Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Biografiearbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung im Alter
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Christian Lindmeier
Der Beitrag gibt zunächst ein Beispiel dafür, wie Menschen mit geistiger Behinderung Zugang zur Biografiearbeit finden können. Im Anschluss werden die theoretischen Grundlagen einer biografischen Erziehungstheorie – fokussiert auf die Unterscheidung von Lebenslauf und Lebensgeschichte – näher erläutert. Außerdem wird eine Eingrenzung der Biografiearbeit auf das biografische Lernen vorgenommen. In einem weiteren Abschnitt wird die Praxis der Biografiearbeit mit Blick auf die zugrunde liegenden Zielsetzungen der Erwachsenen- bzw. Altenbildung und der Altenhilfe bzw. -pflege exemplarisch dargestellt. Als Schlussfolgerung für das biografische Lernen von alten Menschen mit geistiger Behinderung kristallisiert sich heraus, dass Biografiearbeit mit diesem Personenkreis in erster Linie als Identitätsarbeit zu verstehen ist. Das an Beispielen aufgezeigte Pflegen von Erinnerungen dient der Arbeit an der Identität, die mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird.
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Fachbeitrag VHN, 80. Jg., S. 98 - 110 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art06d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 98 themenstrang alter und behinderung Biografiearbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung im Alter Christian Lindmeier Universität Koblenz-Landau, Campus Landau n Zusammenfassung: Der Beitrag gibt zunächst ein Beispiel dafür, wie Menschen mit geistiger Behinderung Zugang zur Biografiearbeit finden können. Im Anschluss werden die theoretischen Grundlagen einer biografischen Erziehungstheorie - fokussiert auf die Unterscheidung von Lebenslauf und Lebensgeschichte - näher erläutert. Außerdem wird eine Eingrenzung der Biografiearbeit auf das biografische Lernen vorgenommen. In einem weiteren Abschnitt wird die Praxis der Biografiearbeit mit Blick auf die zugrunde liegenden Zielsetzungen der Erwachsenenbzw. Altenbildung und der Altenhilfe bzw. -pflege exemplarisch dargestellt. Als Schlussfolgerung für das biografische Lernen von alten Menschen mit geistiger Behinderung kristallisiert sich heraus, dass Biografiearbeit mit diesem Personenkreis in erster Linie als Identitätsarbeit zu verstehen ist. Das an Beispielen aufgezeigte Pflegen von Erinnerungen dient der Arbeit an der Identität, die mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird. Schlüsselbegriffe: Biografisches Lernen, Identität, Altenbildung Biography Work with Elderly People with Intellectual Disabilities n Summary: To begin with, the author demonstrates how people with intellectual disabilities can get access to biography work, before he elucidates the basic principles of a biographical theory of education. The attention is focused on the distinction between life history and biography, narrowing down biography work to biographical learning. The practice of biography work is exemplified with regard to the objectives of adult education resp. continuing education for elderly people and the assistance resp. care of the elderly. It becomes apparent that biography work with elderly people with intellectual disabilities has to be understood as identity work. To cultivate memories facilitates identity work, which gets more and more important with increasing age. Keywords: Biographical learning, identity, continuing education of elderly people 1 Biografiearbeit - zum Beispiel Georg Paulmichl Mit dem Thema „Biografiearbeit“ verbinde ich viel mehr als nur eine neue Arbeitsmethode, die wir in das Methoden-Repertoire der Arbeit mit geistig behinderten Menschen aufnehmen sollten. Biografiearbeit ist vielmehr Ausdruck eines grundlegenden Wandels in der professionellen Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Der Wandel besteht im Wesentlichen darin, dass das Interesse für die persönlichen Lebens- und Sinnerfahrungen von Menschen mit geistiger Behinderung in den letzten Jahren enorm gestiegen ist und dass das Wissen um diese Erfahrungen im heilpädagogischen Handeln zunehmend berücksichtigt wird (vgl. Lindmeier 2008). Biografiearbeit bedeutet demnach, dass die Geistigbehindertenpädagogik endlich damit anfangen hat, Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit als Personen - und eben gerade nicht als Fälle von geistiger Behinderung - wahrzunehmen. Weil ich das aus tiefer fachlicher und persönlicher Überzeugung so sehe, möchte ich meinen Beitrag mit der Selbstäußerung eines geistig behinderten Menschen beginnen. Georg Paulmichl, ein in Südtirol lebender geistig behinderter Maler und Dichter, der in VHN 2/ 2011 99 Biografiearbeit Prad in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet, veröffentlichte 1990 in seinem zweiten Bild- und Gedichtband mit dem Titel „Verkürzte Landschaft“ folgendes Gedicht: Georgs Schullebenslauf Zuerst bin ich in Prad Kindergarten gegangen. Im Kindergarten hat es mir gefallen. Ich habe manchmal auch für das Leben gekämpft. Nachher bin ich in Mals beim rundenTurm in die Schule gegangen. Die Schule ist für mich ein Beruf. Schulegehen schadet nicht, es schadet auch den Erwachsenen nicht. Dann bin ich in ein Heim nach Vorarlberg gekommen. Die Klosterfrauen sind streng mit mir gewesen. Sie haben einem mit einem Stecken auf die Hände geschlagen. Schlagen ist eine Sünde. Im Heim haben mir die Schlafzimmer am besten gefallen. Wenn man schläft dann träumt man. Nachher bin ich in die Werkstatt gekommen. In der Werkstatt gefällt es mir sehr gut. In der Werkstatt bin ich ein Dichter. Dichter sein ist ein feiner Beruf. In der Werkstatt sind alles Behinderte. Ich bin nicht behindert, ich kann reden. Ich will immer Ruhe haben. Die Künstler