Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Mechanismen negativer Beeinflussung zwischen Jugendlichen mit dissozialem Verhalten und ihre Bedeutung für schulische Präventionsansätze
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Christoph Michael Müller
Das Zusammensein mit dissozial auffälligen Jugendlichen gilt als einer der am besten replizierten Risikofaktoren für eine eigene dissoziale Entwicklung. Dieser Befund wird durch ungünstige Einflussprozesse erklärt, die sich in der Interaktion zwischen dissozialen Peers vollziehen. Um diesen Prozessen im schulischen Kontext gezielt begegnen zu können, muss der Kenntnisstand zu den verschiedenen Formen negativer Peerbeeinflussung berücksichtigt werden. Im vorliegenden Beitrag werden vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands zentrale Peereinflussmechanismen konzeptuell geordnet und systematisch beschrieben. Auf dieser Grundlage werden Perspektiven zur Vermeidung von negativem Peereinfluss im Schulkontext diskutiert.
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Fachbeitrag 297 VHN, 80. Jg., S. 297 - 309 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art22d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Mechanismen negativer Beeinflussung zwischen Jugendlichen mit dissozialem Verhalten und ihre Bedeutung für schulische Präventionsansätze Christoph Michael Müller Universität Freiburg/ Schweiz n Zusammenfassung: Das Zusammensein mit dissozial auffälligen Jugendlichen gilt als einer der am besten replizierten Risikofaktoren für eine eigene dissoziale Entwicklung. Dieser Befund wird durch ungünstige Einflussprozesse erklärt, die sich in der Interaktion zwischen dissozialen Peers vollziehen. Um diesen Prozessen im schulischen Kontext gezielt begegnen zu können, muss der Kenntnisstand zu den verschiedenen Formen negativer Peerbeeinflussung berücksichtigt werden. Im vorliegenden Beitrag werden vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands zentrale Peereinflussmechanismen konzeptuell geordnet und systematisch beschrieben. Auf dieser Grundlage werden Perspektiven zur Vermeidung von negativem Peereinfluss im Schulkontext diskutiert. Schlüsselbegriffe: Peereinfluss, Devianz, Dissozialität, Inklusion, Prävention Mechanisms of Negative Influence Between Adolescents With Problem Behaviour and Their Relevance for Prevention Programs in Schools n Summary: Current research suggests that being part of deviant peer networks is one of the best-replicated risk factors for antisocial problem behaviours. This finding can be explained by the presence of unfavourable influences, which occur in the interaction between deviant peers. To deal with this problem within the school setting in an adequate way, it is important to consider research findings on mechanisms of negative peer influence. In this paper the major forms of peer influence are organised in a conceptual framework and systematically described. Based on this synopsis, perspectives on the prevention of negative peer influence in schools are discussed. Keywords: Peer influence, deviance, antisocial behaviour, inclusion, prevention 1 Einleitung Dissoziale Verhaltensprobleme von Jugendlichen in der Schule stellen für verschiedene Beteiligte ein Problem dar. Mitschülerinnen und Mitschüler können sich durch das Problemverhalten bedroht fühlen (Salmivalli/ Peets 2009), und Lehrkräfte erleben es oft als eine erhebliche Herausforderung für ihren Unterricht (Schaarschmidt 2004, 74). Für die betroffenen Jugendlichen selbst geht ihr Verhalten oft mit Ablehnungserfahrungen (Crick u. a. 2009) und ungünstigen Entwicklungsperspektiven wie misslingender Integration in den Arbeitsmarkt, Drogenkonsum und Kriminalität einher (Quinn/ Poirier 2004). Unter „dissozialem“ Verhalten (im Folgenden auch unter „Devianz“ oder allgemein unter „Verhaltensauffälligkeiten“ subsumiert) wird in diesem Kontext Problemverhalten verstanden, welches durch die Verletzung informeller sozialer Erwartungen und Normen sowie formeller Regeln und Gesetze gekennzeichnet ist. Üblicherweise werden mit dem Begriff „Dissozialität“ aggressiv-oppositionelle und delinquent-kriminelle Verhaltensmuster zusammengefasst. Beispiele für dieses Verhaltensspektrum sind verbale und physische Aggressionen gegen andere, das Zerstören von Eigentum, Betrug oder Diebstahl und andere schwere Regelverstöße (Beelmann/ Raabe 2007, 17ff ). VHN 4/ 2011 298 Christoph Michael Müller Dissoziales Verhalten kann eine Vielzahl von komplex interagierenden Faktoren zur Grundlage haben. Um den Forschungsstand zu erweitern und spezifische Interventionsmaßnahmen zu entwickeln, ist es neben der Postulierung übergreifender Erklärungsmodelle sinnvoll, gezielt einzelne Einflussfaktoren zu betrachten. Im sozialen Kontext der Schule sollte hier insbesondere der Einfluss der Gleichaltrigen