Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Biografisches (Wieder-)Entdecken formellen Lernens - Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung
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Anne-Kristin Bindl
Marc Thielen
Etwa vier Millionen Erwachsene gelten in Deutschland als funktionale Analphabeten. Sie können nicht hinreichend lesen und schreiben, obwohl sie das Schulsystem durchlaufen haben. Viele von ihnen haben Haupt- und Förderschulen besucht und nur einen unteren oder gar keinen Schulabschluss erreicht. Der Beitrag untersucht biografische Impulsgeber, die Menschen mit ungünstigen Schul- und Lernbiografien im Erwachsenenalter dazu veranlassen, noch einmal mit dem Lesen- und Schreibenlernen zu beginnen. Hierzu werden Ergebnisse einer Befragung von aktuellen und ehemaligen Teilnehmenden von Lese- und Schreibkursen vorgestellt. Deren subjektive Lernimpulse werden in pädagogischen Spannungsverhältnissen beschrieben, die für die pädagogische Arbeit mit bildungsbenachteiligten Erwachsenen bedeutsam sind.
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Fachbeitrag 215 VHN, 80. Jg., S. 215 - 225 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art15d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Biografisches (Wieder-)Entdecken formellen Lernens - Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung Anne-Kristin Bindl, Marc Thielen Goethe-Universität Frankfurt am Main n Zusammenfassung: Etwa vier Millionen Erwachsene gelten in Deutschland als „funktionale Analphabeten“. Sie können nicht hinreichend lesen und schreiben, obwohl sie das Schulsystem durchlaufen haben. Viele von ihnen haben Haupt- und Förderschulen besucht und nur einen unteren oder gar keinen Schulabschluss erreicht. Der Beitrag untersucht biografische Impulsgeber, die Menschen mit ungünstigen Schul- und Lernbiografien im Erwachsenenalter dazu veranlassen, noch einmal mit dem Lesen- und Schreibenlernen zu beginnen. Hierzu werden Ergebnisse einer Befragung von aktuellen und ehemaligen Teilnehmenden von Lese- und Schreibkursen vorgestellt. Deren subjektive Lernimpulse werden in pädagogischen Spannungsverhältnissen beschrieben, die für die pädagogische Arbeit mit bildungsbenachteiligten Erwachsenen bedeutsam sind. Schlüsselbegriffe: Sonderpädagogische Erwachsenenbildung, lebenslanges Lernen, Grundbildung, Teilnehmerorientierung, soziale Benachteiligung (Re-)Discovering Formal Learning - Decision-Making Processes of Adults Calling Upon Basic Education n Summary: In Germany, about four million adults are considered to be “functionally illiterate”. They cannot read and write adequately although they have completed their basic school career. Many of them have attended primary and special schools achieving only a low or no qualification at all. Quite a number of grown-ups with unfavourable experiences during their school career take up reading and writing lessons at the adult age to acquire appropriate skills. Their biographic motivations are explored and the results of the interviews with current and former participants of reading and writing courses are presented. The authors refer to the personal inducement to learn in relation to the pedagogic context that is important for the work with educationally disadvantaged adults. Keywords: Adult education in special needs education, lifelong learning, basic education, social disadvantage 1 Ausgangslage Die Diskurse um das Lernen Erwachsener beziehen sich in der Regel auf das Feld der Fort- und Weiterbildung, in dem davon ausgegangen wird, dass die Lernenden bereits über basale Wissensbestände und Lerntechniken verfügen. Dass sich lebenslanges Lernen ebenso auf Fertigkeiten beziehen kann, wie sie üblicherweise bereits im Kindesalter erworben werden, gerät erst in den letzten Jahren ins öffentliche Bewusstsein. In den Debatten um Alphabetisierung wird für Deutschland die Zahl der Erwachsenen, die nicht genügend lesen und schreiben können, um hinreichend an einer schriftdominierten Gesellschaft zu partizipieren, auf vier Millionen geschätzt. Auch international vergleichende Schulleistungsstudien verweisen auf eine quantitativ nicht zu unterschätzende Risikogruppe, die im Lesen und Schreiben nicht einmal die untersten Kompetenzstufen erreicht. Obwohl das Problem des sogenannten „funktionalen Analphabetismus“ seit Ende der 1970er Jahre bekannt ist und sich eine umfassende Alphabetisierungspraxis etabliert hat, VHN 3/ 2011 216 Anne-Kristin Bindl, Marc Thielen scheint sich die Gruppe von nur unzureichend alphabetisierten Menschen, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben, nicht spürbar zu verkleinern. Diesen Eindruck vermittelt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der UN-Alphabetisierungsdekade geförderte Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Alphabetisierung, dessen erklärtes Ziel eine spürbare Verringerung der Anzahl sogenannter „funktionaler Analphabeten“ ist, indem diese besser als bislang zum Besuch von Lese- und Schreibkursen motiviert werden sollen. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive scheint es jedoch fraglich, ob das alleinige Angebot an Kursen ausschlaggebend dafür ist, dass Menschen dieses tatsächlich auch wahrnehmen und sich aktiv aneignen. Studien zu Teilnehmenden an Lese- und Schreibkursen zeigen, dass diese oftmals aus bildungsfernen Milieus stammen, auf prekäre Schulbiografien zurückblicken und die eigenen Lernfähigkeiten als äußerst gering einschätzen. Insofern ist es keineswegs selbstverständlich, dass sich diese Personen als Erwachsene noch einmal freiwillig in formale Lernsettings begeben. Hierzu bedarf es offensichtlich überzeugender subjektiver Anlässe. Ausgehend von der Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen zur Kursteilnahme entfaltet der vorliegende Beitrag die These, dass es spezifische biografische Konstellationen sind, die Menschen zum (Wieder-)Lernen in formalen Settings bewegen. Einführend wird zunächst der Diskurs um Literalität und Grundbildung skizziert. In einem zweiten Schritt wird Grundbildung im Umfeld von lebenslangem Lernen und Biografie verortet. Im dritten Abschnitt rekonstruieren wir biografische Impulsgeber zur Inanspruchnahme von Grundbildungskursen und beleuchten daran anknüpfend mögliche Widerstände gegenüber solchen Bildungsangeboten. Die Relevanz der Untersuchung für die erwachsenbildnerische Arbeit ist Gegenstand eines abschließenden Fazits. 2 Lesen- und Schreibenlernen im Erwachsenenalter - ein Einblick in den Diskurs um Literalität und Grundbildung Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten werden üblicherweise als „funktionale Analphabeten“ bezeichnet. Sie verfügen zwar über gewisse Schriftsprachkenntnisse, sind jedoch im Umgang mit Schrift unsicher, sodass sie alltägliche schriftsprachliche Anforderungen nicht oder nur bedingt erfüllen können (vgl. Egloff 2006). Untersuchungen verweisen auf ein Zusammenwirken von unterschiedlichen kulturellen, sozialen, schulischen und individuellen Faktoren, durch die Probleme im Lesen- und Schreibenlernen entstehen können (vgl. Linde 2007). Die Bezeichnung des „funktionalen Analphabeten“ wird zunehmend kritisiert, da sie suggeriert, es gäbe eine homogene Gruppe von Menschen mit klar definierbaren Defiziten im Lesen und Schreiben. In der Abkehr von der einseitigen und defizitorientierten Fokussierung auf mangelnde Schriftsprachkenntnisse wird inzwischen das im angelsächsischen Raum generierte Konzept der Literalität („Literacy“) bevorzugt. Dieses beschreibt ein über das Lesen und Schreiben hinausgehendes Set an Grundqualifikationen und betont zugleich „dass alle Menschen bis zu einem bestimmten Grad mit symbolisch verschlüsselter Information umgehen können und dass daher kein eindeutiger Mindeststandard für Literalität gesetzt werden kann“ (Linde 2008, 56). Literalität beschreibt die Verwendung von gedruckten und geschriebenen Informationen, um in der Gesellschaft zurechtzukommen, eigene Ziele zu erreichen und eigenes Wissen sowie die individuellen Möglichkeiten zu entwickeln (vgl. Linde 2007, 94). Im Zentrum der Überlegungen stehen damit weniger kognitive und technisch-funktionale Aspekte, wie sie im Konzept des „funktionalen Analphabetismus“ eine Rolle spielen. Demgegenüber wird Literalität umfassend als eine im sozialen Kontext verortete Praxis verstanden. Berücksichtigt werden VHN 3/ 2011 217 Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung also nicht isoliert zu bestimmende und vermeintlich objektiv messbare Kompetenzdefizite im Lesen und Schreiben. Vielmehr wird Literalität im Kontext der Lebensbereiche betrachtet, in denen Menschen als Individuen in Gesellschaft, Familie oder am Arbeitsplatz handeln. Aus diesem Blickwinkel rücken die verschiedenen möglichen Formen und Ausprägungen von Literalität in den Vordergrund. Entscheidend ist, wie die Subjekte Gebrauch von Literalität machen, und demnach die individuelle Bedeutsamkeit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit (vgl. Linde/ Schladebach 2007). In der pädagogischen Praxis schlägt sich der fachwissenschaftliche Diskurswandel in der Abkehr vom Begriff der Alphabetisierung nieder, der zunehmend durch die Bezeichnung Grundbildung ersetzt wird. Mit dieser sollen die komplexen Lernanforderungen begrifflich hervorgehoben werden, die sich aus dem beschriebenen Verständnis von Literalität ableiten lassen. Wenngleich ein großer Teil von Grundbildung über Lesen und Schreiben erworben wird, umfasst Lesen- und Schreibenlernen nur einen Aspekt der