönliches Budget
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VHN 4/ 2010 349 Aktuelle Forschungsprojekte Individuell angepasste Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen aus dem autistischen Spektrum durch ein persönliches Budget Forschungsprojekt des BMAS am Berufsbildungswerk Abensberg/ Bayern Matthias Dalferth Hochschule für angewandte Wissenschaften Regensburg Ausgangssituation Im Verlauf von zwei am BBW Abensberg durchgeführten Forschungsprojekten zur beruflichen Förderung und Platzierung von Menschen mit Autismus konnte die Anzahl der aktuell geförderten Rehabilitanden in 12 überbetrieblichen Ausbildungsstätten auf ca. 350 gesteigert werden. Gleichfalls hat eine Nachbefragung (bei n = 88) ergeben, dass die Mehrzahl der Absolventen (52 %) nach Abschluss einer Berufsausbildung erfolgreich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig werden konnte und lediglich 22 % gegenwärtig noch um eine Anstellung bemüht sind. Es ist daher nicht von der Hand zu weisen, dass viele Menschen aus dem autistischen Spektrum, vornehmlich mit Asperger-Syndrom, high functioning autism oder Teilautismus, nicht nur den Anforderungen einer Regelschule entsprechen, sondern auch einen von den IHK anerkannten Ausbildungsberuf erlernen können (vgl. Baumgartner u. a. 2009). Allerdings förderte die Nachbefragung auch zutage, dass von den Absolventen etliche auch als Erwachsene auf soziale Unterstützung angewiesen bleiben: Eine individuelle Lebensperspektive gründet daher nicht nur auf einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss, sondern auf dem Arrangement zugeordneter Unterstützungsmöglichkeiten, die sich vornehmlich auf die soziale Inklusion dieses Personenkreises richten und sämtliche Lebensbereiche (Arbeit, Wohnen, soziale Beziehungen, Freizeit, Lebenspraxis usw.) einschließen. Seit dem 1. 1. 2008 besteht in Deutschland die Möglichkeit, anstelle der pauschalen Hilfegewährung durch institutionelle oder ambulante Maßnahmen auch ein persönliches Budget (PB) zur Deckung der individuellen Hilfebedarfe zu beantragen. Der Vorteil dieser Art der Hilfegewährung besteht darin, dass für Personen, die diese Form anstelle der bisherigen Pauschalunterstützung wählen, die Abhängigkeit von einem Leistungserbringer erheblich verringert wird. So werden nach Beantragung ganz unterschiedlicher Teilhabeleistungen - auch bei verschiedenen Rehabilitationsträgern - sämtliche für eine zusammen mit den Kostenträgern vereinbarte Zielbestimmung gewährte finanzielle Mittel in Form einer Komplexleistung auf das Konto des Leistungsnehmers/ Budgetnutzers transferiert. Er - oder auch sein gesetzlicher Betreuer in seinem Auftrag - ist angehalten, sich die erwünschten Hilfen bei den von ihm bevorzugten sozialen Anbietern selbst einzukaufen. Bisher haben bundesweit lediglich ca. 10.000 Menschen mit Behinderungen diese Form der Hilfeleistung gewählt und Budgetvereinbarungen abgeschlossen (vgl. BMAS 2009, 13). Da gerade für Erwachsene aus dem autistischen Formenkreis mit Berufsausbildung diese Form der Leistungserbringung besonders attraktiv sein könnte, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein Forschungsprojekt bewilligt mit dem Titel: „Einsatzmöglichkeiten des Persönlichen Budgets bei der sozialen und beruflichen Inklusion von Menschen mit autistischen Syndromen anhand konkreter Beispiele aus der beruflichen Rehabilitation“. Das Vorhaben wird am BBW St. Franziskus/ Abensberg, Bayern, durchgeführt. Zielrichtung und methodisches Vorgehen Im Rahmen der Laufzeit des Projekts (3/ 2009 - 12/ 2010) gilt es zu erkunden, ob durch die Bündelung von erforderlichen Hilfen in einem persönlichen Budget behinderungsbedingte