fokussiert werden (Müller 2010). Die Bedeutung der Peers wird in Forschungsergebnissen deutlich, die zeigen, dass sich Jugendliche in deviantem Verhalten oft ungünstig verstärken und damit zu einer Verschlimmerung der individuellen Verhaltensproblematik beitragen (z. B. Gifford-Smith u. a. 2005). Entsprechend gilt das Zusammensein mit dissozialen Peers als einer der am besten abgesicherten Risikofaktoren für eine eigene dissoziale Entwicklung (s. z. B. Übersicht Dodge u. a. 2006; Gifford-Smith u. a. 2005). Als Erklärung für diese Beobachtungen werden einerseits Selektionsprozesse vermutet, bei denen sich Jugendliche gezielt anderen Jugendlichen mit ähnlichem Verhalten anschließen. Andererseits scheinen auch Sozialisationsprozesse vonstattenzugehen, bei denen sich ein Jugendlicher in seinem Verhalten dem anderen angleicht (Prinstein/ Wang 2005). Vermutlich interagieren beide genannten Prozesse eng miteinander (Akers 2009, 56). Um solche negativen Beeinflussungen in der Schule verhindern oder zumindest verringern zu können, ist es wichtig, die bei einer negativen Peerbeeinflussung im Detail ablaufenden Prozesse systematisch zu analysieren. Die Bedingung für eine negative Beeinflussung zwischen devianten Peers in der Schule ist immer die Interaktion zwischen mindestens zwei Individuen. Dieser erste Schritt des Zusammenfindens von Jugendlichen mit dissozialem Verhalten in der Schule wurde an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben (Müller 2011). Diese Analyse zeigt, dass die Häufigkeit der Interaktion zwischen verhaltensauffälligen Jugendlichen teilweise bereits durch die Struktur des Schulsystems vorgegeben ist. So besuchen Jugendliche mit dissozialem Verhalten oft sonderpädagogische Spezialklassen und Förderschulen „unter ihresgleichen“, was die Interaktion und soziale Netzwerkbildung zwischen devianten Peers begünstigt. Ähnliche Prozesse sind auch im allgemeinen Schulsystem zu beobachten, wo sich Jugendliche mit Verhaltensproblemen in niedrigen Bildungsgängen sammeln (Baier/ Pfeiffer 2007). Neben diesen schulstrukturellen Merkmalen kommen sozialpsychologische Präferenzen hinzu, die Jugendliche mit dissozialem Verhalten häufig ähnlich deviante Peers als Interaktionspartner aufsuchen lassen. Vor diesem Hintergrund wurden erste Maßnahmen aufgezeigt, die den Zusammenschluss zwischen Jugendlichen mit dissozialem Verhalten in der Schule möglicherweise verringern können (Müller 2011). Gleichzeitig erscheint es angesichts der Komplexität sozialer Prozesse zwischen Jugendlichen aber als unrealistisch, die Interaktionen zwischen dissozialen Peers und die daraus entstehenden negativen Beeinflussungskonstellationen in der Schule vollkommen verhindern zu können (s. Farmer/ Hollowell 1994). Aus diesem Grund muss das Wissen um die Prozesse des Zusammenfindens durch Erkenntnisse zu den konkreten Formen der negativen Beeinflussung während der Interaktion erweitert werden. Im vorliegenden Beitrag werden daher die bisher wenig verknüpft betrachteten Mechanismen negativer Beeinflussung zwischen devianten Jugendlichen konzeptuell geordnet und systematisch dargestellt, um darauf aufbauend erste Perspektiven zur Prävention solcher Prozesse im Schulkontext zu diskutieren. 2 Mechanismen negativer Peerbeeinflussung Die Forschung zur Bedeutung der Peers bei der Entwicklung von dissozialem Verhalten hat sich in verschiedenen Modellvorstellungen wie der Theorie der differenziellen Assoziation, der Subkulturtheorie und ihren jeweiligen Weiterentwicklungen niedergeschlagen (Übersicht Lamnek 2007, 191ff ). Bereits in diesen frühen Erklärungsmodellen für deviantes Verhalten be- VHN 4/ 2011 299 Negative Beeinflussung dissozialer Jugendlicher und schulische Präventionsansätze steht relativ übereinstimmend die Annahme, dass dieses zu einem erheblichen Teil von Gleichaltrigen erlernt wird oder sich im Zusammensein mit ihnen entfaltet. In weiteren Arbeiten wurden die während einer Peerbeeinflussung ablaufenden Prozesse spezifisch untersucht, was bis heute einen wichtigen Schwerpunkt der Peereinflussforschung ausmacht (z. B. Brown u. a. 2008; Warr 2002). Eine konzeptuelle Einordnung der zentralen Mechanismen von Peereinfluss nach gemeinsamen Merkmalen erscheint dabei anhand dreier übergeordneter Kategorien sinnvoll (s. Tab. 1). Im Folgenden werden jeweils ausgehend von diesen Oberkategorien die einzelnen Mechanismen negativer Beeinflussung dargestellt. 2.1 Peerbedingte Lern- und Anpassungsprozesse hinsichtlich Verhalten und Einstellungen Diese Kategorie umfasst Einflussformen, bei denen dissoziale Verhaltensmuster und Einstellungen in der Interaktion mit den Peers durch verschiedene Lern- und Anpassungsprozesse entwickelt oder weiter vertieft werden. 