Lernangebote. Da nicht lediglich ein isolierter Zuwachs an Lese- und Schreibkompetenz, sondern die Bewältigung des vielfach erschwerten Alltags als oberstes Ziel von Grundbildung verstanden wird, beziehen sich Lernangebote auch auf Alltagsrechnen, den Umgang mit modernen Kommunikations- und Informationsmitteln, die politische Basisbildung sowie die sogenannten Schlüsselqualifikationen (vgl. Scholz 2004). In Anbetracht der postulierten Alltagsorientierung sind die Kursinhalte in erster Linie auf die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmenden abzustimmen. Dies setzt fundierte Kenntnisse über deren Lebenswelten und Lebenslagen voraus (vgl. Wagner 2008). Ohne eine hinreichende Passung zwischen Lernangeboten und Lebenslagen kann die mit dem Kursangebot intendierte Integration des Gelernten in den Alltag nur schwerlich erfolgen. In diesem Zusammenhang ist unseres Erachtens eine biografische Betrachtungsweise zu bevorzugen. 3 Die Verortung von Grundbildung in den Diskursen um lebenslanges Lernen und Biografie In den Diskursen um das Lernen Erwachsener genießt die Kategorie des lebenslangen Lernens einen hohen Stellenwert (vgl. Hof 2009). Während die Notwendigkeit lebensbegleitenden Lernens unbestritten ist, wird der Diskurs um lebenslanges Lernen als ambivalent bewertet. Neben einer positiv-affirmativen Perspektive, welche die Möglichkeit von Lernprozessen für bildungsbenachteiligte Bevölkerungsschichten ebenso betont wie die Chancen zum Wiederanknüpfen und Neubeginn im Lernen, verweisen Kade und Seitter (1996, 15) auf problematische Aspekte. Ihrer Einschätzung nach ist die Aufforderung zum permanenten Lernen mit entmündigenden Effekten verbunden, gründet sie doch in der Logik einer lebenslänglichen Anpassung an wirtschaftlich-gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Alheit (2009) spricht gar von einer „Diskurspolitik“ lebenslangen Lernens und kritisiert, dass in Bezug auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen nicht mehr von Bildungs-, sondern nur noch von Arbeitsmarktchancen die Rede ist. Das Problem unzureichender Lese- und Schreibkompetenzen stellt eine Provokation für eine Gesellschaft dar, die lebenslanges Lernen propagiert und sich als eine Wissensbzw. Lerngesellschaft versteht. Entsprechend herrscht in den Debatten um Alphabetisierung die Idee vor, die Quote unzureichend gebildeter Menschen durch programmatische Strategien spürbar reduzieren zu können: Vermehrte und öffentlichkeitswirksame Werbung für Lese- und Schreibkurse, Telefonberatung, Sensibilisierung potenzieller Multiplikatoren, die Betroffene auf Kurse hinweisen, Bereitstellung virtueller Lernportale im Internet, Entwicklung neuer didaktischer Materialien - all dies sind Strategien zur „Prävention und Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus“ (vgl. BMBF 2010). Das beschriebene Vorhaben könnte kritisch gesehen den Druck auf bil- VHN 3/ 2011 218 Anne-Kristin Bindl, Marc Thielen dungsbenachteiligte Menschen erhöhen, nun endlich etwas gegen ihre Schwierigkeiten zu tun. Die Folge wäre ein verstärkter Legitimationszwang, der in der Frage gründet, weshalb die Betroffenen nicht ihrer mit dem lebenslangen Lernen einhergehenden individuellen Bringschuld nachkommen (vgl. Schmidt-Lauff 2008, 381). In unseren Überlegungen möchten wir die Fragestellung in provokanter Weise „umdrehen“ und fragen, was Menschen, die in ihrer bisherigen Bildungsbiografie offenbar wenig von formalen Lernangeboten profitieren konnten, dazu veranlassen sollte, einen erneuten Versuch zu unternehmen, (besser) lesen und schreiben zu lernen. Damit richten wir unseren Fokus auf die Perspektive der Lernenden selbst, wie sie im Zentrum der Teilnehmerorientierung steht. Diese verweist auf mögliche Diskrepanzen zwischen der Institution und der subjektiven Aneignung (vgl. Arnold 1985). Mit dem Lernen einhergehende Veränderungen und Transformationen finden statt, wenn die Lernenden diese als subjektiv bedeutsam erfahren (vgl. Mikula 2008). In Anbetracht der im Gegensatz zum schulischen Lernen in der Regel freiwilligen Teilnahme an Erwachsenenbildung beleuchtet die Aneignungsperspektive die Motive, Erwartungen und Vorerfahrungen der Teilnehmer/ innen (vgl. Seitter 2003, 13). Uns interessieren vornehmlich die biografischen Komponenten, welche die Teilnahme an Lese- und Schreibkursen begünstigen. Wir betrachten daher die Lernmotivation von Kursteilnehmer/ innen im Kontext ihrer Biografien. Ähnlich wie soziale Dienstleistungen für die Nutzer/ innen nur dann hilfreich sein können, wenn sie an deren biografische Wissensressourcen anschließen (vgl. Hanses 2005), werden auch Lernentscheidungen im Zusammenhang mit dem biografischen Wissen der Lernenden betrachtet. Angesprochen ist damit das Konzept der „Biographizität“ (Alheit 1993), das die Fähigkeit beschreibt, neue Erfahrungen an bereits gemachte Erfahrungen anzuschließen, um mit den Herausforderungen einer modernen Gesellschaft umzugehen. Biografie- und lerntheoretischen Verknüpfungen folgend, gelingt die Aneignung institutioneller Lernangebote insbesondere dann, wenn diese Anschluss an die individuellen biografischen Lernprozesse des Subjekts finden (vgl. von Felden 2008). 