und gesellschaftliche Barrieren bei der Inklusion von Menschen mit autistischen Verhaltensweisen abgebaut werden können. In einem ersten Schritt werden im Rahmen einer bundesweiten Befragung Nutzer und Interessenten mit Autismus nach Hemmschwellen bei der Beantragung und Inanspruchnahme des PBs befragt. Ebenso wird ihr aktueller Unterstützungs- und Beratungsbedarf erkundet. Um die Leistungsbeantragung zu erleichtern und die Transparenz von Hilfeleistungen zu gewährleisten, wird ein Handlungsleitfaden zur Beantragung des PB in autismusgerechter Sprache zur Verfügung gestellt. Gleichfalls ist beabsichtigt, eine Übersicht der relevanten budgetfähigen Leistungen in den verschiedensten Lebensbereichen (Arbeit, Lebenspraxis, soziale Kontakte, Freizeit, Wohnen usw.) zu erstellen, um Budgetinteressenten und Leistungsträgern eine angemessene Orientierung zu ermöglichen. VHN 4/ 2010 350 Aktuelle Forschungsprojekte Interessenten werden seit Projektbeginn (3/ 2009) bei der Beantragung des PBs gezielt unterstützt. Wie die bisherigen Recherchen erkennen lassen, fehlt es den potenziellen Interessenten an spezifischen Informationen über die Möglichkeiten des PB. Daher gilt es, im Projektverlauf einschlägige Informationen im Rahmen von Fachtagungen und Fortbildungsveranstaltungen auch an Fachleute zu vermitteln. Die Ergebnisse des Projekts werden bis 2011 publiziert. Nicht nur in Deutschland, auch in der Schweiz und in Österreich besteht ein gesteigertes Interesse der Angehörigenverbände, die berufliche und soziale Inklusion erwachsener Menschen mit Autismus nachhaltig zu forcieren. Trotz unterschiedlicher sozialstaatlicher Konzeptionen gilt es, Möglichkeitsräume in beruflicher Hinsicht und im Blick auf eine lebenswerte Zukunft für diesen Personenkreis zu erschließen. Die Verfügung über ein persönliches Budget könnte diesen Weg ebnen. Damit möglichst vielfältige Erkenntnisse gewonnen werden können, bieten wir Fachleuten, Interessenten aus dem autistischen Spektrum oder auch Angehörigen, die an einem PB interessiert sind, sowie Personen, die bereits ein PB beantragt haben oder erhalten, an, sich mit ihren Wünschen oder Erfahrungen an die Projektverantwortlichen zu wenden. Projektleitung: Heike Vogel, Dipl.-Sozialpäd. (FH), heike.vogel@bbw-abensberg.de Projektkoordination: Kathrin Hainzlmeier, Dipl.- Sozialpäd. (FH), kathrin.hainzlmeier@bbwabensberg.de Wissenschaftliche Begleitung: Prof. Dr. Matthias Dalferth, Hochschule für angewandte Wissenschaften Regensburg, Fakultät für angew. Sozialwissenschaften, matthias.dalferth@hs-regensburg.de Weitere Informationen: www.bbw-abensberg.de Literatur Baumgartner, F.; Dalferth, M.; Vogel, H. (2009): Berufliche Teilhabe von Menschen aus dem autistischen Spektrum (ASD), Heidelberg: Winter Verlag Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2009): Behindertenbericht 2009. Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode Evaluation der direkten Instruktion bei Analphabeten durch einen multiplen Grundratenversuchsplan Michael Grosche, Anna-Maria Hintz, Matthias Grünke Universität zu Köln Die Studie wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Rahmen des Projektes „Alphabetisierung. Beratung. Chancen.