2.1.1 Erlernen von dissozialem Verhalten am Peermodell Schon frühe Studien im Bereich der „Social Learning Theory“ zeigen, dass Kinder Verhalten von anderen imitieren und dass aggressives Verhalten zumindest zum Teil am Modell gelernt wird (Bandura u. a. 1966). Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin, dass das Beobachten des Verhaltens anderer zu Veränderungen des eigenen Verhaltens, der emotionalen Bewertung und der Selbsteinschätzung führen kann (Bandura 2007, 5). Dabei wird ein neues, bisher nicht praktiziertes Wissen und Verhalten anhand eines Modells gelernt (z. B. ein Türschloss aufbrechen) oder ein bereits beherrschtes Verhalten durch das Beobachten der vom Modell erlebten Reaktion auf sein Verhalten gehemmt oder enthemmt (z. B. zuschlagen). Das Beobachten von Modellen kann aber auch als Auslöser („cue“) eines bereits beherrschten Verhaltens wirken (z. B. Mitlachen mit der Gruppe in Bullyingsituationen). Erfolgreiches Lernen am Modell ist unter anderem abhängig von Merkmalen des Modells, der Situation und des Beobachters und vollzieht sich Kategorie Beeinflussungsprozess 1. Peerbedingte Lern- und Anpassungsprozesse hinsichtlich Verhalten und Einstellungen Erlernen von dissozialem Verhalten am Peermodell Erleben von Peerverstärkung für dissoziales Verhalten Übernahme dissozialer Einstellungen der Peers 2. Peergruppenbezogene Motive für dissoziales Verhalten Dissoziales Verhalten aus Angst vor Peerablehnung Dissoziales Verhalten als Mittel zum Statuserhalt Dissoziales Verhalten aus Loyalität gegenüber Peers 3. Gruppenspezifische Bedingungen für dissoziales Verhalten Neue Gelegenheiten für dissoziales Verhalten Deindividuationsprozesse in der Gruppe Tab. 1: Systematik der Mechanismen negativer Peerbeeinflussung VHN 4/ 2011 300 Christoph Michael Müller durch die symbolische (visuelle und sprachliche) Repräsentation von Handlungen im Individuum (Bandura 2007). Die Prinzipien des Lernens devianten Verhaltens am Peermodell werden beispielsweise deutlich, wenn ein Schüler in der Pause miterlebt, wie sein Freund einen jüngeren Schüler bedroht und ihm Geld wegnimmt. In den Augen des lernenden Schülers wird das Verhalten des betreffenden Freundes belohnt, indem die Freundesclique auf dem Nachhauseweg über die Erpressung des Opfers lacht. Durch solche und ähnliche Beobachtungen baut der beistehende Schüler ein kognitives Skript des Ablaufs eines Übergriffs und einen Prototyp eines erfolgreichen Jugendlichen auf, die bei Gelegenheit aktiviert werden und sich in vergleichbaren Verhaltensweisen zeigen können (s. a. Gibbons u. a. 2008, 50ff ). 2.1.2 Erleben von Peerverstärkung für dissoziales Verhalten Soziales Verhalten wird nicht nur durch die Beobachtung anderer gelernt, sondern auch durch die Erfahrung der eigenen Verstärkung für bestimmtes Verhalten. Die lerntheoretische Grundannahme - wie sie beispielsweise in der Theorie der differenziellen Verstärkung und ihrer Fortentwicklung formuliert wurde (Akers 2009) - ist hier, dass zwischen Personen mit dissozialen Verhaltensweisen Verstärkungsmuster wirksam werden, die zu einer stärkeren Ausprägung und Aufrechterhaltung devianten Verhaltens beitragen. Beispielsweise wird aggressives Verhalten beim Zusammensein mit aggressiven Peers häufig als funktional wahrgenommen, weil es im Sinne einer negativen Verstärkung zum Beenden eines Angriffs auf die eigene Person dienen kann (Perry u. a. 1986). An dieser Stelle ist aber nicht nur das Verhalten des direkten Gegenübers relevant, sondern auch jenes der nicht unmittelbar am Konflikt beteiligten Peers. So beobachteten beispielsweise Buehler u. a. (1966), wie sich Mädchen in einer Vollzugsanstalt gegenseitig für dissoziales Verhalten bestätigten. Die Verstärkung erfolgt bei diesen Prozessen direkt in oder kurz nach der Situation, in der das Verhalten aufgetreten ist. In vielen Fällen laufen die Verstärkungsprozesse aber auch außerhalb der konkreten Verhaltenssituation ab. So geht die Forschergruppe um Dishion (1996) davon aus, dass die Gespräche zwischen Jugendlichen mit dissozialem Verhalten von einem Muster der gegenseitigen Verstärkung für normwidrige Aussagen geprägt sind (sog. „Devianztraining“). Erzählt ein Jugendlicher beispielsweise von einer „erfolgreichen“ Schlägerei oder macht er gegen soziale Regeln verstoßende Witze über andere, wird er dafür unter Umständen durch verbale (z. B. „Du hast recht, Peter ist wirklich ein Spinner“) und nonverbale Signale (z. B. nicken, grinsen) verstärkt. Dishion u. a. (1996) konnten diese Prozesse belegen, indem sie die verbalen Interaktionen von Jugendlichen mit Verhaltensproblemen filmten. Während bei Einbezug von prosozialen Peers normwidrige Aussagen selten waren und weitgehend ignoriert wurden, kamen diese bei devianten Jugendlichen sehr häufig vor und wurden von den Partnern jeweils durch Lachen verstärkt. Granic und Dishion (2003) zeigten, dass solche devianten Konversationen umso länger dauerten, je mehr die Partner dafür Interesse und Übereinstimmung äußerten. Jugendliche mit dissozialem Verhalten schienen regelrecht „stecken zu bleiben“ in dieser Form der Interaktion. In mehreren Untersuchungen erwies sich das Erleben von Devianztraining als Prädiktor für die Entwicklung oder Vertiefung von dissozialen Verhaltensweisen (z. B. Dishion u. a. 1996). Auch die Dauer der devianten Gesprächsanteile konnte einen signifikanten Beitrag zur Erklärung des Devianzniveaus nach drei Jahren leisten (Granic/ Dishion 2003). 