eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2011
804

Mädchen nach der Heimerziehung - Empirische Evaluation zu Maßnahmenbewertung und Inklusionschancen

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2011
Christina Bommer
Matthias Moch
Wie bewerten junge Frauen, die vor einigen Jahren aus einem Erziehungsheim entlassen worden sind, im Rückblick ihre Fremdunterbringung? Wovon sind ihre Bewertungen abhängig? Inwieweit sind ihnen Erfahrungen, die sie im Heim gemacht haben, für ihr späteres Leben nützlich? Zur Klärung dieser Fragen wurden 33 Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 14 und 23 Jahren mithilfe eines Fragebogens schriftlich befragt. Ihre quantifizierten Antworten zum Erleben im Heim und zu ihrer aktuellen Lebenssituation wurden korrelationsstatistisch ausgewertet. Es zeigte sich, dass die Bewertung des Heimaufenthaltes in erster Linie mit der subjektiven Akzeptanz von Alltagsregeln sowie mit den als vertrauensvoll erlebten Beziehungen innerhalb des Heims zusammenhängt. Über abweichendes Verhalten und Drogenmissbrauch nach dem Heimaufenthalt berichten die jungen Frauen um so seltener, je vertrauter ihre Beziehungen zu den Mitarbeitenden waren und je größer sie ihre Fortschritte in Bezug auf Selbstverantwortung während der Zeit im Heim einschätzten.
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Fachbeitrag 319 VHN, 80. Jg., S. 319 - 330 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art24d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Mädchen nach der Heimerziehung - Empirische Evaluation zu Maßnahmenbewertung und Inklusionschancen Christina Bommer Matthias Moch Ettlingen Duale Hochschule Baden-Württemberg - Stuttgart n Zusammenfassung: Wie bewerten junge Frauen, die vor einigen Jahren aus einem Erziehungsheim entlassen worden sind, im Rückblick ihre Fremdunterbringung? Wovon sind ihre Bewertungen abhängig? Inwieweit sind ihnen Erfahrungen, die sie im Heim gemacht haben, für ihr späteres Leben nützlich? Zur Klärung dieser Fragen wurden 33 Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 14 und 23 Jahren mithilfe eines Fragebogens schriftlich befragt. Ihre quantifizierten Antworten zum Erleben im Heim und zu ihrer aktuellen Lebenssituation wurden korrelationsstatistisch ausgewertet. Es zeigte sich, dass die Bewertung des Heimaufenthaltes in erster Linie mit der subjektiven Akzeptanz von Alltagsregeln sowie mit den als vertrauensvoll erlebten Beziehungen innerhalb des Heims zusammenhängt. Über abweichendes Verhalten und Drogenmissbrauch nach dem Heimaufenthalt berichten die jungen Frauen um so seltener, je vertrauter ihre Beziehungen zu den Mitarbeitenden waren und je größer sie ihre Fortschritte in Bezug auf Selbstverantwortung während der Zeit im Heim einschätzten. Schlüsselbegriffe: Heimerziehung, Mädchen, Katamnese, Inklusion Girls After Residential Care - Empirical Evaluation of Their Stay and Chances of Social Inclusion n Summary: How do young women value their stay in residential care years after their discharge? On which aspects do their assessments depend? In what way are their experiences in residential care helpful for their later life? To answer these questions, 33 girls and young women aged between 14 and 23 years were asked by a questionnaire. The answers about their experiences during their stay in the institution and about their current life situation were quantitatively analyzed by correlation statistics. The results show that the valuation of the stay in residential care corresponds with the acceptance of the everyday rules as well as with the experience of trustful relations in the institution. Deviant behaviour and drug abuse after the discharge was negatively correlated to the progress in responsibility in respect of own social behaviour and social norms which was made in the time during residential care. Keywords: Residential care, girls, catamnesis, inclusion 1 Einordnung des Themas Mit zunehmender Komplexität der Formen, in denen Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen erfolgen (Freigang/ Wolf 2001), wächst auch die Vielfalt wissenschaftlicher Beobachtungen und Befunde über „die Heimerziehung“. Dabei wird zwar der Geschlechteraspekt in den Hilfen zur Erziehung in den vergangenen Jahren verstärkt diskutiert, doch hat er bisher kaum die Aufmerksamkeit erhalten, die ihm von der Sache her zukommt. Denn Jungen und Mädchen unterscheiden sich sehr in Bezug darauf, wie, wann und in welchem Umfang sie Erziehungshilfen erhalten (Hartwig/ Kugler 2010). Darüber hinaus wissen wir nach wie vor sehr wenig über das Leben junger Menschen, nachdem sie aus einem Heim oder einer anderen Wohnform entlassen wurden. Mit Blick auf diese Forschungsdefizite wurden in der vorliegenden Arbeit ehemalige Bewohnerinnen eines Mädchenheims zu ihren Erfah- VHN 