“ (www.abc-projekt.de) finanziell gefördert. In Deutschland leben schätzungsweise vier Millionen erwachsene funktionale Analphabeten, die insofern in der Schule gescheitert sind, als dass sie das Lesen und Schreiben niemals sicher gelernt haben (Döbert & Hubertus 2000). Sie verfügen zwar über einige Schriftspracherfahrungen, können die Funktion von Schrift allerdings nicht ausreichend für sich und ihre individuelle Entwicklung nutzen (Linde 2007). Im Rahmen von Grundbildungskursen an Volkshochschulen wird versucht, ihnen zu helfen. Der Unterricht findet jedoch durch die emotional negativ besetzten Schul- und Bindungserfahrungen und die mit dem Fehlen von Lesekompetenz assoziierten psychischen Probleme vor dem Hintergrund besonderer Herausforderungen statt (Wagner 2008). Dieser Situation kann begegnet werden, indem besonders effektive Maßnahmen zur Förderung eingesetzt werden, die relativ schnell Erfolge zeigen und deshalb sowohl motivational als auch hinsichtlich akademischer Leistungen positiv zu bewerten sind. Eine solche Methode stellt nachweislich die direkte Instruktion dar (Grünke 2006). Hierbei werden Lesekompetenzen durch vielfältige, stark lehrkraftgesteuerte Übungen intensiv trainiert, Fehler unmittelbar korrigiert und die Lernfortschritte der Lerner ständig überwacht. Trotz der erwiesenen Effektivität wird die direkte Instruktion von unterschiedlichen Autoren kritisiert, da sie kein eigenverantwortliches Lernen zulasse und durch drill and practice nicht kindgemäß vorgehe (z. B. Brügelmann 2009; vgl. aber Wember 2008). Die Kritik verschärft sich noch einmal, wenn eine solche Methode in Grundbildungskursen mit erwachsenen Analphabeten angewendet wird, denn gerade hier sollen sich die emotionalen und motivationalen Schwierigkeiten durch Erwachsenengemäßheit und starke Eigenverantwortlichkeit beim Lernen reduzieren (Linde 2008). VHN 4/ 2010 351 Aktuelle Forschungsprojekte Um diese normativ-emotionale Diskussion durch ein empirisches Argument zu flankieren, soll in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Projekt die Methode der direkten Instruktion zur Förderung von Lesekompetenzen bei erwachsenen Analphabeten evaluiert werden. Während sich in einer ersten Vorstudie (Hintz & Grosche im Druck) erste positive Effekte zeigten, soll in der geplanten Studie vor allem die interne Validität erhöht werden, um kausale Aussagen über die Wirksamkeit der direkten Instruktion machen zu können. In einer weiteren Pilotstudie (Grosche & Hintz in Vorb.) zeigte sich, dass ein Proband über den Verlauf der Trainingszeit hinweg zwar zunehmend langsamer, aber auch genauer las, was auf eine Verschiebung von Lesestrategien hindeuten könnte. Vermutlich versuchen einige Analphabeten, ihre großen Schwierigkeiten beim Erlesen von Wörtern (phonologisches Dekodieren) durch den Einsatz von Sichtwort- und Kontextlesestrategien zu kompensieren. Durch die geplante Intervention könnten sie von ihrer bevorzugten Lesestrategie abweichen und allmählich korrekte, aber zunächst langsame Dekodierer werden. In der geplanten multiplen Einzelfallstudie soll deshalb zusätzlich zu den Kausalaussagen die Annahme einer Lesestrategieverschiebung überprüft werden. Methode An der geplanten multiplen Einzelfallstudie nehmen drei funktionale Analphabeten teil, die in einem täglich stattfindenden Intensivkurs zur Grundbildung an der Volkshochschule Oldenburg das Lesen und Schreiben lernen. Zweimal täglich erfolgt für jeweils etwa 15 Minuten eine direkt instruktive Förderung der Lesegenauigkeit. Dabei werden die Probanden in sehr kleinen Schritten dazu angeleitet, Buchstaben und Silben zusammenzuschleifen und Wörter möglichst akkurat zu lesen. Der Lehrer korrigiert alle Fehler unmittelbar und lässt die Lernenden so lange trainieren, bis sie ein hohes Maß an Akkuratheit und Automatisierung im Lerngegenstand erreicht haben. Erst danach wird zum nächsten Lernschritt übergegangen. Das verwendete Forschungsdesign ist ein zwölfwöchiger multipler Grundratenversuchsplan (Julius 2004). Nach einer dreiwöchigen Erhebung der Lernausgangslage (Grundrate) starten der erste und der zweite Lerner unmittelbar mit