2.1.3 Übernahme dissozialer Einstellungen der Peers Da im Kontext von Dissozialität ein relativ enger Zusammenhang zwischen Einstellungen und reell gezeigtem Verhalten besteht (Werner/ VHN 4/ 2011 301 Negative Beeinflussung dissozialer Jugendlicher und schulische Präventionsansätze Nixon 2005), ist es eine wichtige Beobachtung, dass Jugendliche in devianten Peergruppen oft die dort geltenden Einstellungen übernehmen (Warr 2002, 65ff ). Die Bildung dissozialer Wertemuster unter Peers gründet vermutlich darin, dass Jugendlichen in der frühen Adoleszenz bewusst wird, dass Normen keine extern festgeschriebenen Gesetze sind, sondern zwischen Gruppen differieren und verhandelbar sind (z. B. Eltern vs. Kinder). Diese Werteunsicherheit bietet einen Nährboden für die Entwicklung peergruppeninterner dissozialer Einstellungen. Hinzu kommt, dass in der Adoleszenz oft grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass die Peers normwidriges Verhalten tendenziell gutheißen (Shannon 1991). Die Aushandlung von gruppeninternen Normen erfolgt dabei durch Prozesse der Konsensbildung. Einerseits wird das Erreichen einer Übereinstimmung durch dominante Gruppenmitglieder beeinflusst, welche in dissozialen Gruppen oft männlich und etwas älter als der Rest der Gruppe sind (Warr 1996). Andererseits tendieren Gruppen aber auch grundsätzlich in Richtung Konsens und Konformität, was vermutlich daraus resultiert, dass Menschen bestrebt sind, mit anderen Gruppenmitgliedern übereinzustimmen (Asch 1951; Deutsch/ Gerard 1955). Zur Überwindung von Spannungen zwischen den Mitgliedern werden gemeinsame symbolische Rituale (z. B. Witze über Außenstehende machen) vollzogen, welche das Zusammengehörigkeitsgefühl erhöhen (Meyer 1997; Sunwolf 2008, 6f ). Verbindend können auch Etikettierungsprozesse („Labeling“) durch Außenstehende wirken, welche zu einer gemeinsamen Identifizierung der Betreffenden mit dem zugeschriebenen Label und einem dementsprechenden Verhalten führen (z. B. das schulinterne Benennen einer bestimmten Gruppe von Jugendlichen als „Skins“; Lamnek 1977, 89f ). Während ein Gruppenkonsens in manchen Fällen wirklich als überzeugend wahrgenommen wird, kann ein Konsens mit den Gruppennormen aber auch vorgetäuscht und nur mitgetragen werden, um voll in die Gruppe integriert zu sein. Dieser nur scheinbare Konsens kann dabei ebenso verhaltensrelevant wie ein wahrer Konsens sein (Warr 2002, 72f ). Kommt es trotz dieser Angleichungsprozesse zu offenliegenden Differenzen innerhalb der Gruppe, passen sich die Mitglieder dennoch häufig der dominanten Meinung an, um den Gruppenzusammenhalt nicht zu gefährden. Dies ist insbesondere in kleinen Gruppen der Fall, in denen der Verlust eines Mitglieds bereits den Zusammenbruch der ganzen Gruppe bedeuten kann (Warr 2002, 72f ). Die so entwickelte normative Gruppenausrichtung bildet die Grundlage für das Verhalten der einzelnen Teilnehmer innerhalb und zu einem Teil vermutlich auch außerhalb der Gruppe. 2.2 Peergruppenbezogene Motive für dissoziales Verhalten Prozesse dieser Kategorie umfassen das Zeigen dissozialen Verhaltens, um Ziele in Bezug auf das eigene soziale Verhältnis zu devianten Peers zu erreichen. 2.2.1 Dissoziales Verhalten aus Angst vor Peerablehnung Die Meinung der Peergruppe zum eigenen Verhalten hat für Jugendliche in der Regel eine sehr hohe Bedeutung (Beyth-Maron u. a. 1993). Eine der zentralen sozialen Ängste von Jugendlichen ist es beispielsweise, dass sie bei „falschem“ Verhalten von ihrer Peergruppe ausgelacht oder ausgeschlossen werden könnten. Insbesondere das Ärgern und Lächerlichmachen, aber auch das Lästern über andere scheinen an dieser Stelle zentrale Dominanzmechanismen unter Jugendlichen zu sein (sog. „antagonistic behaviour“; Eder 1991). Die Ängste von Jugendlichen beeinflussen dabei auch die Entwicklung dissozialer Verhaltensweisen. So antworteten 86 % adoleszenter Schülerinnen und Schüler auf die Frage nach VHN 4/ 2011 302 Christoph Michael Müller den Konsequenzen des Teilnehmens an oder des Verweigerns von Risikoverhaltensweisen (z. B. Marihuanakonsum) mit dem Verweis auf die Folgen der Beliebtheit bei den Peers (Beyth- Maron u. a. 1993). Im Schulkontext lässt sich dies beispielsweise in Situationen beobachten, in denen Jugendliche gemeinsam mit ihren Freunden den Unterricht schwänzen, weil sie Angst