Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das provokative Essay: „Der Vorhang zu und alle Fragen offen“ - Schultheater in weltanschaulichen Nöten
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Wolf Rüdiger Wilms
Schultheater steht unter einem permanenten selbst- und fremdauferlegten Zwang, stets eine pädagogisch gehaltvolle Message präsentieren zu müssen. Die mit den Message-Erwartungen verbundenen humanistischen Grundwerte werden allerdings zunehmend in Frage gestellt. Dem Humanismus wird ein posthumanistischer Ansatz entgegengestellt, dessen Begrenztheit und Unausgereiftheit am Beispiel der Verkörperung als Basis der Figurenarbeit im Theater aufgezeigt wird. Am Ende ist die Frage nach der Message offener als zuvor.
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VHN, 80. Jg., S. 2 - 6 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art01d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 2 „Der Vorhang zu und alle Fragen offen“ - Schultheater in weltanschaulichen Nöten Wolf Rüdiger Wilms Neckargemünd n Zusammenfassung: Schultheater steht unter einem permanenten selbst- und fremdauferlegten Zwang, stets eine pädagogisch gehaltvolle Message präsentieren zu müssen. Die mit den Message- Erwartungen verbundenen humanistischen Grundwerte werden allerdings zunehmend in Frage gestellt. Dem Humanismus wird ein posthumanistischer Ansatz entgegengestellt, dessen Begrenztheit und Unausgereiftheit am Beispiel der Verkörperung als Basis der Figurenarbeit im Theater aufgezeigt wird. Am Ende ist die Frage nach der Message offener als zuvor. Schlüsselbegriffe: Schultheater, Humanismus, Posthumanismus, Performancekunst, Verkörperung “The Curtain Drops and all the Questions Remain Open” - The Ideological Hardship of School-Theatre n Summary: School theatre acts under the permanent internal and external constraint of having to present a pedagogically meaningful and expressive message. The author queries the humanistic basic values related to such message expectations. Humanism is compared to a post-humanitarian approach, whose limitations and imperfection are demonstrated by means of impersonation as the foundation of creating different characters in acting. But finally the message question remains as unanswered as ever before. Keywords: School theatre, humanism, post-humanism, performance art, impersonation Das provokative Essay Mit der Ästhetik des Schultheaters verhält es sich - wenn auch in deutlich abgeschwächter Form - so wie im professionellen Theater: Die Qualitätsmaßstäbe sind Geschmackssache. Es herrscht eine gewisse Toleranz gegenüber experimentellen Formen, auch Tabubrüche als bewährte Publikumsschocker sind in Grenzen erlaubt. In einem Punkte jedoch kennt die pädagogische Kritik keine Gnade: Mit einer geradezu zwanghaft rituellen Unerbittlichkeit wird als unumstößliches Gütekriterium einer Schülerproduktion der Nachweis einer MESSAGE eingefordert. In Nachbesprechungen und Auswertungen von Schultheateraufführungen werde ich stets mit der Frage konfrontiert: „Was wollt ihr uns mit eurem Stück sagen? “ War unser Stück so schlecht, dass wir es den Zuschauern im Nachhinein erklären müssen? Frustriert und unwillig antworte ich meistens mit „nichts“, was natürlich nicht stimmt, denn nach meinen Vorstellungen von Theater will man dem Publikum immer etwas erzählen. Die Hintergründigkeit der Message-Frage zielt jedoch auf einen anderen Punkt. Es geht um den pädagogischen Gehalt eines Stückes, um die moralische Qualität, um den Anspruch, Schultheater sei ein Medium der Erziehung, in dem vorbildhaft und auf spielerisch unterhaltsame Weise tragende ethische Werte verkörpert und vermittelt werden. Es muss ja nicht gleich Lessings Vorstellung vom Theater als Kanzel als Maßstab herangezogen werden, aber die