einer Förderung der Lesegenauigkeit nach Prinzipien der direkten Instruktion. Der verbleibende Teilnehmer erhält währenddessen den Grundbildungsunterricht. Nach drei weiteren Wochen startet dann der dritte Lerner mit der direkt instruktiven Förderung. Die Logik des multiplen Grundratenversuchsplans sieht vor, dass auf kausale Zusammenhänge zwischen Intervention und Verhaltensänderung dann geschlossen werden kann, wenn sich Änderungen im Verhalten in allen Interventionsphasen, nicht aber in den Grundratenphasen zeigen. Da im Rahmen des besagten Kurses neben der direkten Instruktion gleichzeitig eine deutlich umfassendere und längere Lese- und Schreibförderung durchgeführt wird, ist davon auszugehen, dass die Leistungssteigerung in der Interventionsphase größer als in der Grundratenphase ist. Als Kontrollvariablen werden das Alter, das Geschlecht, die Kursbesuchshäufigkeit, die Motivation sowie die Länge der Kursteilnahme erfasst. Die Fähigkeit zum Wortlesen wird vor und nach der Förderung durch die Würzburger Leise Leseprobe (Küspert & Schneider 1998) gemessen. Um die Hypothese der Lesestrategieverlagerung zu überprüfen, werden zu Beginn, in der Mitte und am Ende der Förderung selbstentwickelte Reaktionszeit-Tests für Lesestrategien verwendet: Im ersten Test müssen kurze Sätze gelesen werden, deren letztes Wort kongruent oder inkongruent zum Satzinhalt ist. Die Wörter sind zum einen nach ihrer Auftretenshäufigkeit in deutschen Texten, zum andern aufgrund ihrer orthografischen Ähnlichkeit gematcht. Es wird davon ausgegangen, dass Kontextwortleser die kongruenten Wörter schneller lesen werden als die inkongruenten Wörter. Folglich erwarten wir durch die Intervention eine Reduzierung der Differenz in den Reaktionszeiten zwischen dem Lesen von kongruenten vs. inkongruenten Wörtern. Ein zweiter Test überprüft den Sichtwortschatz durch Wörter bzw. Pseudowörter aus sieben Buchstaben. Hier wird davon ausgegangen, dass Sichtwortleser Wörter deutlich schneller lesen als Pseudowörter, da Letztere nur durch das phonologische Dekodieren gelesen werden können. Durch die Intervention sollte sich bei Sichtwortlesern die Differenz zwischen Wörtern und Pseudowörtern reduzieren. Vor und während der Förderung findet jeweils zweimal wöchentlich eine curriculum-basierte Messung (CBM) statt. Die CBM überwacht den Lern- VHN 4/ 2010 352 Aktuelle Forschungsprojekte fortschritt der Leser. Da sich in den Vorstudien zeigte, dass sich CBMs (obwohl postuliert) nicht unmittelbar und einfach entwickeln lassen, wird die Lesegenauigkeit durch eine relativ aufwendig gestaltete CBM erfasst, in der nur ganz bestimmte, anhand verschiedenster Kriterien ausgewählte Wörter gelesen werden sollen (z. B. Silbenanzahl, Lauttreue, Funktionswörter etc.). Durch die CBM wird sowohl die Grundrate als auch die Lesesteigerung während der Interventionsphase überwacht. Es wird ein Anstieg über die Zeit erwartet, deren Steigung in der Interventionsphase größer ist als in der Grundratenphase. Rückfragen, Anmerkungen und Literaturnachfragen nehmen die Autoren unter michael.grosche@unikoeln.de entgegen. Effektivität des Sprachförderkonzepts „Language Route“ für Vorschulkinder mit Sprachförderbedarf - eine Interventionsstudie Hans-Joachim Motsch, Detta Sophie Schütz Universität zu Köln Theoretischer Hintergrund Nicht erst seit den Pisa-Studien wurde erkannt, dass sprachliche Fähigkeiten für eine erfolgreiche Sozialisation sowie für eine aussichtsreiche Schullaufbahn entscheidende Kompetenzen darstellen. Seit 2007 wird in Nordrhein-Westfalen gemäß § 36 Abs. 2 des Schulgesetzes bei allen vierjährigen Kindern eine Sprachstandsfeststellung durchgeführt. Der „Delfin 4“-Test (Fried 2009) soll Auskunft darüber geben, welche Kinder Sprachförderbedarf (SFB) haben. Den Trägern der Kindertagesstätten werden danach finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um die sprachlichen Kompetenzen bei Kindern mit SFB zu erweitern, wobei sie derzeit in der Wahl der Methoden frei sind. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Förderprogramme entwickelt, die von den Erzieherinnen eingesetzt werden können. Die Unübersichtlichkeit des Angebots und fehlende Auswahlkriterien führen zu Verunsicherung. Zudem wird die Wirksamkeit dieser Sprachfördermaßnahmen erst seit wenigen Jahren überprüft, und die ersten Ergebnisse dieser Effektivitätsüberprüfungen sind ernüchternd. Gasteiger-Klicpera stellte nach der wissenschaftlichen Begleitung der Sprachförderung in Baden- Württemberg fest, dass sich „wenig signifikante Unterschiede zwischen geförderten und nicht geförderten Kindern über die Zeit“ (Gasteiger-Klicpera 2007, 180) zeigen. Das Forschungsteam von Roos und Schöler untersuchte im Auftrag der Landesstiftung Baden-Württemberg die Effektivität der Sprachförderkonzepte von Penner (2003), Tracy (2003) und Kaltenbacher und Klages (2005). Das Team kam zum Schluss: „(…) es gelang den Kindern mit Förderbedarf nicht, ein Sprachniveau zu erreichen, das sich demjenigen von Kindern ohne Förderbedarf annähert. Darüber hinaus zeigte sich, dass eine gezielte sprachliche Förderung nach bestimmten Programmen und Konzeptionen (…) zu keinen besseren Sprachkompetenzen führt, als eine unspezifische Förderung im Rahmen des Kindergarten- Alltags“ (Hofmann u. a. 2008, 297). Die bisherigen Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, bessere Methoden zur effektiveren Sprachförderung zu finden. Überzufällig viele Kinder, denen nach Delfin 4 SFB attestiert wird, sind Kinder mit Migrationshintergrund. Alle bisher evaluierten Programme sind „pull-out-Programme“, bei denen die Kinder jeweils mehrmals in der Woche aus den Gruppen genommen und nach den Vorgaben der unterschiedlichen Programme kurze Zeit gefördert werden. U. U. erweist sich eine nicht isolierende, den gesamten Kindergartentag als Prinzip durchziehende Sprachförderung als erfolgreicher. Diesen Anspruch, Förderung der Sprachentwicklung durch Interaktion, verfolgt das Sprachförderkonzept „Language Route (LR)“. Es wurde vom niederländischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft in Auftrag gegeben und von einer Arbeitsgruppe der Radboud Universität Nimwegen entwickelt. Die deutsche Adaption der LR wurde 2007 von ProLog veröffentlicht. LR versucht, eine intensive themenbezogene semantische Elaboration des definierten Zielwortschatzes zu erreichen und diese Zielwörter in die verschiedenen Aktivitäten des Kindergartenalltags zu integrieren (z. B. beim interaktiven Bilderbuch-Lesen, beim Basteln oder beim Singen). Es werden den Erzieherinnen verschiedene Anregungen angeboten, um Situationen zu schaffen, in denen die Kinder bestimmte Wörter VHN 4/ 2010 353 Aktuelle Forschungsprojekte in hoher Frequenz hören und benutzen können. Im Vorfeld erwerben die Fachkräfte die spezifischen Kompetenzen zur Umsetzung des Konzeptes „Language Route“ in einer Fortbildung durch eine Sprachtherapeutin. Im Anschluss an die Fortbildung finden mehrere Supervisionstermine in den Einrichtungen statt. Damit die optimale Umsetzung des Programms in der Kindertagesstätte gelingen kann, wird angestrebt, dass alle Mitarbeiterinnen der Einrichtung an der Weiterbildung teilnehmen. Zurzeit wird die „Language Route“ in zehn Kindertagesstätten der Stadt Köln erprobt. Die subjektive Bewertung des Programms durch die teilnehmenden Fachkräfte fällt bisher