haben, sonst ausgelacht zu werden. Obwohl es auch Hinweise auf expliziten Gruppendruck gibt („Wenn du das nicht machst, verprügeln wir dich“; z. B. Clasen/ Brown 1985), scheint in vielen Fällen bereits die Angst vor Lächerlichkeit auszureichen, um sich normwidrig zu verhalten. Ungünstig kann sich bei diesen Prozessen auswirken, dass Menschen zu dem Glauben tendieren, die Haltungen anderer Personen genau zu kennen, obwohl dies nicht der Fall ist („false consensus effect“; Prinstein/ Wang 2005). Dissoziale Jugendliche schätzen ihre Freunde beispielsweise oft als devianter ein, als ihr Verhalten eigentlich ist. Dies bedeutet, dass die Erwartung einer Peerzustimmung oder -ablehnung gegenüber bestimmtem Verhalten oft vor dem Hintergrund verzerrter Vorstellungen über die Eigenschaften der Peers geschieht. Die Peerreferenznorm scheint dabei oft auch außerhalb des spezifischen Gruppensettings ihre Rolle als Verhaltensmaßstab zu behalten, was als virtueller Peergruppeneffekt beschrieben wird (Warr 2002, 86f ). Zu der virtuellen Peergruppe gehört neben den „MTV-Peers“ (dem von den Medien entworfenen Bild der Gleichaltrigen) auch die wirkliche Gruppe von Individuen, mit der Jugendliche ihre Zeit verbringen. Auch wenn diese Peers in einer Situation nicht physisch anwesend sind, bleiben sie für einen Jugendlichen mental präsent. Durch die modernen Kommunikationsmittel wie Handys oder Computerchats haben Kinder und Jugendliche heute des Weiteren zahlreiche Möglichkeiten, auch über Distanzen hinweg ständig im Kontakt und damit auch im Einflussbereich der Peers zu bleiben. 2.2.2 Dissoziales Verhalten als Mittel zum Statuserhalt In einem ähnlichen Zusammenhang steht die Hoffnung mancher Jugendlicher, durch dissoziale Verhaltensweisen zu einem höheren Status in ihrer Peergruppe zu gelangen (Prinstein/ Cillessen 2003). Abhängig von den Werten einer Gruppe erweisen sich dabei unterschiedliche Verhaltensweisen als statuserhaltend. Während in prosozial eingestellten Gruppen in der Regel prosoziales Verhalten honoriert wird, dienen unter Jugendlichen mit dissozialen Verhaltensweisen häufig normwidrige Verhaltensweisen der Statussicherung. So konnten beispielsweise Slaby und Guerra (1988) die Annahme verhaltensauffälliger Jugendlicher aufzeigen, dass Aggression nicht nur zu einer Verbesserung des Selbstwertgefühls führt, sondern auch ihren Status in der Gruppe erhöht. Die enorme Bedeutung des Gruppenstatus für viele Jugendliche rührt vermutlich teilweise vom sogenannten „maturity gap“ her, dem Zustand also, dass zwar körperlich bereits der Reifezustand eines Erwachsenen erreicht ist, aber noch wenig objektive Merkmale des Erwachsenenstatus vorhanden sind (z. B. Beruf, Geld etc.; Moffit 1993). Insbesondere für benachteiligte Jugendliche, die kaum Erfolge in der Schule haben und denen wenig materielle Mittel zur sozialen Positionierung zur Verfügung stehen, ist der Status bei den Peers das zentrale Mittel zur Selbstdefinition. Das Merkmal des Status unter den Peers muss im Sinne eines „campaigning for respect“ (Anderson 1994, 86) in der alltäglichen Interaktion allerdings ständig verteidigt werden (im Gegensatz z. B. zum Status durch Geld). Deshalb steht für diese Jugendlichen bereits in kurzen Interaktionen viel auf dem Spiel, was möglicherweise zur Erklärung der für Außenstehende oft unverständlich heftigen Reaktionen auf kleine Provokationen (z. B. jemanden „schief“ ansehen) beitragen kann. Warren u. a. (2005) argumentieren in diesem Kontext, dass zwischen devianten Peers ein regelrechter Wettbewerb um mehr aggres- VHN 4/ 2011 303 Negative Beeinflussung dissozialer Jugendlicher und schulische Präventionsansätze sives Verhalten entstehen kann. Die Beziehung zwischen Status und Devianz unter Jugendlichen mit dissozialem Verhalten ist damit reziprok: Die Bedrohung des Status ist einerseits eine häufige Voraussetzung für Gewalt, und Gewalt ermöglicht in dissozialen Gruppen andererseits einen hohen Status. 2.2.3 Dissoziales Verhalten aus Loyalität gegenüber anderen Jugendliche mit dissozialem Verhalten bewerten die Bedeutung von Solidarität zwischen Partnern oft als hoch. Insbesondere der Beweis des Zusammenstehens durch die gemeinsame Teilnahme an kriminellen Akten kann zur Stärkung der Freundschaft dienen. Zugleich dient Loyalität hier vermutlich als „moral cover“, mit dem das eigene normwidrige Verhalten als moralisch erklärt werden kann (z. B. „Ich habe es für meinen Freund getan.“). Eindrücklich zeigt Abbildung 1 aus einer Studie von Warr (1993) in diesem Zusammenhang, wie viele Jugendliche zu welchen Alterszeitpunkten zum Lügen für einen Freund gegenüber der Polizei bereit sind. 2.3 Gruppenspezifische Bedingungen für dissoziales Verhalten Gruppenspezifische Bedingungen beziehen sich auf Gelegenheitsstrukturen und gruppendynamische Prozesse, die durch die Zugehörigkeit zu devianten Peergruppen entstehen können. 