4 Biografische Impulsgeber für die Wahrnehmung von Grundbildungsangeboten Lernanfänge erweisen sich als komplexe und ambivalente Geschehnisse, die von bestimmten Voraussetzungen ausgehen und deren Bedeutung sich oftmals erst im Rückblick erschließt (vgl. Meyer-Drawe 2005, 31). Die nun folgenden Überlegungen zu biografischen Lernanlässen entstammen einer Studie, in der wir teilstandardisierte Interviews mit 22 Frauen und 22 Männern geführt haben, die einen Lese- und Schreibkurs in einer Volkshochschule besuchen oder besucht haben (vgl. Bindl u. a. 2011) 1 . Die Auswahl der Befragten ergab sich über die Teilnahme der Forschenden an Kursen sowie durch die Vermittlung von Kursleiterinnen. In einem offenen Interviewteil wurden die Interviewten gebeten zu erzählen, wie es dazu kam, dass sie sich für einen Lese- und Schreibkurs eingeschrieben haben 2 . Aus den Interviews haben wir vier idealtypische Kategorien herausgearbeitet, Impulsgeber Männer Frauen Gesamt 1. Arbeitsplatz 2. Biografische Akteure 3. Biografische Übergänge 4. Alltagswelt 34 132 417 10 75 20 12 Tabelle 1: Biografische Impulsgeber VHN 3/ 2011 219 Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung in denen sich spezifische biografische Impulsgeber zum Aufsuchen eines Grundbildungsangebotes abbilden. Die von uns vorgenommene Zuordnung der Interviews (vgl. Tabelle 1) beschreibt jeweils den in der Erzählung deutlich werdenden dominanten Impulsgeber. Tatsächlich waren in vielen Fällen jedoch unterschiedliche Aspekte bedeutsam. 4.1 Impulsgeber Arbeitsplatz Studien zur Situation von Menschen mit wenig Grundbildung im Beschäftigungssystem verweisen auf den hohen Druck, der angesichts struktureller Veränderungen in der Arbeitswelt auf ihnen laste (vgl. Döbert/ Hubertus 2000, 67; Husfeldt 2001, 11). Auch in den von uns erhobenen Interviews spielt der Lebensbereich Arbeit eine zentrale Rolle. Einige Befragte wollen ihr derzeitiges Ausbildungs- und Arbeitsverhältnis mit dem im Lese- und Schreibkurs intendierten Wissenszuwachs sichern. So berichtet ein Auszubildender, dass an seinem Arbeitsplatz Lesen und Schreiben in einem Maße gefordert sei, wie es in der von ihm besuchten Förderschule nicht vermittelt wurde. Seine Kenntnisse erschienen ihm daher nicht ausreichend, um den Anforderungen der Berufsausbildung zu genügen. Andere Interviewte benennen die Bewältigung wachsender oder sich verändernder Anforderungen in der Arbeit als Grund für den Kursbesuch. Eine Kursteilnehmerin berichtet vom Wechsel in eine andere Abteilung infolge von Umstrukturierungen im Betrieb. In der neuen Abteilung kommt dem Schreiben eine höhere Bedeutung zu. Ihren neuen Vorgesetzten hat sie offen über ihre Schwierigkeiten informiert. Dieser empfahl ihr den Grundbildungskurs, damit sie ihre Arbeit unabhängig von ihren Kollegen verrichten kann. Ein weiterer biografischer Impulsgeber zielt auf die Sicherung des Ansehens im Kollegenkreis. Eine Bankangestellte berichtet in ihrem Interview von einer Kollegin, die eine Karte aus dem Urlaub fehlerhaft geschrieben hatte, mit der Konsequenz, dass in der Filiale schlecht über sie geredet wurde. Die Befürchtung der Interviewten, selbst Opfer übler Nachrede zu werden, begünstigte die Entscheidung zum Kursbesuch. 4.2 Impulsgeber biografische Akteure Lernen ist grundsätzlich an Sozialität gebunden und auf Kommunikation und Interaktion mit anderen angewiesen. Dieser soziale Aspekt von Lernen ist unserer Analyse nach auch bereits im Zuge von Lernentscheidungen bedeutsam. Eine zweite Kategorie fokussiert bedeutsame biografische Akteure, die als Impulsgeber das Interesse an einem Grundbildungsangebot initiiert oder begünstigt haben. Ein Interviewter rekonstruiert als biografischen Kontext die Beziehung zu einer Frau, die er als „sehr belesen“ und damit gebildet charakterisiert. Obwohl die Partnerin seine Probleme im Lesen und Schreiben akzeptiert hat, wuchs in ihm das Bedürfnis, sein Lesen und Schreiben weiterzuentwickeln. Während diese im Interview genannte Bezugsperson nur indirekt zum Kursbesuch motiviert hat, nahmen in anderen Fällen Personen aus dem nahen Umfeld direkten Einfluss auf die Entscheidung zum Kursbesuch. Sei es, dass signifikante Andere selbst einen Kurs besuchten oder dass sie die Befragten mehr oder weniger massiv dazu aufforderten, etwas gegen ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten zu tun. Das Interesse am Lesen- und Schreibenlernen kann zudem auch dadurch begünstigt werden, dass sich Befragte von biografisch bedeutsamen Anderen emanzipieren möchten. Ein Befragter berichtet über die Abhängigkeit von seiner Mutter, die ihm sogar bei der Formulierung von Kontaktanzeigen behilflich sein musste, was er im Nachhinein „gar nicht so lustig“ fand. Auch der Verlust von Bezugspersonen begünstigt in einigen Fällen das Aufsuchen von Grundbildungsangeboten. Ein 73-jähriger Interviewter benennt in diesem Zusammenhang den Tod seiner Frau, die alle Aufgaben wahrgenommen hatte, die mit Lesen und Schreiben zu tun hatten, während er nicht einmal wusste, „wie eine Waschmaschine funktioniert“. VHN 3/ 2011 220 Anne-Kristin Bindl, Marc Thielen 4.3 Impulsgeber biografische Übergänge Eine dritte Gruppe von Interviewten rekonstruiert die Entscheidung zum Kursbesuch im Zusammenhang mit einer biografischen Übergangssituation, die mit Hilfe des Bildungsangebots bewältigt werden sollte. Sackmann und Wingens (2001, 19) beschreiben Übergänge in Anlehnung an G. H. Elder als Zustandsveränderungen im Lebenslauf, die in der Regel prozesshaft erfolgen und mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen. Übergänge werden demnach als komplexe und anspruchsvolle Veränderungen betrachtet, die das Subjekt mit neuen biografischen Herausforderungen konfrontieren. Vor diesem Hintergrund haben wir Impulsgeber von Interviewten mit einbezogen, die sich im Zuge des Kurseintritts auf einen Übergang vorbereiteten, sich zum Zeitpunkt der Entscheidung in einem Übergang befanden oder den Wechsel bereits vollzogen hatten und den Kurs dazu nutzten, sich in der neuen Lebenssituation zurechtzufinden. Eine in den Interviews häufig genannte Phase bildet der Übergang von der Arbeitslosigkeit in ein Arbeitsverhältnis. Die Personen, die diesen (angestrebten) Statuswechsel als Impulsgeber für den Kursbesuch nannten, wollten ihre Chancen für den Eintritt beziehungsweise Wiedereintritt ins Erwerbsleben erhöhen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Menschen, die arbeitslos geworden waren und denen teilweise Grundbildungskurse von der Arbeitsagentur empfohlen worden waren oder die selbst in einem Ein-Euro-Job feststellten, dass sie ihre jeweiligen Lese- und Schreibkompetenzen verbessern müssten, um in ihrer angestrebten Tätigkeit bestehen zu können. Dementsprechend erzählt ein Interviewter, dem es nach einer langen Pause gelungen ist, im Zuge eines Ein-Euro- Jobs in einem Behindertenwohnheim erwerbstätig zu werden, dass dort Lesen und Schreiben dazugehöre und er „alles mache, um eventuell in den Beruf reinzukommen“. Ebenfalls eng verknüpft mit der Arbeit sind die Beweggründe zum Lesen- und Schreibenlernen bei Befragten, die eine Umschulung oder eine betriebliche Weiterbildung aufgenommen haben. Ein Interviewter strebt eine Weiterbildung zum Meister an. Bereits vor Beginn der Ausbildung war er bemüht, durch den Kursbesuch seine Lese- und Schreibfähigkeiten zu verbessern. Andere Interviewte suchen nach einem neuen Sinn nach abgeschlossenen Lebensaufgaben. Solche Übergangssituationen resultieren beispielsweise aus dem Ende der aktiven Kindererziehung, dem Ausscheiden aus der Berufstätigkeit, dem Auszug aus dem Elternhaus sowie aus Schul-, Berufs- oder sonstigen Abschlüssen. Einige Interviewte überlegten auch bereits im Vorfeld solcher zumeist absehbarer biografischer Veränderungen, wie sie die zu erwartende verfügbare Zeit sinnvoll nutzen könnten. Weiterbildung in Form eines Lese- und Schreibkurses erwies sich für die Befragten als eine mögliche Option. In anderen Interviews steht die Entscheidung zum Kursbesuch im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen als einer spezifischen Form von Übergängen. In diesen Erzählpassagen wird von der Überwindung existenzieller Lebenskrisen wie Alkoholsucht, schwerer Unfälle, Krebs oder anderer Erkrankungen berichtet. Der Kurseintritt findet in einer biografischen Phase statt, in der das Leben neu geordnet wird. 4.4 Impulsgeber Alltagswelt Als letzte hier vorgestellte Kategorie kristallisierten sich aus den Erzählungen Anforderungen in der Alltagswelt heraus, die jenseits von Erwerbsarbeit zu verorten sind. Diesbezüglich verweist unser Sample auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Insbesondere bei Frauen, deren Biografien weniger eng als bei Männern an Erwerbsarbeit orientiert sind, spielt diese Kategorie eine zentrale Rolle. Da Frauen nach wie vor die Hauptverantwortung im Bereich der Familienarbeit tragen, verwundert es nicht, dass ausschließlich weibliche Interviewte die Förderung der eigenen Kinder - insbesondere im Hinblick auf den Schuleintritt - als einen VHN 3/ 2011 221 Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung wesentlichen Anreiz zur Verbesserung der eigenen schriftsprachlichen Kompetenzen und damit zum Kursbesuch benennen. Andere Interviewte nehmen Grundbildung in Anspruch, um im Alltag an schriftsprachlicher Kommunikation teilhaben zu können. Sie möchten in behördlichen Angelegenheiten, aber auch im privaten Umfeld angemessen schriftsprachlich handeln können. Eine Interviewte berichtet beispielsweise von ihrem Wunsch, über den Computer zu kommunizieren. Diese Interviews zeigen, dass Schriftsprache gerade auch für modernere Kommunikationsformen wie E-Mail und Chat oder Kurznachrichten über das Mobiltelefon („SMS“) eingesetzt werden soll. Ebenfalls der Kategorie Lebensweltbezug zuzuordnen sind Interviews von Nutzer/ innen, die durch den Kursbesuch ihre Freizeit (mit) gestalten. Kade und Seitter (1996) stellen fest, dass Erwachsenenbildung neben Bildungsmotiven auch Tätigkeits-, Stabilitäts- und Gemeinschaftsmotive befriedigen kann, die an freizeit- und alltagsbezogenen Kriterien wie Vergnügen und Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens abseits von Defizitannahmen und Veränderungsnotwendigkeiten orientiert sind. In den Interviews, die wir dieser Kategorie zugeordnet haben, werden keine spezifischen Impulsgeber genannt. Stattdessen nutzen die Befragten Zeitkapazitäten und Gelegenheiten zum Kursbesuch. In einzelnen Interviews erscheint das Bildungsangebot als eine willkommene Abwechslung im Alltag, welche die Teilnehmenden mit Genuss in Anspruch nehmen. Der Kurs erscheint weniger als Lernarrangement denn als eine regelmäßig stattfindende Freizeitbeschäftigung, der kein konkreter Verwendungszusammenhang zugeschrieben wird. 5 Pädagogische Spannungsverhältnisse in den Lernimpulsen der Teilnehmer/ innen Nachdem wir zunächst die biografischen Rahmenbedingungen rekonstruiert haben, in denen sich die Entscheidungen zum Kursbesuch konstituieren, betrachten wir nun grundlegende pädagogische Spannungsverhältnisse, die sich in den Lernbegründungen der Interviewten widerspiegeln und die auf sehr unterschiedliche subjektive Nutzungsstrategien verweisen 3 . 5.1 Eigeninitiative und fremdbestimmte Lernimpulse In einem ersten Schritt lassen sich Lernimpulse zwischen den Polen Eigeninitiative und Fremdbestimmung verorten (vgl. Egloff 1997, 165). Im Fall des eigeninitiativen Lernens sieht der/ die Lernende selbst einen subjektiven Sinn im Lernen und erhofft sich einen konkreten Nutzen von der Lernanstrengung. In dem von uns untersuchten Sample deutet sich eine solche Lernmotivation in Aussagen an, in denen bereits für die Zeit vor dem Kursbesuch von Suchprozessen berichtet wird, die der subjektiven Überzeugung entsprangen, dass die eigenen Fertigkeiten verbesserungsbedürftig seien. In diesen Fällen ist eine persönliche Einsicht in die Notwendigkeit zum Lernen gewachsen. Jene Interviewten benennen in der Regel konkrete Ziele, die sie mit dem Kursbesuch verfolgen, und reflektieren diesen im Hinblick auf das Erreichen der angestrebten Ziele. In anderen Interviews erscheint die Entscheidung für den Kursbesuch hingegen als fremdbestimmt. Es deutet sich ein Druck vonseiten der sozialen Umwelt an, einen Lese- und Schreibkurs zu besuchen. Nicht Erfahrungen von eigenen Problemen stehen im Fokus der Erzählungen, sondern die Reaktionen von signifikanten Anderen. Verwandte und Bekannte, aber auch Berater der Arbeitsagenturen erscheinen als Akteure, welche die Entscheidung zum Kursbesuch initiiert haben: „Die haben gesagt, ich müsste mal was machen.“ „Die haben mich dann dorthin vermittelt“ sind typische Aussagen in den Interviews. Über eigene, bereits zuvor getroffene Überlegungen, einen Kurs zu besuchen, wird in der Regel nichts gesagt. Wenn in diesen Interviews überhaupt Ziele genannt werden, die mit dem Lernen verbunden sind, so VHN 3/ 2011 222 Anne-Kristin Bindl, Marc Thielen sind diese meist sehr allgemein gehalten und kaum auf konkrete Lebenssituationen bezogen. 5.2 Defensive und expansive Lernimpulse Ein zweites Spannungsverhältnis fokussiert die emotionale Grundhaltung in Bezug auf die Entscheidung zum Kursbesuch. Bei einigen Interviewten erweist sich der Eintritt in den Kurs als ein defensives Geschehen, als Reaktion auf eine als unbefriedigend, wenn nicht gar belastend empfundene Lebenssituation. Durch die Lernsituation sollen also Benachteiligungen oder Bedrohungen im Leben abgewendet werden (vgl. Holzkamp 1995, 190ff ). Die biografische Konstellation ist durch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Leidensdruck bzw. durch eine innere Not geprägt. Ein typisches Gefühl in diesem Zusammenhang ist Angst. Betroffene befürchten etwa, infolge einer sich abzeichnenden Veränderung der beruflichen Situationen den an sie gestellten Anforderungen nicht mehr zu