Generalmessage im Schultheater lautet: Das Gute siegt! Das ist die Pointe, die in den Köpfen von Zuschauern und Akteuren nachhaltig haften bleiben soll. Ausgenommen sind Produktionen, in denen inhaltslose Formästhetik präsentiert wird. Hier siegt das Schöne. Ebenfalls ausgenommen sind VHN 1/ 2011 3 Schultheater Versuche, das Theaterspielen als unterrichtsmethodische Variante, die zurzeit unter dem Etikett Drama in Education Verbreitung findet, in Form eines instruktionstechnologischen Instrumentariums in den Dienst der Vermittlung aller nur denkbarer Unterrichtsinhalte einzusetzen. Hier wird der Unterricht zum Event. Freilich darf man es sich mit dem Hinweis auf die ethisch-moralische Kontrollfunktion der Message-Frage nicht zu einfach machen. Das „Gute“ und „pädagogisch Wertvolle“ im Schultheater schließt als Spiegel der gesellschaftlichen Realität ein gewisses Spektrum an Pluralität von Werten nicht aus, das durch das auch im Theater mit Schülern in Grenzen zugestandene Prinzip der „künstlerischen Freiheit“ noch einmal erweitert wird. Jedoch vereinigt sich dieser plural angelegte Komplex von Werten in einem gemeinsamen, alle gesellschaftlichen Strömungen umfassenden und universell gültigen Wertebezugspunkt. Als solcher gilt bisher weitgehend unumstritten der Humanismus. Das humanistische Menschenbild sieht im Gattungsbezug ein strenges Abgrenzungskriterium von allem Nicht- und Außermenschlichen. Der humanistische Mensch wird als ein leibliches, zugleich vernunftbegabtes, autonomes, zu freien Entscheidungen befähigtes und berufenes sowie mit einer „spirituellen Natur“ ausgestattetes und in seiner Würde als Person unantastbares Wesen aufgefasst. Aus dieser Vorstellung vom menschlichen Subjekt werden nun jene humanistischen Grundwerte gewonnen, die sich in dem allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule widerspiegeln und die konsequenterweise auch herangezogen werden, um den „pädagogischen Wert“ einer Schultheaterproduktion abzuschätzen. Dies ist der eigentliche Hintergrund für die ewige Frage nach der Message, auch wenn dies vielen Messagefragestellern in der aktuellen Situation nicht bewusst sein mag. Ein weiterer möglicherweise erwünschter Nebeneffekt besteht darin, dass die drohende Message-Frage bei den Theatermachern wie eine „Schere im Kopf“ wirkt. Ich helfe mir damit, indem ich mich vorbereite, um den Kritikern eine plausible und sie zufriedenstellende Message präsentieren zu können. Dieses kleine, wenn auch lästige Ritual der Message-Frage wäre einer Erwähnung nicht wert, wenn nicht - von vielen noch unbemerkt, aber in der Praxis durchaus schon wirksam - ein frontaler Angriff auf die Grundlagen der Message-Frage, nämlich den Humanismus selbst und seine Grundwerte, stattfinden würde. Seit den 90er Jahren wird in der Philosophie, den Human- und Sozialwissenschaften eine intensive Diskussion um die Notwendigkeit einer kritischen, zum Teil dekonstruktiven Aufarbeitung des Humanismusideals geführt. In diesem Kontext wird das „klassische“ Humanitätsideal als inkompatibel mit der derzeitigen Verfasstheit von Mensch und Welt eingestuft. Der Postmoderne als vorherrschende gesellschaftliche Strömung wird ein post-humanistisches Menschenbild zur Seite gestellt. Stefan Herbrechter (2009) hat die zum Teil sehr unterschiedlichen Formate des Posthumanismus für den anglo-amerikanischen und den französischen Sprachraum zusammengestellt und aufgearbeitet. Herbrechter, der selbst das Konzept eines „kritischen Posthumanismus“ anstrebt, ist in seinen Überlegungen weniger auf eine radikale Dekonstruktion als vielmehr auf eine mit Blick auf die neuen Bio- und Informationstechnologien notwendige Korrektur und Erweiterung des Humanitätsideals ausgerichtet. Er begründet dies damit, dass „die Perversion der Inhumanität in