positiv aus. Eine wissenschaftlich-systematische Überprüfung der tatsächlichen Effektivität des Programms wurde jedoch bislang weder in den Niederlanden noch in Deutschland durchgeführt. Ziel der Studie Die Studie versucht die Frage zu beantworten, ob sich Kinder, welche mit LR gefördert wurden (Experimentalgruppe), nach einem Jahr in Sprachtests signifikant von den Kindern unterscheiden, die eine andere Sprachförderung erhalten haben (Kontrollgruppe). Zusätzlich wird überprüft, ob sich monolingual deutschsprachige Kinder bezüglich der Effekte von mehrsprachigen Kindern unterscheiden 1 . Methode Im Zeitraum August 2010 - Juni 2011 wird eine kontrollierte Gruppenstudie im Prä-Post-Test-Design in Kindertagesstätten der Stadt Köln mit einem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund durchgeführt. Die beteiligten Kitas nehmen mit allen Kindern an der Studie teil. Die Erzieherinnen der Experimentalgruppe erhalten zu Beginn der Intervention eine Fortbildung in LR durch Sprachtherapeutinnen. Die Fortbildungsmaßnahme umfasst fünf halbtägige Einheiten mit jeweils zwei Wochen Anwendungsintervall sowie sechs einstündige Supervisionstermine für jede Erzieherin durch die Leiterinnen der Fortbildung. In der Kontrollgruppe erhalten die Kinder mit SFB eine Förderung mit unterschiedlichen Programmen und Förderansätzen. Vor Beginn der Intervention wurde im September 2010 der aktive Wortschatz von 400 Kindern mit Hilfe der standardisierten „Patholinguistischen Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen“ (Kauschke/ Siegmüller 2009) getestet. Aus den lexikalisch schwächeren 200 Kindern mit einem Prozentrang < 50 werden die beiden Untersuchungsgruppen zusammengestellt. Diese Kinder werden im Anschluss mit weiteren Verfahren untersucht: Der rezeptive Wortschatz sowie die Fähigkeit zur semantischen Organisation werden ebenso durch Einsatz der Patholinguistischen Diagnostik getestet. Als „grammatischer Marker“ wird die Fähigkeit zur Akkusativmarkierung mit „ESGRAF-R“ (Motsch 2009) überprüft. Um einen möglichen Einfluss kognitiver Fähigkeiten, insbesondere der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses, varianzanalytisch berechnen zu können, werden die Kinder mit dem „Snijders-Oomen. Nonverbaler Intelligenztest von 2,5 bis 7 Jahre“ (Tellegen u. a. 2007) und dem „Mottier-Test“ (in: Linder/ Grissemann 2000) getestet. Der Sprachentwicklungsstand der 200 Probanden wird nach der Intervention im Juli 2011 erneut mit den Sprachtests überprüft, um Effekte der Sprachförderung feststellen zu können. Erwartungen Aufgrund der Unterschiede des Konzeptes „Language Route“ zu anderen Konzepten, beispielsweise durch Integration der Sprachförderung in den Kindergartenalltag und Schulung und Supervision der Fachkräfte durch Sprachtherapeutinnen, wird erwartet, dass die Sprachförderung in der Experimentalgruppe signifikant bessere Effekte erzielen wird als die Sprachförderung in der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind Ende 2011 zu erwarten. Anmerkung 1 Das Projekt ist ein Drittmittelprojekt und wird gefördert durch das ZMI (Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration) der Bezirksregierung Köln, der Stadt Köln und der Universität zu Köln, durch das Amt für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Köln und durch ProLog WISSEN OHG. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei j.motsch@uni-koeln.de VHN 4/ 2010 354 Aktuelle Forschungsprojekte Didaktischer Einsatz technischer Hörhilfen bei der Unterrichtung von Schülern mit Hörschädigung Maximilian Bringmann Ludwig-Maximilians-Universität München Die vorliegende Studie ist eingebettet in das Forschungsprogramm „Integration Hörgeschädigter an allgemeinen Einrichtungen“ des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München (Projektleitung: Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt). Neben dem vorliegenden Forschungsvorhaben wurden und werden unterschiedlichste Aspekte schulischer und vorschulischer Integration untersucht, die z. T. bereits in der VHN vorgestellt wurden. Forschungshintergrund Im Gegensatz zu Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, sind an allgemeinen Schulen die akustischen Voraussetzungen oftmals sehr ungünstig. Um ihnen dennoch den Besuch der allgemeinen Schule zu ermöglichen, sind hörgeschädigte Kinder und Jugendliche insbesondere in der Situation der Einzelintegration an allgemeinen Schulen auf die Nutzung technischer Hörhilfen, insbesondere der FM-Anlage, angewiesen. Unter technischen Hörhilfen sollen im Folgenden nur diejenigen Geräte verstanden werden, die üblicherweise an allgemeinen Schulen Anwendung finden, also individuelle Hörhilfen wie Hörgeräte oder Cochlea-Implantate (CIs) und FM-Anlagen. In Klassenräumen mit vielen Schülern kommen auch moderne technische Hörhilfen schnell an ihre Grenzen, da der Unterrichtsalltag von ständig wechselnden Kommunikationssituationen mit immer wieder wechselnden Sprechern geprägt ist. Der Schüler mit Hörschädigung muss aber sowohl die Beiträge der Mitschüler als auch jene des Lehrers im Unterricht wahrnehmen können. Aus diesem Grund gestaltet sich die Nutzung technischer Hörhilfen in Abhängigkeit zu den Unterrichtssituationen unterschiedlich. Ebenso müssen die didaktischen Maßnahmen für verschiedene Unterrichtssituationen immer wieder neu angepasst werden. Forschungsziel und Forschungsfragen Forschungsziel ist die Erfassung des Ist-Zustandes, wie technische Hörhilfen unter didaktisch-methodischen Gesichtspunkten in Abhängigkeit von verschiedenen Unterrichtssituationen genutzt werden. Es liegen bereits zahlreiche Untersuchungen vor, die den hohen Nutzen des Einsatzes einer FM-Anlage zur Verbesserung des Sprachverstehens im Unterricht belegen (Anderson/ Goldstein 2003; Schmidtke/ Flynn 2004). Über die hinreichend untersuchten Vorteile der FM-Anlagen-Nutzung für das Sprachverstehen hinaus interessiert in diesem Forschungsvorhaben besonders der Zusammenhang zwischen Einsatz und Unterrichtssituation. Um die FM-Anlage situationsgerecht einsetzen zu können bzw. in den verschiedenen Phasen des Unterrichts die richtigen Maßnahmen für ein optimales Arbeiten der technischen Hörhilfen zu ergreifen, muss der Lehrer der allgemeinen Schule gut über Möglichkeiten und Grenzen der Geräte in verschiedenen Phasen des Unterrichts informiert sein. Individuelle Hörhilfen haben in ihrer Wirksamkeit Grenzen, besonders in Situationen mit vielen Sprechern oder einem hohen Störgeräuschpegel. Im Verlauf des Forschungsvorhabens soll als Erstes der Frage nachgegangen werden, welche Informationen der Lehrer der allgemeinen Schule erhalten hat und von wem. Gerade im Hinblick auf die Grenzen technischer Hörhilfen in wechselnden Unterrichtssituationen ist der Wissensstand bezüglich technischer Hörhilfen bei den Lehrern der allgemeinen Schule eine zentrale Variable, die sich besonders auf den Einsatz, aber auch wesentlich auf Einstellung und Haltung der Lehrpersonen gegenüber technischen Hörhilfen auswirkt. Die zweite Forschungsfrage beschäftigt sich mit dem tatsächlichen Einsatz der FM-Anlage sowie der Nutzung individueller Hörhilfen in den verschiedenen Phasen des Unterrichts, mit den Unterstützungsmaßnahmen des Lehrers und den organisatorischen Rahmenbedingungen, die einen Einfluss auf die Nutzung technischer Hörhilfen haben. Aus Erfahrungsberichten, die