brauchen immer Ruhe. Ich möchte das ganze Leben in der Werkstatt bleiben. Wir wissen nicht, warum Paulmichl sein Gedicht mit Schullebenslauf überschreibt, obwohl es doch auch um weitere Stationen und Institutionen in seinem Leben geht. Möglicherweise tut er einfach nur das Übliche: Wenn ich einen Lebenslauf schreibe, geht es in erster Linie um meine Schullaufbahn und die Schulabschlüsse. Das Übliche deshalb, weil man einen Lebenslauf vorlegen muss, wenn man sich um eine Stelle bewirbt. Vor dem Hintergrund der Stationen und Institutionen, die Paulmichl in seinem Leben durchlaufen hat, erzählt er aber auch seine Lebensgeschichte als Ausdruck seiner persönlichen Lebens- und Sinnerfahrungen während des Durchlaufens eines Lebenslaufsdiktats, das uns für gewöhnlich vom Kindergarten über die Schule zur Berufstätigkeit führt. Die meisten von uns müssen dabei nicht ins Heim; doch genau dieser Heimaufenthalt scheint auch in Paulmichls Lebenslauf von hoher lebensgeschichtlicher Bedeutung zu sein. Ginge es bloß um die „nackten“ Daten und Fakten seines Lebenslaufs, dann würde Georg Paulmichl wohl nur berichten, von wann bis wann er sein Leben im Heim verbringen musste. Vermutlich könnte er das aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung zeitlich nicht mehr genau rekonstruieren. Da er aber ein Gedicht schreibt, spielt das keine Rolle, denn in einem solchen Text kommen andere Dinge zum Ausdruck. Aus den sechs Zeilen, die Paulmichl über seinen Heimaufenthalt schreibt, erfahren wir nicht nur, dass es ihm dort nicht gefallen hat und schlecht ergangen ist. Die sechs Zeilen dieser beiden Strophen ergeben erst wirklich Sinn, wenn man sie zu den übrigen Strophen in Beziehung setzt. Der „himmlische“ Zustand des Künstlers, den Paulmichl in den letzten drei Strophen beschreibt, erscheint ihm vor allem im Vergleich mit seinem Heimaufenthalt als ein Zustand der Ruhe und des Friedens. Der „feine Beruf“ des Dichters, der ihm so gar nicht wie Arbeit vorkommt und den er am liebsten sein Leben lang ausüben möchte, muss im Zusammenhang mit den Äußerungen über den Kindergarten und die Schule gesehen werden. Im Kindergarten hat es ihm gefallen, auch wenn er manchmal für das Leben gekämpft hat. Die Schule hingegen erlebt er im Nachhinein als Beruf und damit als harte Arbeit, die auch keinem Erwachsenen schadet, der er aber im Gedicht die Leichtigkeit des Künstlerdaseins als Erwachsener entgegenhält. Es ist interessant zu lesen, dass er sich in der Werkstatt nicht als behindert erlebt, weil er reden kann. Diese Selbstwahrnehmung ist unter dem Aspekt der persönlichen Sinn- und Lebenserfahrung von großer Bedeutung. Denn wie geht man als Heilpädagogin oder Heilpädagoge damit um, dass ein als geistig behindert etikettierter Werkstattgänger andere Werkstattgänger als behindert und sich als nicht behindert erlebt? Abschließend möchte ich noch einmal auf die beiden Strophen zum Heimaufenthalt zu sprechen kommen, weil sie mit Blick auf das lebensgeschichtliche Erzählen die Schlüsselstelle des Gedichts zu sein scheinen. Der VHN 2/ 2011 100 Christian Lindmeier Heimaufenthalt in Vorarlberg hat das Weltbild des Georg Paulmichl offensichtlich ordentlich durcheinander gebracht - und dies vermutlich vor allem in Bezug auf die Themen Kirche und Religion. Dies lässt sich aus der letzten Zeile der dritten Strophe und der ersten Zeile der vierten Strophe schließen, wo er beschreibt, dass ausgerechnet die Klosterfrauen, die ihr Leben ganz gottgefällig und fern der Sünde leben sollen und wollen, die Sünde des Schlagens begehen. Gleichzeitig hat Paulmichl vielleicht gerade im Heim etwas für das Leben gelernt, und zwar in dem Sinne, dass ihm sein jetziges Leben in der Werkstatt für behinderte Menschen wie der Himmel auf Erden vorkommt. Dass man etwas für das Leben lernen muss, oder genauer: dass man trotz der Widrigkeit des Lebens zu leben lernen muss und kann, scheint jedenfalls eine der Kernaussagen des Gedichtes zu sein. 2 Lebenslauf und Lebensgeschichte Wenngleich auch andere Interpretationen des Gedichtes möglich erscheinen, dürfte eines deutlich geworden sein: Lebenslauf und Lebensgeschichte sind zwei verschiedene Formen alltagsweltlicher sprachlicher Äußerungen, die sich mit den Ereignissen und Zusammenhängen in einem individuellen Menschenleben befassen. Diese Erkenntnis stammt von dem Pädagogen Theodor Schulze (vgl. Schulze 1993 b), der seit Anfang der 1980er Jahre den Ansatz der pädagogischen Biografiearbeit maßgeblich geprägt hat. Mit Schulze sei Folgendes über biografische Erfahrungen als Ausgangspunkt der Biografiearbeit festgehalten: n Biografische Erfahrungen erschließen sich zum einen aus lebenslaufbezogenen und zum anderen aus lebensgeschichtlichen Äußerungen. n In beiden Fällen handelt es sich um alltagssprachliche Äußerungen, die sich mit Ereignissen und Zusammenhängen in einem individuellen Leben beschäftigen. n Allerdings handelt es sich um zwei unterschiedliche „Textsorten“, die in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zwecken verfasst werden. Schulze stellt des Weiteren heraus, dass Lebenslauf und Lebensgeschichte durch unterschiedliche Denkschemata und Handlungspläne gesteuert werden. Demnach sind Lebensläufe in Qualifikationen und Rollen konzipiert, während Lebensgeschichte durch das Bemühen um die Erzeugung und Erhaltung von Identität („Selbstkonzept“) bestimmt wird. Die unterschiedlichen Konzeptualisierungen individuellen Lebens lassen sich also auf verschiedenartige Lernprozesse zurückführen, die die Auseinandersetzungen des Einzelnen mit seiner Umwelt, seine Initiativen, auf die Umwelt einzuwirken, und seine Anstrengungen, das Leben zu bewältigen, in unterschiedlicher Weise bestimmen und herausfordern. Von Schulze stammt auch eine Gegenüberstellung von Charakteristika lebenslaufbezogener und lebensgeschichtlicher Äußerungen: „,Lebenslaufbezogene Äußerungen‘ sind demnach zweckgebunden; sie werden meist in administrativen Handlungs- und Behandlungszusammenhängen vorgebracht. Sie wenden sich an Funktionäre als handelnde Personen, an Behördenvertreter, Auswahlgremien oder Arbeitgeber, an Repräsentanten von Institutionen. Sie sind in ihrer Form stark vorstrukturiert und meist eindimensional, im Inhalt auf bestimmte Aspekte hin stark reduziert, und sie erhalten häufig sozial gültige Bewertungen. Sie stellen Daten für Entscheidungen zur Verfügung. Die Antwort ist meist eine folgenreiche Maßnahme, eine Einstellung oder eine Nicht-Einstellung, eine Einweisung oder eine Zuweisung, eine Beurteilung oder Entlastung.