2.3.1 Neue Gelegenheiten für dissoziales Verhalten Ein Großteil jugendlichen dissozialen Verhaltens besteht in normwidrigem Gruppenverhalten, das sich meist spontan entlädt (Warr 2002, 32). Ein grundlegendes Problem devianter Peergruppen ist dabei, dass sie Jugendlichen neue Gelegenheiten zu dissozialem Verhalten eröffnen und damit die Wahrscheinlichkeit der Beteiligung an normwidrigem Verhalten erhöhen. Beispielsweise werden in solchen Gruppen eher Drogen konsumiert und Situationen aufgesucht, in denen Gewalt oder Delinquenz wahrscheinlich wird (Riley 1987). Es ergeben sich damit kriminelle Optionen, die in anderen Gruppen nicht vorhanden sind (z. B. Kontakte zu Drogendealern). Wesentliches Kriterium für die Handlungsfähigkeit solcher Gruppen ist, dass die Mitglieder ähnliche Tagesstrukturen haben und sich somit häufig treffen können (Felson 1994). In diesem Kontext kommt der Schule als Ort der Knüpfung sozialer Netzwerke daher vermutlich eine zentrale Rolle zu. 2.3.2 Deindividuationsprozesse in der Gruppe In devianten Gruppen sind Prozesse der Deindividuation zu beobachten, bei denen der Einzelne sich weniger für seine eigenen Taten verantwortlich fühlt, als wenn er sie alleine ausführen würde (Feldman/ Rosen 1978). So ermöglicht das gemeinsame Begehen einer Straf- Prozent Jugendlicher 25 20 15 10 5 0 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Alter Abb. 1: Bereitschaft, für einen Freund die Polizei zu belügen (Warr 1993) VHN 4/ 2011 304 Christoph Michael Müller tat die Aufteilung der Verantwortlichkeit auf mehrere Schultern, was zu erhöhter individueller Risikofreude führt. Wenn zusätzlich ältere Mitglieder die Funktion von Anstiftern übernehmen, kann dies den jüngeren ein Gefühl der Legitimation durch Erwachsene geben (Warr 2002, 63). Ein zentraler Auslöser dissozialen Gruppenverhaltens scheint aber auch Langeweile zu sein (Wegner/ Flisher 2009). Das Gefühl, Teil einer als stark wahrgenommenen Gruppe zu sein, kann hier zu situativ entstehendem Rowdyverhalten führen („emotional contagion“, Sunwolf 2008, 152). 2.4 Die Komplexität der negativen Beeinflussungsprozesse Grundsätzlich wurde in der Darstellung der verschiedenen Formen von Peereinfluss deutlich, dass die gewählten Oberkategorien zwar konzeptuelle Verbindungen zwischen den Einflussprozessen aufzeigen, die einzelnen Mechanismen sich in ihrem Charakter aber dennoch stark voneinander unterscheiden können. Weiter ist zu erwarten, dass die verschiedenen Prozesse nacheinander oder parallel ablaufen, aber auch eng miteinander interagieren können. Zerstört beispielsweise ein Jugendlicher im Beisein seiner Clique eine Sitzbank auf dem Pausenhof, ist sein Verhalten vielleicht gruppendynamisch zu begründen. Gleichzeitig vollziehen sich bei dem Jugendlichen aber auch Lernprozesse, wie beispielsweise die Erfahrung, dass sein sozialer Status in der Gruppe durch diese Handlung gestiegen ist. Weil in seiner Peergruppe die Einstellung vorherrscht, sich von Lehrkräften nichts vorschreiben zu lassen, beleidigt er anschließend den Lehrer, der ihn auf die zerstörte Bank anspricht. Die obige Auflistung verschiedener Formen negativer Peerbeeinflussung dient also vor allem einer wissenschaftlichen Beschreibung und Kategorisierung der ablaufenden Prozesse. In den täglichen Interaktionsprozessen von Jugendlichen sind die einzelnen Formen aber oft nicht klar voneinander zu trennen, und ihre jeweilige situative Bedeutung ist individuell schwierig zu identifizieren. Trotz dieser Komplexität der negativen Beeinflussungsprozesse zwischen Jugendlichen mit dissozialem Verhalten steht fest, dass sie zu äußerst ungünstigen Entwicklungen beitragen, welche sowohl für die Betroffenen als auch für ihr Umfeld zu großen Belastungen führen können (Dodge u. a. 2006). Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, Überlegungen zur Vermeidung dieser Prozesse im schulischen Kontext anzustellen. 3 Perspektiven zur schulischen Prävention Das grundsätzliche Ziel präventiver Maßnahmen im Bereich negativen Peereinflusses sollte die Verminderung von ungünstigen Beeinflussungsprozessen zwischen Jugendlichen mit dissozialem Verhalten sein. Anzustreben wäre darüber hinaus, die Bedeutung der Peers für positive Entwicklungen nutzen zu können (s. a. Hektner u. a. 2003; Opp/ Unger 2006). Um ungünstige Beeinflussungen zu verhindern, ist der erste Schritt die Vermeidung des Zusammenfindens von Schülerinnen und Schülern mit dissozialem Verhalten zu devianten Peernetzwerken in der Schule, welche erst eine intensive Interaktion ermöglichen. Hierzu wurden sowohl auf schulstruktureller als auch auf Klassenebene bereits erste präventive Maßnahmen vorgeschlagen (Dishion u. a. 2006). Überlegungen zu Ansatzpunkten beim hier fokussierten zweiten Schritt der Verminderung negativer