auch eine Ablehnung des Einsatzes bestätigen, leitet sich schließlich als dritte Forschungsfrage die Notwendigkeit ab, die innere Einstellung und Haltung der Lehrpersonen gegenüber technischen Hörhilfen zu untersuchen. Eine eventuell fehlende Einsicht in die Notwendigkeit sollte als Einflussgröße nämlich keinesfalls vernachlässigt werden. VHN 4/ 2010 355 Aktuelle Forschungsprojekte Die Untersuchung ist auf ganz Bayern und alle Schularten ausgelegt. Im Rahmen der vierten Forschungsfrage bietet sich so die Möglichkeit, auch schulartspezifische Unterschiede besonders zwischen Klassen- und Fachlehrern zu untersuchen. Gerade bei den Fachlehrern kann angenommen werden, dass sie weniger und in vielen Fällen gar keinen Kontakt zum Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) und damit auch einen schlechteren Zugang zu Informationen haben. Dies wirkt sich eventuell negativ auf die Nutzung technischer Hörhilfen aus. Forschungsmethodik und Datenerhebung Zur Datenerhebung ist ein Fragebogen geplant. Nach Angaben des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus in Bayern vom 18. Juni 2009 besuchten im Schuljahr 2008/ 09 in Bayern 231 Schüler mit Förderschwerpunkt Hören die allgemeine Schule, davon 135 Schüler Grund- und Hauptschulen und 96 Schüler Realschulen und Gymnasien. Da an den letztgenannten beiden Schulen nach Fachlehrerprinzip unterrichtet wird, sollen bei diesen Schülern jeweils der Klassenlehrer und mindestens ein Fachlehrer befragt werden. So ergibt sich eine ungefähre Anzahl von mindestens 327 zu Befragenden. Allerdings ist davon auszugehen, dass nicht alle Schüler erfasst sind und die Anzahl der zu Befragenden in der Realität wesentlich höher sein dürfte. Um eine gute Vergleichbarkeit der Datensätze zwischen Klassen- und Fachlehrern zu erreichen, wird bewusst kein eigener Fragebogen für Fachlehrer entwickelt, sondern ein Fragebogen für beide Lehrergruppen. Dieser beinhaltet folgende vier den Forschungsfragen entsprechenden Teile: 1. Information durch den MSD und aus anderen Quellen zu technischen Hörhilfen 2. Einsatz der FM-Anlage und Nutzung der individuellen Hörhilfen in verschiedenen Phasen des Unterrichts 3. Einstellung und Haltung gegenüber technischen Hörhilfen 4. schulartspezifische Unterschiede. Im Anschluss an die Entwicklung des Fragebogens soll dieser zunächst in einer Expertengruppe evaluiert und anschließend im Hinblick auf folgende Fragen überarbeitet werden: 1. Werden in der Befragung die in der Realität relevanten Zusammenhänge aufgedeckt? 2. Welche Erwartungen an die Befragung bestehen bei der Zielgruppe, und welche Inhalte sind nötig, um die Zielgruppe zur Mitarbeit zu motivieren? 3. Erweist sich das Befragungsinstrument als erschöpfend, um die interessierenden Strukturzusammenhänge aufzuzeigen? Ausblick Das weitere Vorgehen sieht im ersten Vierteljahr 2010 die Fertigstellung und eine anschließende Evaluation des Fragebogens durch die Expertengruppe vor, im Anschluss daran soll die Versendung stattfinden. Die Auswertung der Daten wird nach den Methoden der deskriptiven Statistik erfolgen (hauptsächlich Häufigkeitsanalysen und Korrelationsberechnungen). Der Einsatz technischer Hörhilfen bei der Beschulung von Schülern mit Hörschädigung an allgemeinen Schulen ist als eine der zentralen Grundvoraussetzungen für eine inklusive Beschulung zu sehen. Durch die gewonnenen Daten soll ein vertiefter Einblick möglich werden, wie technische Hörhilfen an allgemeinen Schulen in Abhängigkeit von verschiedenen Unterrichtssituationen eingesetzt werden und welche Einflussfaktoren dabei eine Rolle spielen. Weitere Informationen sowie Literaturangaben unter max.bringmann@edu.lmu.de