“ (Schulze 1993 b, 187) Bei lebensgeschichtlichen Äußerungen werden in der Regel Teile eines Lebenslaufs vorausgesetzt, jedoch konzipieren Lebensgeschichten Biografisches auf andere Weise: „,Lebensgeschichtliche Äußerungen‘ sind Selbstzweck. Sie werden in kommunikativen Situationen her- VHN 2/ 2011 101 Biografiearbeit vorgebracht, in Gesprächen oder Selbstgesprächen. Sie wenden sich an andere menschliche Individuen oder auch an das Individuum selbst. Sie sind in ihrer Form wenig vorstrukturiert und eher mehrdimensional, im Inhalt ausführlich und evozierend; sie enthalten eher individuelle Wertungen. Sie erzählen Geschichten zur Unterhaltung. Die Antwort ist eine andere ähnliche Geschichte oder eine reflektierende Überlegung.“ (Schulze 1993 b, 188) Wie man an Georg Paulmichls Gedicht Georgs Schullebenslauf sehr schön erkennen kann, beziehen sich lebenslaufbezogene und lebensgeschichtliche Äußerungen wechselseitig aufeinander. Ohne die Hintergrundfolie der Daten und Fakten des Lebenslaufs gäbe es auch keine lebensgeschichtlichen Äußerungen; aber nur durch lebensgeschichtliche Äußerungen wird ein Lebenslauf zu einer individuellen Biografie. 3 Theoretische und begriffliche Eingrenzungen Spätestens an dieser Stelle erscheint es sinnvoll, eine theoretische und begriffliche Einordnung der Biografiearbeit vorzunehmen. Deshalb sei zunächst noch einmal festgehalten: Geht es um die pädagogische Wahrnehmung und Würdigung persönlicher Lebens- und Sinnerfahrungen, dann spielen die lebensgeschichtlichen oder biografischen Erfahrungen eines Menschen eine herausragende Rolle. Aus Interesse an diesen lebensgeschichtlichen Erfahrungen hat sich seit Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts im Zuge der sog. „Alltagswende“ in der Pädagogik die Forschungsrichtung der pädagogischen Biografieforschung herausgebildet. Ihr Interesse an Biografien, biografischen Materialien und biografisch bestimmten Lernprozessen ist der Versuch, der individuellen Seite der Erziehung und Bildung ein größeres Gewicht und zugleich einen konkreten Inhalt zu verschaffen (vgl. Schulze 1993 b). Auf der Grundlage der pädagogischen Biografieforschung wurden deshalb in den letzten Jahrzehnten Grundlinien einer biografischen Erziehungs- und Bildungstheorie erarbeitet (vgl. z. B. Loch 1979; 1999; Schulze 1993 a; 1993 b; Weber 1996). Zwei Perspektiven sind dabei als besonders bedeutsam herausgestellt worden: Einerseits wird erst im Horizont der Lebensgeschichte verständlich, was Erziehung und Bildung für den Menschen bedeuten, und andererseits ist die Bedeutung, die die Lebensgeschichte für einen Menschen erhält, auch von seiner Erziehung und Bildung abhängig. In pädagogischer Betrachtung erweist sich also die Biografie eines Menschen als Bildungsprozess, in dem das Individuum durch die Bewältigung der sich lebensgeschichtlich stellenden Aufgaben zum Welt- und Selbstverständnis, aber auch zu einem mit diesem Verständnis korrespondierenden verantwortlichen Handeln sowie zu einer persönlichen, biografischen Identität gelangt. Von der pädagogischen Biografieforschung ist die biografisch orientierte Bildungsarbeit zu unterscheiden, die sich in den vergangenen 20 Jahren vor allem in der Erwachsenen- und Altenbildung entwickelt hat. Die verstärkte Berücksichtigung biografischer Bezüge trägt in der Erwachsenen- und Altenbildung dazu bei, das gestiegene öffentliche Interesse an Angeboten im Bereich von Selbsterfahrung und Persönlichkeitsbildung zu befriedigen. In Veranstaltungsankündigungen wie in den Titeln einschlägiger Veröffentlichungen tauchen dabei die Formulierungen „biografisches Lernen“, „Biografie- Arbeit“, „biografische Kommunikation“ oder „biografische Selbstreflexion“ auf, die ganz offensichtlich eine ähnliche Thematik beschreiben. In den verschiedenen Bezeichnungen wird jedoch nicht ohne Weiteres deutlich, inwieweit a) dieser Umgang mit Biografischem auf die eigene oder auf fremde Lebensgeschichte(n) bezogen wird, b) die gesamte Lebensgeschichte als Lebensverlauf und Entwicklungsgeschehen in den Blick genommen wird oder einzelne Lebensthemen im Vordergrund stehen und auf ihre biografische Prägung hin betrachtet werden, VHN 2/ 2011 102 Christian Lindmeier c) Biografisches mit der Absicht der Selbst- Bildung oder Selbstvergewisserung oder als Forschungsfeld für die pädagogische Biografieforschung betrachtet wird (vgl. Vogt 1996). Angesichts dieser begrifflichen Unklarheiten schlage ich die Unterscheidung von „biografischem Lernen“ und „Biografiearbeit“ vor (vgl. Vogt 1996). Dabei verstehe ich den Begriff „biografisches Lernen“ als Oberbegriff für alle Lernprozesse, die lebensgeschichtliche Aspekte und Fragestellungen in den jeweiligen Lernvorgang einbeziehen. Mit „Biografiearbeit“ bezeichne ich demgegenüber den Ansatz einer gezielten Arbeit an der persönlichen Entwicklung, die den individuellen Lebenslauf in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und in Einzel- oder Gruppenarbeit durchgeführt wird. Inhalt und Ziel solcher Arbeit sind ein gründliches Betrachten, ein vertieftes Verstehen und ein bewusstes Gestalten des eigenen Lebensweges. 