Beeinflussungsprozesse beziehen sich hingegen auf Bedingungen, welche das Auftreten der verschiedenen Einflussmechanismen während der Interaktion reduzieren können. Der Forschungsstand zu dieser Frage ist noch sehr gering, so dass hier nur mögliche Richtungen der Prävention skizziert werden können. Grundsätzlich scheint es dabei sinnvoll, sich an den hier hergeleiteten drei übergeordneten Kategorien von Einflussmechanismen zu orientieren, da diesen jeweils gemeinsame Bedingungskonstellationen zugrunde liegen. VHN 4/ 2011 305 Negative Beeinflussung dissozialer Jugendlicher und schulische Präventionsansätze Als Erstes lassen sich peerbedingte Lern- und Anpassungsprozesse hinsichtlich Verhalten und Einstellungen wie das Lernen am Modell, das Erleben von Verstärkung oder die Übernahme dissozialer Normen betrachten. Solche Prozesse setzen voraus, dass Jugendliche Gelegenheit haben, andere bei devianten Verhaltensweisen oder Äußerungen zu beobachten oder diese selbst umzusetzen. Die trivial anmutende, aber vermutlich wirksame Konsequenz daraus ist, Anstrengungen zu unternehmen, dass Jugendliche in der Schule möglichst wenig deviantes Verhalten zeigen. Hierbei scheint nicht nur die Verhinderung aggressiver oder delinquenter Handlungen, sondern auch des offensiven Vertretens dissozialer Einstellungen wichtig zu sein, welches sich vermutlich vor allem im „deviant talk“ zwischen Peers vollzieht (Dishion u. a. 1996). Gelingt es den Schulen, diese Verhaltensweisen zu reduzieren und gleichzeitig prosoziales Verhalten zu fördern, verringern sich zwangsläufig auch die Gelegenheiten zur ungünstigen Beeinflussung der Schülerinnen und Schüler untereinander. Methodisch eröffnet sich auf Schulebene an dieser Stelle das breite Spektrum evidenzbasierter Maßnahmen gegen dissoziales Verhalten wie etwa das Anstreben einer positiven Schulkultur, eindeutig formulierte und konsequent verfolgte Schulregeln oder die Garantie von Aufsicht auch in Übergangs- und Pausensituationen (Lewis u. a. 2006). Auf Klassen- und Individualebene können die verschiedenen Methoden effektiven Classroom-Managements greifen, welche von der Etablierung prosozialer Klassennormen und -regeln über eine formative Verhaltensdiagnostik bis hin zu individuellen verhaltensmodifikatorischen Maßnahmen reichen (z. B. Evertson/ Weinstein 2008). Ein weiterer Bereich der Prävention bezieht sich auf den Umgang mit peergruppenbezogenen Motiven für dissoziales Verhalten. Diese umfassen Prozesse, bei denen Jugendliche Ziele in Bezug auf das eigene soziale Verhältnis zu devianten Peers verfolgen. Die Angst vor Ablehnung durch die Gleichaltrigen und Statusverlust bei Verweigerung devianter Verhaltensweisen ist zwar bei Jugendlichen insgesamt recht hoch, scheint aber bei Personen mit geringem Selbstwert und wenig Freundschaften besonders ausgeprägt zu sein (z. B. Cohen/ Prinstein 2006; Adams u. a. 2005). Das Ziel der Förderung des Selbstbewusstseins (auch in Abgrenzung zur Meinung der Peers) und der gelingenden sozialen Integration aller Jugendlichen in die Schulgemeinschaft kann hier also auch der Vermeidung von negativer Peerbeeinflussung dienen. Dabei sollten in der Klasse Referenznormen angestrebt werden, die prosoziale Handlungen unter den Peers anerkennenswert machen und statuserhöhend wirken können (z. B. bestimmte verantwortungsvolle Aufgaben in der Schule übernehmen). Besonderes Augenmerk sollte darauf gerichtet werden, dass Jugendliche mit Verhaltensproblemen Gelegenheit haben, sich nicht vorrangig in deviante, sondern auch in prosoziale Peergruppen der Schule zu integrieren (z. B. durch das Angebot aktiver Kooperationsgelegenheiten zwischen allen Schülerinnen und Schülern oder durch prosozial eingestellte Schülermentoren). Und nicht zuletzt sind die Lehrpersonen gefragt, wenn es darum geht, Mobbingsituationen zu erkennen und geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen (Olweus 2008). Um dem manchmal „falschen“ Loyalitätsverständnis unter devianten Jugendlichen zu begegnen, kann versucht werden, im Unterricht moralische Dilemmata zu thematisieren, anhand von Beispielen zu reflektieren und verschiedene Handlungsoptionen aufzuzeigen, welche Jugendlichen mit Verhaltensproblemen oft nicht bewusst sind (z. B. Crick/ Dodge 1994; Oser/ Althof 2001, 345ff ). In ähnlicher Weise könnte mit dem „False Consensus“-Effekt umgegangen werden: Indem im Unterricht Gelegenheit zur strukturierten Diskussion eigener Wertvorstellungen und Meinungen besteht, können falsche Ideen über die Haltungen und Erwartungen der Peers korrigiert werden. Zusätzlich können gezielte Interventionen zur Aufdeckung von Überschätzungen des devianten VHN 4/ 2011 306 Christoph Michael Müller Verhaltens unter den Gleichaltrigen eingesetzt werden (z.B. durch den Abgleich von Erwartungen mit anonymen Selbstauskünften in der Klasse). Im Unterricht