genügen. Ein Interviewter berichtet von einer „Panik“, die ihn befallen hat, nachdem ihm die Beförderung zum Lagervorstand „drohte“. Schlagartig hat er sich für einen Lese- und Schreibkurs entschieden. Nachdem er jedoch seinen alten Arbeitsplatz behalten konnte, hat er den Kurs beendet, da sich wieder „alles beruhigt“ hatte. In einem solchen Fall lässt sich von einem durch die äußeren Lebensumstände aufgezwungenen Lernen sprechen. Expansive Lernimpulse deuten sich in solchen Erzählungen an, in denen die Bildungsanstrengungen im Zusammenhang mit einem biografischen Veränderungswunsch rekonstruiert werden. Die eigene Lebenssituation und die Lebensqualität sollen durch das Lesen- und Schreibenlernen verbessert werden. Emanzipatorische Momente begleiten die Entscheidung der Akteure, die nach jahrelanger Erwerbsund/ oder Familienarbeit endlich etwas für sich selbst tun möchten oder unabhängig von signifikanten Anderen werden möchten, die ihnen bis dato geholfen haben. 5.3 Bildungs- und bewältigungsorientierte Lernimpulse Eine letzte Kategorie fokussiert auf das Spannungsverhältnis zwischen Bildung und Bewältigung. Bildung verstehen wir dabei als einen Prozess der freien und selbstbestimmten Entwicklung und Entfaltung des Subjekts. Der Kurs wird in dieser Perspektive mit der Motivation besucht, sich selbst weiterzuentwickeln. Das Lesen- und Schreibenlernen hat in den entsprechenden Interviews die Funktion einer Weiterbildung, die zumeist auch in einen Bezug zu Zielen in anderen Lebensbereichen gesetzt wird. Eine Berufsausbildung soll gemeistert bzw. eine berufliche Um- und Neuorientierung erreicht werden oder die eigenen Kinder sollen angemessen gefördert werden. Der Kurs wird mit dem Anspruch besucht, sich bestimmte Fertigkeiten anzueignen, die für die Weiterentwicklung der eigenen Person erwünscht sind, und kann daher als Teil eines umfassenden biografischen Wandlungsprozesses verstanden werden. In der Regel thematisierten die Interviewten konkrete Anwendungs- und Nutzungsmöglichkeiten des im Kurs gelernten Stoffs. In Anbetracht ihrer prekären Lebenslagen deuten andere den Kurs weniger als Bildungs-, sondern in erster Linie als Lebensbewältigungsangebot. Der Kurs hat für diese Interviewten primär eine soziale Unterstützungsfunktion. Hinsichtlich des subjektiven Nutzens wird nicht das Lernen, sondern die Bedeutung der Lerngruppe hervorgehoben: Wichtig sind die Harmonie und die Herzlichkeit im Kurs, das regelmäßige Zusammenkommen mit Menschen, die vergleichbare Probleme haben wie man selbst, oder das Kaffeetrinken nach dem Kurs, das soziale Kontakte ermöglicht. Auch die Kursleiterinnen haben in diesen Fällen ganz spezifische Funktionen. Sie werden weniger als Dozentinnen und Wissensvermittlerinnen denn als Vertrauenspersonen wahrgenommen, mit denen über persönliche Probleme gesprochen werden kann. Einzelne Teilnehmende verbleiben über Jahre in Kursen, obwohl sie nicht den Eindruck haben, dass sich ihre Fertigkeiten im Lesen und/ oder Schreiben spürbar verbessern. VHN 3/ 2011 223 Entscheidungsprozesse Erwachsener zur Inanspruchnahme von Grundbildung 6 Fazit und Ausblick Grundbildung und lebenslanges Lernen werden gegenwärtig als selbstverständlich und unerlässlich postuliert. Entsprechend skandalisiert wird die hohe und beschämende Zahl sogenannter „funktionaler Analphabeten“, die möglichst rasch und umfassend verkleinert werden soll. Menschen mit wenig Grundbildung erscheinen in diesem Diskursfeld als defizitäre und prinzipiell leidende Mängelwesen, die durch medienwirksame Öffentlichkeitsarbeit aufgerüttelt und zum Besuch eines Lese- und Schreibkurses motiviert werden sollen. Ziel ist eine möglichst umfassende Aneignung von Lese- und Schreibkompetenz, die aus einer bürgerlichen Perspektive betrachtet doch erst ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und zugleich als unerlässlich im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft angesehen wird. Auf viele der von uns Interviewten treffen diese Annahmen jedoch nicht zu. Ihre zweifelsohne nur begrenzten Fertigkeiten im Lesen und Schreiben werden nicht ausschließlich als lebenshinderliches Defizit wahrgenommen. Die Interviews zeigen vielmehr, dass es vielen über Jahre und Jahrzehnte hinweg gelingt, in ihrem Leben zurechtzukommen und etwa an Erwerbsarbeit zu partizipieren. Das möglicherweise begrenzte kulturelle Kapital wird durch die Verfügbarkeit anderer Kapitalsorten - insbesondere sozialer Beziehungen und Netzwerke - ausgeglichen und von den Befragten erst in spezifischen biografischen Momenten und lebensweltlichen Vollzügen als ein Problem wahrgenommen. „Funktionaler Analphabetismus“ lässt sich damit nicht als ein objektiv vorhandenes und zeitlich überdauerndes „Syndrom“ beschreiben. Er entsteht unserer