der Logik des Humanismus selbst verankert“ sei (Herbrechter 2009, 65). Das Zusammenspiel von Humanität und Inhumanität sei durch einen quasi gesetzmäßig zyklischen Verlauf gekennzeichnet, und es sei genau dieses „Spiel aus Dehumanisierung und Rehumanisierung“ (ebd.), das die Antriebskraft eines jeglichen Humanismus bilde. Stellt demnach Inhumanität eine (notwendige) Bedingung für Humanität dar? Im Schatten der Humanismus-Kritik wird bereits über neue nachmenschliche, zunehmend von dem Ballast des Organischen befreite Lebensformen spekuliert, über neue Organi- VHN 1/ 2011 4 Wolf Rüdiger Wilms sationsvarianten von Energie, cyborgisierte Technomonster, deren „Bewusstsein“ biochemisch (mit intelligenten Medikamenten) oder informationstechnologisch (durch Chips) gesteuert wird. Antiquierte humanistische Instanzen wie „Gewissen“ oder „ethische Handlungsmaximen“ haben ihre Verbindlichkeit eingebüßt und räumen technobzw. cyberkulturellen Ideologiesystemen das Feld. Geburt und Tod als die beiden herkömmlichen Eckpunkte des irdischen menschlichen Daseins werden als Konstruktion und Inbetriebnahme sowie als Abschalten einer Maschine gedacht. Noch werden diese Visionen weitgehend über Science-Fiction-Produkte in Film und Literatur verbreitet, noch ist die Frage nicht geklärt, welche Art von Mensch oder komprimierter Energie diesen Technopark steuern und bedienen soll; aber die Erfahrung lehrt, dass die Wirklichkeit die künstlerische Vorstellungskraft mühelos zu übertreffen vermag. Da wir das Theater als ein genuines Experimentierfeld für neue Entwürfe des menschlichen Daseins begreifen dürfen, kann auch die Sprengung des durch den Humanismus vorgegebenen Rahmens kein Tabu sein. Aber muss das ausgerechnet im Schultheater passieren? Wir kennen die Stoppschilder: Nur kein Nihilismus! Keine apokalyptischen Horrorvisionen! Keine negative Anthropologie! Keine Demontage des guten Menschen! Aber ist der Mensch ein guter Mensch „an sich“? Worin liegt die Bestimmung des Menschen nach dem Ende der „großen Erzählungen“ (Postman 1996)? Ein partieller oder auch - wie bei Herbrechter - kritischer Ausbruch aus dem Humanismus wird nicht problemlos verlaufen können, was sich am Beispiel des theatralen Prinzips der Verkörperung leicht zeigen lässt. Dazu knüpfe ich an den Aufsatz von Johannes Heim (2010) an. In dem von ihm beschriebenen Ansatz des Choreographischen Theaters stellt Heim den Körper als Inbegriff von Präsenz in den Vordergrund der Darstellungskunst. Das „Verstehen“ einer Situation, die Zuweisung von Bedeutungen wird hierbei ganz im Sinne der Philosophie Maurice Merlau-Pontys als ein primär körperlicher (leiblicher) Prozess aufgefasst. Somit stellt sich die Frage: Kann die Allgegenwärtigkeit des Schauspielerkörpers im modernen Theater der posthumanistischen Dekonstruktionslust des menschlichen Körpers standhalten? Wohl kaum, wenn man in cartesianischer Tradition den Körper als materielle Trägerstruktur des Geistigen als das eigentlich Menschliche betrachtet. Im (Schul-)Theater entspricht dem dualistischen Körper-Geist-Modell die Vorstellung, der Körper des Schauspielers sei sein Arbeitsmittel, sein Medium, das er in vielfältiger Weise mit Zeichen versieht, die der Zuschauer als Sinn und Bedeutung tragende Elemente „versteht“. Letztlich ist dem Zuschauer eine hermeneutische Aufgabe auferlegt, bei deren Bewältigung er sich in einem „Sinn produzierenden System“ bewegt. Dieses auf die Gewinnung von Erkenntnissen ausgerichtete Theaterkonzept findet im Schultheater verständlicherweise viel Sympathie, seine einst führende Position hat es jedoch mit dem Aufkommen der Performancekunst verloren. In bewusster Auflösung des humanistischen Körperideals zugunsten einer „Ästhetik des Hässlichen“ zertrümmern Künstler die Normen einer verordneten