4 Der Ansatz der Biografiearbeit in der Praxis Wie bereits erwähnt, entwickelte sich die biografisch orientierte Bildungsarbeit seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zu einem ausgereiften didaktisch-methodischen Ansatz der allgemeinen Erwachsenen- und Altenbildung. Dabei musste sie sich anfangs durchaus gegen Kritiker durchsetzen, die in ihr nur wenig „Bildungswert“ erkennen konnten. In den letzten zehn Jahren ist sie aber - immer häufiger unter der Bezeichnung „Biografiearbeit“ - regelrecht in Mode gekommen. Eine ähnliche Konjunktur erlebte im gleichen Zeitraum die Biografiegestützte Arbeit (Erinnerungsarbeit, Reminiszenz-Arbeit) mit alten Menschen, in der letzten Zeit auch verstärkt mit alten und dementen Menschen. Die Altenhilfe und -pflege bedient sich dabei vielfach derselben Methoden wie die biografisch orientierte Bildungsarbeit. Wie das Beispiel der Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen, die von ihren Herkunftsfamilien getrennt wurden, zeigt, eignet sie sich keineswegs nur für erwachsene und alte Menschen (vgl. Ryan/ Walker 2004). Obwohl die Erwachsenen- und Altenbildung und die Altenhilfe und -pflege überwiegend dieselben Methoden der Biografiearbeit anwenden, gibt es durchaus Unterschiede hinsichtlich ihrer Zielsetzungen. Da für die Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen die Erfahrungen aus beiden Praxisfeldern genutzt werden sollten, gehe ich im Folgenden kurz auf beide Handlungsfelder ein. 4.1 Zielsetzungen der Biografiearbeit in der Erwachsenen- und Altenbildung Biografiearbeit wird in der Erwachsenen- und Altenbildung als eine bewusste Auseinandersetzung mit dem persönlichen Lebensweg verstanden, die die Hauptstationen, die Umwege, Brüche und Hindernisse dieses Weges ebenso mit einbezieht wie seine Neuanfänge, Perspektiven und Ziele. Dieser persönliche Lebensweg wird als ein letztlich sinnhaftes Ganzes angesehen, das weder schicksalhaft vorbestimmt ist noch ausschließlich durch willkürliche Zufälle geprägt wird, sondern dessen Sinnhaftigkeit individuell erfahren und gefühlt werden kann. Diese Möglichkeit persönlicher Ziel- und Sinnorientierung verdeutlicht - bei aller gleichzeitig zu beachtenden sozialen und zeitgeschichtlichen Eingebundenheit - die Bedeutung individueller Verantwortung für den eigenen Lebensweg. In diesem Sinne geht biografische Arbeit von der Möglichkeit und Notwendigkeit der Selbst-Bildung aus (vgl. Vogt 1996, 46). In der Erwachsenen- und Altenbildung verfolgt die Biografiearbeit deshalb die folgenden Zielsetzungen (vgl. Vogt 1996): n Zentrales Anliegen der Biografiearbeit ist die Stärkung von persönlicher Eigenart und Eigenständigkeit. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann sowohl in- VHN 2/ 2011 103 Biografiearbeit dividuelle Besonderheiten klären helfen als auch Anpassungsprozesse an gesellschaftliche Normen verdeutlichen. n Im Vordergrund biografischer Arbeit steht somit auch die Betonung von Eigenverantwortung für den persönlichen Lebensweg. Eigenverantwortung bedeutet dabei ganz konkret die Erfahrung, dass es möglich ist, individuelle Antworten auf Lebensfragen zu finden. n Dementsprechend muss Biografiearbeit als eine zeitweilige Begleitung und anfängliche Anregung für einen Lernprozess aufgefasst werden, der auch im Alltag weitergeführt werden kann und im Prinzip offen bleibt. Entsprechend ist die Vermittlung von methodischen Anregungen für die Alleinarbeit ein Ziel dieser Arbeit. n Biografische Arbeit zielt ferner darauf ab, einen verbindenden Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schulen. Das bedeutet weder, sich vorrangig mit Vergangenem zu beschäftigen, also einseitig den Blick zurück zu betonen, noch bedeutet es, die Gegenwartsbetrachtung in den Vordergrund der Arbeit zu stellen. Vielmehr wird versucht, beide Wahrnehmungsrichtungen mit einem Blick nach vorn zu verknüpfen, und zwar nicht nur in vagen Überlegungen, sondern im Entwurf realisierbarer, nächster Entwicklungs- und Lernschritte. Erwachsenen- und Altenbildung verstehen somit den Ansatz biografischer Arbeit als Anregung und Unterstützung des permanenten Lernprozesses der Reflexion des bisherigen und potenziell weiteren Lebensweges im Schnittpunkt der gegenwärtigen Lebenssituation. 4.2 Zielsetzungen der Biografiearbeit in der Altenhilfe und -pflege Im Kontext der Hilfe und Pflege für alte Menschen schafft Biografiearbeit in erster Linie einen lebendigen Zugang zu diesen Menschen und hilft Kommunikationsbarrieren abzubauen. Dabei erfüllt sie folgende Funktionen (vgl. Maciejewski u. a. 2001): n Bedürfnisse und Wünsche werden schneller verstanden, wenn die Biografie bekannt ist. Fehlinterpretationen werden so verringert und kritische Situationen besser gemeistert. n Durch das Erfassen der Biografie wird ein Zugang geschaffen und die Beziehung zwischen den Fachleuten und den alten Menschen verbessert. Der Blick wird auf die Ressourcen der Menschen gerichtet. n Kenntnis der Lebensgeschichte hilft den Fachleuten, den Respekt vor den alten Menschen zu bewahren und sie nicht nur auf elementare Lebensäußerungen zu reduzieren (z. B. „satt-und-sauber“-Versorgung bei hohem Pflegebedarf ). Außerdem erweitert sich der eigene Horizont, wenn man sich auf das Leben anderer Menschen einlässt. n Biografiearbeit dient als Kommunikationsmittel, mit welchem Außenkontakte erhalten bzw. hergestellt werden. Alte Menschen können sich so in eine größere soziale Gruppe oder ein soziales Netzwerk eingebunden fühlen. n Die Möglichkeit, alte Gewohnheiten beibehalten zu können, vermittelt Sicherheit und Geborgenheit. n Die Identität der alten Menschen wird gestärkt. Reden über angenehme Erinnerungen kann Gereiztheit und Traurigkeit mindern, denn schöne, aktive Zeiten können auch schöne Erinnerungen und positive Gefühle wiedererwecken. Biografiearbeit