Auffassung nach erst kontextuell und situativ und ist immer auch von der subjektiven Einschätzung der Betroffenen selbst abhängig. Nimmt man die Hinweise aus den Interviews ernst, nach denen erst bestimmte biografische Anlässe und Impulsgeber die Inanspruchnahme von Grundbildung begünstigen, so stellt sich die Frage, ob sich das Angebot an Lese- und Schreibkursen nicht stärker an diesen orientieren sollte. Eine Befragte, die den Kurs aufgrund ihrer veränderten beruflichen Tätigkeit in einer Blutbank besuchte, brachte dies treffend auf den Punkt: Ihr ging es nicht darum, Laut- und Silbenbildung zu lernen oder die Produkte auf ihrem Einkaufszettel fehlerfrei schreiben zu können, vielmehr musste sie bestimmte Fachbegriffe dokumentieren, die jedoch dem Curriculum des Kurses folgend erst nach Jahren an der Reihe gewesen wären. Für eine Mutter, die den Kurs im Zuge der Einschulung ihrer Tochter aufsucht, kann es hingegen durchaus sinnvoll sein, sich ausführlich mit den basalen Themen des Schriftspracherwerbs zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund sind für die Grundbildung Erwachsener ähnliche Forderungen zu stellen wie für das Lernen in anderen Settings. Das Lernarrangement müsste sich stärker als bislang an den heterogenen Lebenswelten und Lebenslagen der Lernenden orientieren und die darin begründeten Spannungsverhältnisse in den Lernsettings angemessen reflektieren. Zudem ist für eine stärkere Sensibilisierung des erwachsenenbildnerischen Handelns im Hinblick auf die Biografien der Lernenden und auf deren subjektive biografische Lernimpulse zu plädieren. Dies erhöht unserer Einschätzung nach die Chance, dass sich die Teilnehmenden das Bildungsangebot Lese- und Schreibkurs tatsächlich aktiv aneignen, gewinnbringend nutzen und in ihre Lebenswelt integrieren. Unserer Auffassung nach sollte man sich vor diesem Hintergrund fragen, inwiefern es Sinn macht, bildungsmotivierte Lerner/ innen mit berufsbezogenen Lernzielen gemeinsam mit solchen zu unterrichten, die den Kurs primär dazu nutzen, soziale Unterstützung zu generieren oder ihre freie Zeit sinnvoll zu gestalten. Hier bedarf die konzeptionelle Ausformung des Angebots an Kursen, das gegenwärtig stark auf die Lernausgangslagen und Leistungsstände der Lernenden im Lesen und Schreiben fokussiert ist, einer stärkeren inhaltlichen Diversität, welche systematisch die subjektive Nutzerperspektive berücksichtigt. Insofern müsste die leistungsorientierte Einstufungs- VHN 3/ 2011 224 Anne-Kristin Bindl, Marc Thielen diagnostik gleichsam um eine fundierte biografische Diagnostik ergänzt werden. Nur so lassen sich die vielfältigen biografisch begründeten Interessens- und Bedürfnislagen angemessen berücksichtigen, auf welche die Lernangebote zugeschnitten werden müssten. Eines ist jedoch ebenso unbestritten: Ohne eine weitere Professionalisierung der Grundbildung und ohne angemessene finanzielle Ausstattung lässt sich kaum eine Lerninfrastruktur erreichen, die den Adressaten besser gerecht wird. Anmerkungen 1 Die Befragung ist eine Teilstudie des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes „GRAWIRA - Grundbildung, Alphabetisierung, Wirtschaft und Arbeit“, das wir unter der Leitung von Joachim Schroeder von 2007 bis 2010 in Kooperation mit der Hamburger Volkshochschule durchgeführt haben (Förderkennzeichen 01A8072203). 2 Zum Sample der Interviewten ist zu bemerken, dass deren Altersspanne von 17 bis 73 Jahren reicht, wobei das Durchschnittsalter bei Mitte vierzig liegt. Mehrheitlich haben die interviewten Personen untere Schulformen besucht und keine oder allenfalls niedrige Schulabschlüsse erworben. Weniger als die Hälfte verfügt über eine Berufsausbildung, rund die Hälfte ist erwerbslos. Als Erhebungsmethode wurde das teilstandardisierte Interview gewählt, da es den Vorteil der Kombination von offenen und geschlossenen Fragen bietet. Erstere bezogen wir auf Erzählungen zur Bildungs- und Erwerbsbiografie sowie zur Entscheidung zum Kursbesuch. Geschlossene Fragen stellten wir im Hinblick auf die Lebenslage der Befragten (Arbeit und Einkommen, Wohnsituation, Freizeit, Gesundheit usw.). Bei der Auswertung der offenen Interviewteile orientierten wir uns an der Grounded Theory (vgl. Strauss 1991) und kodierten das Material zunächst offen und später zunehmend selektiv, um zu den Schlüsselkategorien zu gelangen, die in diesem Abschnitt vorgestellt werden. 3 Im Gegensatz zu den zuvor rekonstruierten biografischen Impulsgebern verzichten wir hier auf eine zahlenmäßige Zuordnung der Interviews, da wir die Spannungsverhältnisse in einer fallübergreifenden Betrachtung des Interviewmaterials generiert haben. Nicht jedes Interview lässt sich einem Spannungsfeld zuordnen. 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