Wahrnehmungsästhetik. Der kolumbianische Maler Fernando Botero malt alle Lebewesen extrem fettleibig; Performancekünstler versetzen Zuschauer durch drastische Selbstverletzungen in Angst und Schrecken, so dass diese im Einzelfall die Bühne stürmten, um Schlimmstes zu verhindern. Vordergründig zeigt sich in diesen Aktionen der Zurschaustellung des Widerlichen, Ekligen, ja sogar Inhumanen möglicherweise der Wunsch der Künstler, nicht länger Alibi der Humanität sein zu wollen. Entscheidend ist jedoch der Schritt vom „Körper haben“ zum „Leib sein“, wobei der Körper nun nicht mehr Arbeitsmittel des Schauspielers ist, sondern selbst zum Kunstwerk gemacht wird. Diese Aussage setzt jedoch voraus, dass auch dekonstruktive Handlungen als eine Form künstlerischer Tätigkeit zugelassen werden. VHN 1/ 2011 5 Schultheater In diese Richtung zielt die posthumanistische Dekonstruktion des Körpers. In der Rehabilitationsmedizin und -technik ist uns die wachsende Prothetisierungsmöglichkeit des menschlichen Körpers vertraut. Sie wird in der Behindertenpädagogik als Mittel der Erleichterung eines Lebens unter eingeschränkten Bedingungen begrüßt. Inzwischen erweist sich die Austauschbarkeit von Gliedmaßen oder Organen als geradezu grenzenlos, sodass die naturgegebene körperliche Einzigartigkeit der menschlichen Existenz mehr und mehr dahinschwindet. Die klare Unterscheidbarkeit zwischen „man selbst sein“ und „ein anderer sein“ gilt auf der körperlichen Ebene nur noch eingeschränkt. Kaum haben wir uns auf das Leben in einer (noch humanistischen) Wissensgesellschaft eingerichtet, steht die nächste Transformation „in eine digitale und scheinbar in einem zunehmendem Maße entmaterialisierte, das heißt virtualisierte Informations- oder Netzwerkgesellschaft“ ins Haus (Herbrechter 2009, 158). Das neue Medienzeitalter impliziert eine neue Vorstellung vom menschlichen Subjekt und dessen Körperlichkeit. Das Spektrum erstreckt sich vom endgültigen Verschwinden des Körpers als ein unzuverlässiges, störanfälliges und vergängliches Auslaufmodell bis hin zu ganz neuen Formen des medialisierten Menschen, in denen die materielle Körperlichkeit virtuell aufgeweicht und damit der menschliche Körper als eine unverzichtbare „Realität“ infrage gestellt wird. In seinem Buch „L’Adieu au corps“ (1999) setzt sich David Le Breton mit den traditionellen Körperkonzepten der Moderne ebenso kritisch auseinander wie mit einer digitalen Transformation des menschlichen Körpers jenseits von Biologie und Materie. In der Kunst, speziell in der Literatur und im Film, sind posthumanistische Subjektkonzepte im Genre Science Fiction reichlich bearbeitet worden. Im Film (z. B. Surrogate) wird zwar auf eine unterhaltsame Weise mit cyborgisierten Figuren operiert, am Ende siegen jedoch meistens die Repräsentanten des Humanen. In Artificial Intelligence (AI) werden einem Roboterjungen im Verlaufe seines Zusammenlebens mit „herkömmlichen“ Menschen humane Bedürfnisse und Empfindungen unterlegt, ein Beispiel für das Spiel mit dem gegenläufigen Prozess als Versuch der Humanisierung oder sogar Anthropozentrierung eines „Maschinenmenschen“. Die im Science- Fiction-Genre verbreitete Technikeuphorie trägt ideologische Züge, auch wenn sich die neue cyberculture zuweilen hinter Bedrohungsszenarien zu verbergen sucht. Das Theater ist im Bereich Sciene Fiction mit Film und Literatur bisher nicht konkurrenzfähig. Prinzipiell ist es - auch für das Schultheater - möglich und reizvoll, eine Theaterästhetik zu entwickeln, mit der sich posthumanistische Szenarien bühnenwirksam aufarbeiten lassen. In der Ästhetik des Performativen (Fischer-Lichte 2004) gibt es deutliche Berührungspunkte im Bereich der De-Humanisierung und der De-Anthropozentrierung und hier besonders durch die Einbeziehung von Tieren in die