gilt in der Altenhilfe und -pflege mittlerweile als einer der wichtigsten Türöffner im Umgang mit alten Menschen mit Demenz, bei welchen häufig ein Rückzug in die Vergangenheit zu beobachten ist. Sie ist deshalb auch fest mit der Angehörigenarbeit verwoben, da biografische Angaben oft nur von den Angehörigen gemacht werden können. Angehörige helfen bei der Interpretation VHN 2/ 2011 104 Christian Lindmeier schwieriger Verhaltensweisen sowie bei der nonverbalen Kommunikation mit dementen Menschen. Angehörige geben außerdem Auskunft über Vorlieben und Abneigungen. Damit helfen sie nicht nur ihrem Familienmitglied und den Altenpflegern, sondern auch sich selber, weil sie auf diese Weise gegen ihr schlechtes Gewissen angehen, nicht mehr genug für den Betroffenen tun zu können. Angehörige müssen also bei dementen alten Menschen gewissermaßen stellvertretend Biografiearbeit leisten. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch für die Biografiearbeit mit Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen anstellen 1 . Außerdem darf nicht vergessen werden, dass auch Menschen mit einer Biografie als geistig behinderte Menschen an Altersdemenz erkranken können. Anders als die Erwachsenen- und Altenbildung sieht Altenhilfe und -pflege den Nutzen der Biografiearbeit also in erster Linie darin, alten Menschen einen lebendigen Zugang zu sich selbst und zu ihrer Umwelt zu erhalten oder sich diesen wieder anzueignen. Hauptziel einer organisierten Erinnerungsarbeit im Kontext der Altenhilfe und -pflege ist also das subjektive Wohlbefinden insbesondere von alten Menschen in schwierigen Lebenslagen. 5 Alte Menschen mit geistiger Behinderung und Biografiearbeit In ihrem aktuellen Diskussionspapier „Altwerden von Menschen mit geistiger Behinderung“ vom Juni 2007 weisen der Fachausschuss Wohnen und der Fachausschuss Offene Hilfen der Bundesvereinigung Lebenshilfe auf die Notwendigkeit von Bildungsmaßnahmen für älter werdende und alte Menschen mit geistiger Behinderung hin. Bildungsmaßnahmen sollen im Alter fortgesetzt und weiterentwickelt werden, um die von den Betroffenen gewollte und fachlich unterstützte Selbstbestimmung, die ihre Entsprechung in der gesetzlichen Vorgabe der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft findet, weiterhin realisieren zu können. Falls Leistungserbringer bislang keine Altenbildungsangebote machen, sollten sie nach Auffassung der Bundesvereinigung Lebenshilfe dazu aufgefordert werden, ihre Konzeptionen neu auszurichten. Bevor man Überlegungen anstellt, welche Bildungsmaßnahmen im Alter fortgesetzt und weiterentwickelt werden sollten, muss zunächst einmal geklärt werden, um welchen Personenkreis es eigentlich geht. Auch diesbezüglich ist es hilfreich, das neue Diskussionspapier der Lebenshilfe zu Rate zu ziehen. Darin heißt es: „Der Personenkreis der älter werdenden und alten Menschen mit geistiger Behinderung ist eine sehr verschiedene Gruppe, und somit ist das Altern von Menschen mit geistiger Behinderung ein höchst individueller Vorgang. Überdies gibt es einzelne älter werdende bzw. alte Menschen mit geistiger Behinderung, die einen altersspezifischen Bedarf an Pflege haben sowie schon sehr früh Alterserkrankungen wie Demenz oder Altersdepressionen entwickeln. Dagegen gibt es andere, die hoch betagt über eine gute geistige und körperliche Leistungsfähigkeit verfügen. Altern kann nicht als ein von früheren Lebensphasen gelöster Zeitraum betrachtet werden. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Generation der jetzt alt werdenden Menschen mit geistiger Behinderung um Personen handelt, die aufgrund der spezifischen Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in der Nachkriegszeit unter erschwerten Bedingungen gelebt haben. Diese Menschen sind in einer Zeit aufgewachsen, in der sie häufig in ihrem direkten oder weiteren Umfeld, aber auch gesamtgesellschaftlich gesehen, wenig Wertschätzung erfahren haben. Wir sprechen von Personen, n denen keine Gelegenheit gegeben wurde, für sich Lebenspläne zu schmieden, wie dies jeder sonst zu tun pflegt, n die verminderte Chancen auf schulische Förderung hatten, VHN 2/ 2011 105 Biografiearbeit n die nie oder nicht gleich einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bzw. in einer Werkstatt für behinderte Menschen erhielten, n denen persönliche Partnerschaften, auch intime Beziehungen, meist vorenthalten blieben.“ (Bundesvereinigung Lebenshilfe 2007, 2) Ich möchte zunächst den Blick auf die Bildungsangebote für Ältere in der allgemeinen Altenbildung lenken, weil ich meine, dass wir uns an diesen orientieren können, wenn wir spezifische Angebote für alte Menschen mit geistiger Behinderung planen. Solche Angebote sollten zudem nach Möglichkeit im Rahmen der allgemeinen Altenbildung vorgehalten werden. Im Übrigen gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass geistig behinderte Menschen anders altern als nicht behinderte Menschen und deshalb andere Bildungsbedürfnisse aufweisen (vgl. Havemann/ Stöppler 2004). Die Organisationsformen der allgemeinen Altenbildung sind denjenigen der allgemeinen Erwachsenenbildung sehr ähnlich. Deshalb kann man auch von „Erwachsenenbildung im Alter“ sprechen. Auch in der Altenbildung gibt es Abend- und Tageskurse, Wochen- und Wochenendseminare, Gesprächskreise oder Sprachkurse. Diese werden ergänzt durch Erzählcafés, Zukunftswerkstätten, Computerkurse, Wissensbörsen und Möglichkeiten des Gesundheitslernens. Doch nicht jedes Angebot, an dem überwiegend Ältere teilnehmen, kann nach Auffassung von Silvia Kade auch schon als Angebot für das Lernen des Älterwerdens, das Kade Altersbildung nennt, gelten: „Im engeren Sinne sind nur jene Angebote der Altersbildung zuzurechnen, in denen die Zeitdimension der Erfahrung explizit thematisiert wird. Alter ist nicht per se eine Bildungskategorie, erst der biografische Bezug auf Erfahrung ermöglicht Bildung, die im Kern das Lernen des Älterwerdens zum Inhalt hat.