lassen sich auch die kognitiven Prototypen von Jugendlichen über (oft als erfolgreich erachtete) Personen mit dissozialem Verhalten thematisieren und kritisch mit Erfahrungsberichten von anderen abgleichen (Gibbons u. a. 2008, 63ff ). Dies bietet sich etwa anhand von Fallbesprechungen an, in denen die langfristigen Folgen von Devianz für die Lebensläufe der Betreffenden und ihres Umfelds betrachtet und diskutiert werden. Andererseits können solche Diskussionen auch anhand ermutigender Beispiele von erfolgreichen prosozialen Gleichaltrigen (z. B. Sportlern) erfolgen. Für die genannten Interventionsformen besteht in Gruppen mit vorrangig devianten Personen allerdings auch die Gefahr, dass sich ungünstige Gruppenprozesse in Form von Devianztraining vollziehen und die beabsichtigte Wirkung verfehlt wird. Das Umsetzen solcher Diskussionsrunden sollte daher nur unter Gewährleistung des Einhaltens bestimmter Regeln und der Begleitung durch erfahrenes pädagogisch oder psychologisch geschultes Personal geschehen (Dishion u. a. 2006). Ein weiterer Ansatzpunkt für präventive Maßnahmen betrifft gruppenspezifische Bedingungen für dissoziales Verhalten. Diese umfassen Gelegenheitsstrukturen und gruppendynamische Prozesse, die durch die Zugehörigkeit zu devianten Peergruppen entstehen können. Um die Gelegenheiten für dissoziales Verhalten zu reduzieren, bestehen die Möglichkeiten der Schule vermutlich vor allem darin, durch die oben genannten Maßnahmen dissoziales Verhalten auf dem Schulgelände so gut wie möglich zu verhindern und gleichzeitig prosoziales Verhalten aktiv zu unterstützen. Es sollte insbesondere darauf geachtet werden, dass es keine unbeaufsichtigten Bereiche auf dem Schulgelände gibt, und in den Pausen- und Übergangssituationen müssten konstruktive Aktivitäten angeboten werden, sodass der Raum, aber auch der Anlass (z. B. Langeweile) für deviantes Verhalten eingeschränkt wird (Silver/ Eddie 2006; Olweus 2008). Möglicherweise können durch ein frühes Erkennen und Eingreifen von Lehrpersonen Deindividuationsprozesse in der Gruppe vermieden werden (indem z. B. wahrgenommen wird, wenn ein Konflikt zwischen zwei Gruppen eskaliert). Neben diesen auf die Gestaltung der Schulumwelt ausgerichteten Maßnahmen könnte auch das bewusste Vermitteln von psychologischem Wissen über Gruppenprozesse und deren Reflexion anhand der Verhaltensmuster in der eigenen Klasse unterstützend wirken. Ziel ist es hierbei, Jugendliche zu befähigen, in kritischen Situationen soziale Prozesse zu reflektieren und auf dieser Basis bewusste Entscheidungen zu treffen. Ergänzend lassen sich gemeinsam verschiedene Handlungsoptionen erarbeiten, welche insbesondere Strategien der Deeskalation und des Widerstands gegen Gruppendruck umfassen. Insgesamt betrachtet wurde deutlich, dass die Aufgliederung und die Konzeptualisierung der verschiedenen Formen der Peerbeeinflussung einen Beitrag zum besseren Verständnis der zwischen Jugendlichen ablaufenden sozialen Prozesse leisten können. Basierend auf diesem Wissen lassen sich erste Ansatzpunkte zur Prävention dissozialen Verhaltens im Schulkontext ableiten. Es ist aber auch offensichtlich, dass der Forschungsstand zu der Frage der Vermeidung von negativem Peereinfluss noch am Anfang steht, sodass das Wissen über die Wirksamkeit solcher Interventionen noch sehr gering ist (Silver/ Eddy 2006). Herausforderungen stellen dabei insbesondere die Vielfalt der verschiedenen Beeinflussungsmechanismen und die grundsätzliche Begrenztheit der Reichweite schulischer Interventionen im Bereich von Peereinflussprozessen dar. So verbringen Jugendliche zwar einen großen Teil des Tages in der Schule, in ihrer Freizeit haben sie jedoch einen oft wesentlich weiteren Spielraum für deviantes Verhalten und gegenseitige Beeinflussung ohne die Anwesenheit von Erwachsenen. An dieser Stelle rückt wieder vermehrt die Rolle der Schule als Ort der Netzwerkbildung unter Peers in den Vorder- VHN 4/ 2011 307 Negative Beeinflussung dissozialer Jugendlicher und schulische Präventionsansätze grund, die auch erheblich zum Zusammenfinden von Klassenkameraden im außerschulischen Kontext beiträgt (Müller 2011). Die Kombination von Bestrebungen, die Bildung devianter Peernetzwerke im Schulkontext zu verhindern (z. B. durch Vermeidung der Zusammenführung von Risikoschülern und Maßnahmen zu deren sozialer Integration in eine prosoziale Schulgemeinschaft), und dem gleichzeitigen Versuch, wenig Raum und Anlass für negative Peereinflussprozesse in der Schule zu geben, könnten somit vielversprechende Bausteine zur Prävention dissozialen Verhaltens sein. Literatur Adams, R. E.; Bukowski, W. M.; Bagwell, C. (2005): Stability of Aggression During Early Adolescence as Moderated by Reciprocated Friendship Status and Friend’s Aggression. 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