Performance. Es sei in diesem Zusammenhang an die legendären drei Tage erinnert, die Joseph Beuys zusammen mit einem Kojoten im abgetrennten Bereich einer Galerie verbrachte, oder an die 5 Pythonschlangen, mit denen sich Marina Abramovic´ umgab. In beiden Fällen ging es den Performern um den Austausch von Energien zwischen Mensch und Tier. Weitaus interessanter ist jedoch ein anderer Aspekt. Es war bereits die Rede davon, dass die modernen Biotechnologien in der Lage sind, das Konzept der personalen Einzigartigkeit des menschlichen Individuums aufgrund von Eingriffen in seine Naturgrundlagen erheblich ins Wanken zu bringen. Der Begriff der Identität als Kennzeichen unverwechselbarer Einmaligkeit und Gerichtetheit der Persönlichkeit steht zur Disposition. Ich weiß nicht mehr, ob ich immer schon der war, der ich bin, oder ob ich es bleiben werde. Vielleicht bin ich ein flexibles Biomedium, angerührt aus (einem notwendigen Rest) Biomasse und Technologie. Aber VHN 1/ 2011 6 Wolf Rüdiger Wilms liegt nicht der Reiz des Schauspielens gerade darin, dass ich ein anderer sein kann? Ist es nicht dieses Vordringen bis an die Schwelle der Transformation, die Faszination ausübt und neue, existenziell bedeutsame Erfahrungsräume eröffnet? Die Zeiten, in denen die Verwandlung des Schauspielers in eine Figur ausschließlich über Kostüm, Schminke, Maske und Gestik bewerkstelligt wurde, sind längst vorbei. Als Stimulus zur Entwicklung der Freude an der Verwandlung sind diese Mittel vor allem bei jüngeren Kindern nach wie vor von Bedeutung. Konstantin Stanislawski, ein - wenn nicht der - Begründer des modernen Theaters, erkannte, dass handwerkliche Schauspielmittel nicht ausreichen, um auf der Bühne „ein anderer“ sein zu können. Er entdeckte, dass die eigentlichen Antriebskräfte in inneren Prozessen, nachhaltigen Erfahrungen, Erlebnissen mit hohen emotionalen Anteilen zu suchen sind. Insofern ist der Schauspieler sich selbst ein Material, eine (manchmal unerschöpfliche) Quelle für die Ausgestaltung von Figuren. Bei handwerklichtechnischen Lösungen wird der Zuschauer quasi durch einen Verwandlungstrick getäuscht, was hin und wieder auch ganz lustig sein kann. Gelingt es einem Schauspieler jedoch, seine Figur aus eigenen Vorstellungen, Imaginationen, Lebenserfahrungen, bewussten oder unbewussten Sinnstrukturen oder aus dem emotionalen Gedächtnis zu kreieren, dann wirkt er authentisch, da er in diesem Moment seine komplette Existenz vorübergehend im Spiel zur Disposition stellt. In dieser Art von Dramaturgie werden auch die Zuschauer existenziell berührt und bewegt. Es entsteht ein „gemeinsamer Raum“, in dem ein intensiver Austausch von Energie stattfindet. Solange der menschliche Körper noch nicht dematerialisiert ist, laufen diese Prozesse bei Darstellern und Zuschauern auf eine je unterschiedliche Weise körperlich ab. Die Komplexität dieser Vorgänge auf hirnphysiologischer Ebene konnte bisher von keiner biotechnologischen Software erreicht oder gar übertroffen werden. Der Schauspieler als Biomedium, das mit den Merkmalen der Figur hochgeladen wird, bleibt also vorerst noch eine (Horror-)Vision. Und was wird aus der Message-Frage? Ganz einfach: „Der Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Literatur Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Heim, Johannes (2010): „Jeder Mensch trägt den Tänzer in sich“ - Künstlerische Bildung im Choreographischen Theater. In: VHN 79, 328 - 339 Herbrechter, Stefan (2009): Posthumanismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Le Breton, David (1999): L’Adieu au corps. Paris: Métaillé Postman, Neil (1996): Keine Götter mehr. Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg Prof. em. Wolf Rüdiger Wilms Adalbert-Seifriz-Str. 5/ 1 D-69151 Neckargemünd E-Mail: wolfwilms@hotmail.com