“ (Kade 2000, 173) Nach Kade (2000) nimmt die Bedeutung der Biografie mit dem Lebensalter für das Lernen zu. Daraus folgt für die Entwicklung von Altenbildungsangeboten: n „Die intrinsische Bildungsmotivation nimmt mit dem Älterwerden zu, fremdbestimmt vorgegebene Bildungsangebote, die nicht von persönlicher Relevanz sind oder an biografisch ausgebildete Kompetenzen, Dispositionen und Interessen anknüpfen, werden aufgegeben, nicht weitergeführt (Biografiedimension). n Lernen im Alter kommt eine Funktion für die alltägliche Lebensbewältigung im Alter zu, die dem Ziel dient, die biografisch entwickelte Lebensführung auch unter veränderten Lebensbedingungen fortzusetzen, die hierfür erforderlichen Kompetenzen zu erhalten oder wiederherzustellen (Alltagsdimension). n Lernen im Alter übernimmt eine kreative Ergänzungsfunktion, um bisher vernachlässigte, aufgrund mangelnder Gelegenheiten unentwickelte Fähigkeiten und Kompetenzen zu erwerben und das Kompetenzprofil abzurunden. Im kreativen Bereich werden außeralltägliche Erfahrungen gesucht, die die ‚andere Seite‘ der Person erfahrbar machen und das eigene Ausdrucksvermögen im Austausch mit anderen entfalten (Kreativitätsdimension). n Lernen im Alter kommt die produktive Funktion zu, ein biografisch entwickeltes Handlungsvermögen durch Eigentätigkeit zu erhalten und im Dienste anderer nützlich einzusetzen (Produktivitätsdimension). Entfallen die Verwendungsgelegenheiten für früher erworbene Fähigkeiten oder neu erworbenes Wissen, versiegt auch das produktive Handlungspotential.“ (Kade 2000, 178f ) Aufgrund dieser Gegebenheiten zeichnen sich vier Lernfelder in der Altenbildung/ Altersbildung ab, die den Lernbedürfnissen der Älteren entgegenkommen. VHN 2/ 2011 106 Christian Lindmeier 5.1 Lernfeld Biografie Hierzu sind die „Orientierungskurse“ für Ältere in Gesprächskreisen zu zählen, die eine Bilanzierung des bisherigen Lebensverlaufs und eine Bestandsaufnahme der individuellen Lebenssituation im Alter anstreben, um auf der Basis der Rekonstruktionsarbeit eine Neuorientierung im Alter zu ermöglichen. Die auf Selbsterfahrung basierenden Seminare haben den Entwurf einer Zukunftsperspektive im Dienste der Alltagsbewältigung im Alter zum Ziel. Biografisch orientiert sind auch die Seminare zum intergenerationellen Austausch zwischen Alt und Jung, die einen Dialog über Zeitgeschichte und Lebenszeit, über unterschiedliche Lebensphasen und -formen und mögliche Bündnisse im Alltag bezwecken. Primär unter Altersgleichen wird ein Austausch über kritische Lebensereignisse nach dem Auszug der Kinder, nach einer Verwitwung oder der Verrentung gesucht, lebensgeschichtliche Ereignisse, die oft ungewollt und deshalb ungeplant eingetreten sind und eben deshalb einer reflexiven Bearbeitung bedürfen. 5.2 Lernfeld Alltag Der Alltag im Alter ist selbst zu einem zentralen Lerngegenstand unter Individualisierungsbedingungen geworden, die auch vor dem Alter nicht haltmachen. Wenn die Älteren nicht zunehmend von Fremdhilfe und fremdbestimmten Entscheidungen über ihre Lebensform abhängig werden wollen, sind sie darauf angewiesen, Selbsthilfekräfte zur aktiven Lebensbewältigung im Alter zu stärken (z. B. Gymnastikkurse, Gedächtnistraining) und wechselseitige Unterstützungsressourcen (Wohn- und Fahrgemeinschaften, Kontaktstellen) im Wohnumfeld zu suchen und zu mobilisieren (vgl. Havemann/ Stöppler 2004). Abb. 1: Lernfelder in der Altenbildung/ Altersbildung VHN 2/ 2011 107 Biografiearbeit 5.3 Lernfeld Kreativität Angebote, die zu einem kreativen Selbstausdruck anregen, bisher unerprobte Kreativitätspotenziale experimentell entwickeln und neue Spielräume für unentfaltete Bildungsmöglichkeiten in kulturellen Kontexten eröffnen, die bisher unter beengenden Lebensverhältnissen verkümmert oder unterdrückt worden sind, erfreuen sich einer starken Nachfrage und sind wesentlich weiter ausdifferenziert als das alltagsbezogene Angebot. Anstelle der passiven Kunst- und Kulturrezeption dominieren heute zunehmend aktiv gestaltende Aneignungsformen im künstlerisch-handwerklichen Bereich, die alle Sinne einbeziehen und die außeralltägliche Erfahrungen im Kontrast zur Monotonie des Alltags im Alter vermitteln (z. B. Literaturkurs, Malatelier, Altentheater, Multimediabereich, in einer Schreib- und Zeitungsgruppe, auf einer Bildungsreise, bei Erkundungen im Stadtteil und Museum). Beispiele aus der Behindertenhilfe: Kreativwerkstätten von Behinderteneinrichtungen. Diese Angebote sollten im Alter so lange wie möglich fortgesetzt werden. 5.4 Lernfeld Produktivität Viele Ältere verspüren den Wunsch, auch nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben weiterhin sozial nützliche Arbeiten auszuüben und praktisch tätig zu sein. Deshalb haben jene Angebote einen besonders großen Zulauf, die ein soziales Engagement (als Betreuerin Älterer wie Jüngerer, bei Besuchsdiensten im Heim, als Vorleserin oder Stadtteilführerin, in Geschichtswerkstätten und Zeitungsgruppen im Stadtteil) anregen, dieses vorbereiten und moderieren oder in Selbsterfahrungsgruppen mit Fortbildungscharakter begleiten. Solche Angebote sind allerdings auch an allgemeinen Erwachsenenbildungseinrichtungen nicht sehr zahlreich. Für das vorhandene Produktivitätspotenzial Älterer fehlen also häufig noch die Anwendungs- und Bewährungsgelegenheiten. Dies gilt erst recht für die Altenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung. 6 Erinnerungspflege als wesentlicher Bestandteil der Biografiearbeit Trilling u. a. nennen in ihrem Buch „Erinnerungen pflegen“ (2001) zehn Gründe, warum Biografie- oder Reminiszenzarbeit im Alter noch mehr als in anderen Lebensphasen als „Identitätsarbeit“ (vgl. auch Opitz 1998) aufzufassen ist. Obwohl das aus England stammende Konzept der „Erinnerungspflege“ (vgl. auch Osborn u. a. 1998) vor allem für alte Menschen mit demenziellen Erkrankungen entwickelt wurde, ist es m. E. für eine identitätserhaltende und -entwickelnde Biografiearbeit mit alten Menschen von allgemeiner Bedeutung. Dies will ich abschließend verdeutlichen, indem ich die zehn Gründe für die Erinnerungspflege vor dem Hintergrund der Lebenssituation von alten Menschen mit geistiger Behinderung kommentiere. 1. Erinnern baut Brücken Durch Erinnerungen werden Brücken geschlagen zwischen früher und heute, aber auch zwischen den Gesprächspartnern, die an einer Biografiearbeit in einer Gruppe oder in Einzelgesprächen teilnehmen. Biografiearbeit erhält also nicht nur die Zeitdimension der Erfahrung lebendig, sondern auch soziale Beziehungen. Beides ist für Menschen, die - wie ältere Menschen mit geistiger Behinderung relativ häufig - durch eine „Institutionenbiografie“ geprägt sind, von existenzieller Bedeutung. 2. Erinnern schafft Freunde Gemeinsame Gespräche in einer Gruppe über Vergangenes fördern das Zusammengehörigkeitsgefühl. Sogar neue Freundschaften können entstehen, wenn sich Menschen über ihre Vergangenheit und über ihre guten und schlechten Erlebnisse und Erfahrungen austauschen. Für alte Menschen mit geistiger Behinderung ist Reminiszenz als das genussvolle und spielerische Schwelgen in Erinnerungen nach dem Austritt aus dem Arbeitsleben häufig eine der wenigen verbleibenden Möglichkeiten, das Gefühl freundschaftlicher Zusammengehörigkeit zu erleben bzw. wiederzuerleben. VHN 2/ 2011 108 Christian Lindmeier 3. Erinnerungen verringern die Distanz zwischen Jung und Alt Es besteht die Möglichkeit, dass nicht nur Fachpersonal, sondern auch Familienangehörige oder Freunde Biografiearbeit durchführen. Da sie in den meisten Fällen jünger als die Erzählenden sind, kann auf diesem Wege eine stärkere Bindung zwischen Jung und Alt entstehen. Biografische Gruppenarbeit mit alten geistig behinderten Menschen sollte daher durchaus von jüngeren Fachpersonen durchgeführt werden und ggf. auch jüngere Menschen mit geistiger Behinderung einbeziehen, zumal dann, wenn die Teilnahme von Familienangehörigen Schwierigkeiten bereitet. 4. Erinnerungen erhalten und übermitteln kulturelles Erbe Die Übermittlung des kulturellen Erbes findet durch die Erzählungen von der Vergangenheit und der damit verbundenen Herkunft statt. Viele alte Menschen erläutern ihre Werte- und Normvorstellungen von früher oder geben Familientraditionen weiter. Angesichts der „Traditionslosigkeit“ (vgl. Wieland 1991) der Rolle von Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft wird dieser „Erinnerungsgrund“ in der Biografiearbeit mit alten Menschen mit geistiger Behinderung zunächst eher Ratlosigkeit auslösen. Im Sinne der „oral history“ ist aber auch eine „Institutionenbiografie“ als zu übermittelndes kulturelles Erbe aufzufassen. 5. Erinnerungen sind ein Geschenk Erinnerungen können nicht immer identisch erzählt werden, sie entstehen in Gesprächen immer wieder neu. Dieser Grund, Erinnerungen zu pflegen, kommt geistig behinderten Menschen nach meinen Erfahrungen besonders entgegen, weil es sie von dem Druck befreit, etwas richtig machen bzw. „objektive Wahrheiten“ liefern zu müssen. 6. Erinnerungspflege stärkt Identität und Selbstachtung Wer einen Rückblick in die Vergangenheit wagt und sich mit den Ereignissen des bisherigen Lebens auseinandersetzt, kann aus den geschafften Dingen und Erlebnissen Selbstvertrauen schöpfen. Diese Funktion der Erinnerungspflege muss für Menschen mit geistiger Behinderung besonders hervorgehoben werden. Sie setzt allerdings voraus, dass das Wissen um die geschafften Dinge und Erlebnisse mit den Menschen zusammen bewahrt wurde, was bei wechselndem Personal in Wohneinrichtungen nicht immer gegeben ist. Umso wichtiger ist es, mit der Biografiearbeit bereits im jungen Erwachsenenalter zu beginnen. 7. Erinnerungspflege hilft bei der Lebensrückschau Alte Menschen „wissen“ um den nahenden Tod. Daher haben sie oft das Verlangen, in ihrem gelebten Leben einen Sinn zu finden. Obwohl Themen wie „Sterben“ und „Tod“ häufig außerhalb des Vorstellungsvermögens geistig behinderter Menschen zu liegen scheinen, brauchen sie ebenfalls Hilfe dabei, durch eine bilanzierende Lebensrückschau Sinn in ihrem gelebten Leben zu finden. 8. Erinnerungspflege öffnet eine Bühne Durch das Erzählen vergangener Ereignisse gelangt jeder Mensch für einen gewissen Zeitraum in den Mittelpunkt. Hier bestimmt er, was er erzählen, auf die „Bühne“ bringen möchte und was nicht. Wie neu und wohltuend diese Erfahrung insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung ist, wissen wir aus der biografischen Gruppen- und Einzelarbeit mit Menschen im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter. Für alte Menschen mit geistiger Behinderung, die nicht mit Selbstbestimmung, Gleichstellung und Teilhabe aufgewachsenen sind, sind diese Erfahrungen aus der Biografiearbeit oft die ersten Erfahrungen dieser Art in ihrem Leben. 9. Erinnerungen öffnen ein Fenster aus dem Pflegealltag Das Pflegepersonal in Einrichtungen vergisst oft, welche Geschichten es mit den alten und kranken Menschen teilt. Wenn gemeinsam VHN 2/ 2011 109 Biografiearbeit eine Rückschau in die Vergangenheit vorgenommen wird, ergeben sich Freiräume, und es können neue Kräfte gesammelt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für das Personal in der Geistigbehindertenhilfe, das oft auf eine gemeinsame Lebens- und Betreuungsgeschichte zurückblicken kann und diese Erinnerungen (z. B. an einen Urlaub) auch aus eigenem Interesse zusammen mit den alten Menschen mit geistiger Behinderung pflegen sollte. 10. Erinnern macht Spaß Eine Reise in die Vergangenheit ist zwar nicht immer mit Spaß verbunden; sie kann aber trotzdem zahlreiche Anlässe zum Lachen und Wohlfühlen bieten. Auch in der Biografiearbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung werden häufig „starke“, meist positive Gefühle geweckt. Dementsprechend hoch ist der „Spaßfaktor“ dieser Veranstaltungen. Kommen negative Gefühle auf, muss von den Moderatoren sorgfältig abgewogen werden, ob sie den Umgang mit diesen Emotionen selbst bewältigen können oder an psychotherapeutische Spezialisten delegieren müssen. 7 Schlussgedanken - Biografiearbeit als Identitätsarbeit Zum Schluss möchte ich die Aufmerksamkeit noch einmal auf ein Gedicht von Georg Paulmichl lenken, das die enge Verbindung von Ich- Identität bzw. Identitätsentwicklung und Biografischem verdeutlicht. Es ist im Internet auf der Homepage von Georg Paulmichl (www. georgpaulmichl.com) unter der Rubrik Lebenslauf zu finden und hat den Titel „Ich“. Ich Ich bin ein richtiger Mensch. Am Anfang habe ich die Geburt überstanden. Mein Stammsitz ist hier in Prad. Neger bin ich keiner, weil ich zur Künstlerrasse gehöre. Heikel bin ich gar nicht, ich verspeise alle Eßsorten. Manchmal bin ich ein Sättigungsmolch. Mein Bauch wächst im Umfang. Lehrer haben mich das Fürchten gelernt. Für Streitvorwürfe habe ich keine Zeit. Geboren und gestorben bin ich noch nicht. Wenn „Biografiearbeit“ im Wesentlichen „Identitätsarbeit“ ist, dann sollte eine Geragogik bei geistigen Behinderungen in erster Linie auf einer biografischen Erziehungsbzw. Handlungstheorie basieren, in der die persönlichen Lebens- und Sinnerfahrungen einen zentralen Bezugspunkt des Denkens und Handelns bilden. Nur ein solcher „verstehender“ Zugang zu einer Person in ihrer „Gewordenheit“ lässt vielleicht erahnen, was Paulmichl damit meint, wenn er in ein und demselben Gedicht schreibt, dass er am Anfang die Geburt überstanden hat und noch nicht geboren und gestorben ist. Anmerkung 1 Wir führten deshalb an der Universität Koblenz- Landau, Campus Landau, von 2008 bis 2009 ein Projekt zur stellvertretenden Biografiearbeit mit Eltern schwerstbehinderter Kinder durch, dessen Ergebnisse derzeit ausgewertet werden. Ziel dieses Projektes war es, durch stellvertretende Biografiearbeit (z. B. durch das Erstellen von Ich- oder Kommunikationsbüchern) bei Eltern Lernprozesse der Aneignung der gemeinsamen Lebensgeschichte mit dem schwer und mehrfach behinderten Kind zu initiieren und dadurch Empowermentprozesse auszulösen, die die Eltern in ihrem Umgang mit Fachleuten bestärken. Literatur Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (2007): Altwerden von Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Diskussionspapier des Fachausschusses Wohnen, erarbeitet in Kooperation mit dem Fachausschuss Offene Hilfen der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Marburg: Lebenshilfe-Verlag Havemann, M.; Stöppler, R. (2004): Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation. Stuttgart: Kohlhammer Kade, S. (2000): Volkshochschulen. In: Becker, S.; Veelken, L.; Wallraven, K. P. (Hrsg.): Handbuch Altenbildung. Theorien und Konzepte für Ge- VHN 2/ 2011 110 Christian Lindmeier genwart und Zukunft. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 173 - 184 Lindmeier, C. (2008): Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Ein Praxisbuch für Einzel- und Gruppenarbeit. 3. Aufl. Weinheim: Juventa Loch, W. (1979): Lebenslauf und Erziehung. Essen: Neue deutsche Schule Verlagsgesellschaft Loch, W. (1999): Der Lebenslauf als anthropologischer Grundbegriff einer biografischen Erziehungstheorie. In: Krüger, H.-H. (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 69 - 88 Maciejewski, B.; Sowinski, C.; Besselmann, K.; Rückert, W. (Hrsg.) (2001): Qualitätshandbuch Leben mit Demenz. Zugänge finden und erhalten in der Förderung, Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz und psychischen Veränderungen. Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe Opitz, H. (1998): Biografie-Arbeit im Alter. Würzburg: Ergon Osborn, C.; Schweitzer, P.; Trilling, A. (1998): Erinnern. Eine Anleitung zur Biografiearbeit mit alten Menschen. Freiburg i. Br.: Lambertus Paulmichl, G. (1990): Verkürzte Landschaft. Texte und Bilder. Innsbruck: Haymon Ryan, T.; Walker, R. (2004): Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen. 3. Aufl. Weinheim: Juventa Schulze, T. (1993 a): Biografisch orientierte Pädagogik. In: Baacke, D.; Schulze, T.: Aus Geschichten lernen: zur Einübung pädagogischen Verstehens. Weinheim: Juventa, 13 - 40 Schulze, T. (1993 b): Lebenslauf und Lebensgeschichte. In: Baacke, D.; Schulze, T.: Aus Geschichten lernen: zur Einübung pädagogischen Verstehens. Weinheim: Juventa, 174 - 226 Trilling, A.; Bruce, E.; Hodgson, S.; Schweitzer, P. (2001): Erinnerungen pflegen. Unterstützung und Entlastung für Pflegende und Menschen mit Demenz. Hannover: Vincentz Vogt, A. (1996): Das Leben in die eigene Hand nehmen - Biografisches Lernen als gezielte Arbeit am eigenen Lebenslauf. In: Schulz, W. (Hrsg.): Lebensgeschichten und Lernwege: Anregungen und Reflexionen zu biografischen Lernprozessen. Baltmannsweiler: Schneider, 37 - 56 Weber, E. (1996): Pädagogik. Eine Einführung. Bd. I: Grundfragen und Grundbegriffe. Teil 2: Ontogenetische (entwicklungspsychologische und lebensgeschichtliche) Voraussetzungen der Erziehung - Notwendigkeit und Möglichkeit der Erziehung. 8., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl. Donauwörth: Auer Wieland, H. (1991): Die Zuspitzung einer lebenslangen Benachteiligung. In: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.): Geistig Behinderte im Alter. Auf der Suche nach geeigneten Wohn- und Betreuungsformen. Köln: Rheinland Verlag, 9 - 18 Prof. Dr. Christian Lindmeier Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Xylanderstr. 1 D-76829 Landau E-Mail: lindmeier@uni-landau.de