4/ 2011 320 Christina Bommer, Matthias Moch rungen befragt. Die Analyse dessen, wie sie auf ihren Heimaufenthalt zurückblicken und welche Folgen er für ihr späteres Leben hatte, wird in ein empirisch gestütztes Modell der Wirkungen von Heimerziehung eingebracht. Besondere Beachtung findet die Frage, inwieweit sich entlassene Mädchen durch den Heimaufenthalt in ihren gesellschaftlichen Inklusionschancen gestärkt sehen. Inklusion (lateinisch: inclusio) wird im soziologischen Sinne verstanden als Einbeziehung, Einschluss, Einbeschlossenheit und Dazugehörigkeit. Inwieweit ein Gesellschaftsmitglied in seiner Individualität akzeptiert und es ihm ermöglicht wird, an der sozialen Gemeinschaft und sämtlichen Lebensbereichen in vollem Umfang teilzunehmen, sagt etwas aus über die Gleichwertigkeit des Individuums innerhalb einer durchaus heterogenen Gesellschaft. Entsprechend begreift die Systemtheorie Luhmanns (1995) die moderne Gesellschaft als eine Vielzahl gesellschaftlicher Teilsysteme, die sich aufgrund systemeigener Operationen zunehmend ausdifferenzieren. Da auch die Institutionen der Jugendhilfe solche Teilsysteme darstellen, stellt sich die Frage, inwieweit die in der Jugendhilfe geförderten jungen Menschen dieselben Teilnahmechancen haben wie die anderen Gesellschaftsmitglieder. Dabei spielen die Erfahrungen der Betroffenen in der Kommunikation mit anderen eine entscheidende Rolle. Denn „Inklusion (und entsprechend Exklusion) kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden. Man kann (…) auch sagen: die Art und Weise, in der sie als ,Personen‘ behandelt werden.“ (Luhmann 1995, 241) 2 Ausgewählte vorliegende Befunde Es liegen etliche empirische Arbeiten vor, die mädchenspezifische Besonderheiten innerhalb der Erziehungshilfen zum Gegenstand haben. Dabei deuten die allermeisten Befunde auf eine klare, mehrfache Benachteiligung von Mädchen hin: 1. Bereits im Vorfeld einer stationären Fremdunterbringung erhalten Mädchen erheblich seltener eine ambulante oder teilstationäre Hilfe als Jungen (Bürger 2002). Während Jungen durch externalisierende Verhaltensstörungen häufig soziale Kontrollmechanismen in Schule und Gemeinwesen auslösen, fallen Mädchen mit Symptomen von Depressivität, Essstörungen oder sozialer Gehemmtheit seltener auf. Für viele Mädchen bedeutet dies, dass ihre Auffälligkeiten und Belastungen oft lange Zeit von der sozialen Umgebung unbemerkt fortbestehen. Sie leben eingebunden in den Kontext ihrer Herkunftsfamilie und sind nicht selten gerade dort deutlichen Entwicklungseinschränkungen bis hin zu schweren Schädigungen ausgesetzt (Schimpf 2007). Ihre Not wird von den Allernächsten nicht erkannt oder keines Hilfegesuchs für wert gehalten. 2. Als Folge dieser Praxis werden Mädchen in der Regel erheblich später in ein Heim aufgenommen als Jungen. Das durchschnittliche Aufnahmealter liegt mit 14 Jahren etwa zwei Jahre über dem der Jungen (Statistisches Bundesamt 2006). Damit geht einher, dass den Mädchen - durch eine kürzere Verweildauer (van Sandten 2010) - insgesamt weniger Entwicklungszeit im Heim verbleibt, bevor sie, in der Regel mit dem Erreichen der Volljährigkeit, entlassen werden. 3. Im Vergleich verschiedener Wohnformen fällt auf, dass Mädchen seltener in klassischen Wohngruppen untergebracht sind (Statistisches Bundesamt 2008, 15). Dies hängt u. a. damit zusammen, dass sie im fortgeschrittenen Jugendalter verstärkt auf individualisierende Hilfen wie z. B. betreute Formen des Einzelwohnens angewiesen sind. Eine besondere Herausforderung liegt hier darin, dass - wie Finkel (2004, 314) betont - bei der stationären Betreuung der Mädchen „der wechselseitigen Anschlussfähigkeit zwischen biografischer Erfahrung und institutioneller Unterstützung eine stark biografiestrukturierende Wirkung zu[kommt]“. VHN 4/ 2011 321 Mädchen nach der Heimerziehung 4. Besondere Bedeutung hat die Heimerziehung von Mädchen auch deshalb, weil heimentlassene Mädchen in ihrem späteren Leben, wenn sie selbst Mütter werden, häufig von einem „parenting breakdown“ (Quinton/ Rutter 1988) betroffen sind; d. h., sie sind nicht in der Lage, ihren eigenen Kindern eine förderliche Erziehung zukommen zu lassen. Es gibt wichtige Hinweise darauf, dass insbesondere die während des Heimaufenthaltes erlebte vertrauensvolle Zuwendung durch Erwachsene dieses Problem wesentlich abschwächen kann (Gumpinger 2009). 5. In einer Schweizer Längsschnittstudie (Tanner 1999) waren die Effekte sozialer Inklusion stark von der konzeptionellen Ausrichtung der Heime abhängig. In der Nachuntersuchung erwiesen sich 15 % der männlichen und zwischen 27 % und 34 % der weiblichen Klienten als vollständig legal bewährt, wobei diese Quoten eng mit der (regional sehr unterschiedlichen) Intensität der Nachbetreuung in Verbindung standen. Finkel (2004, 320) spricht hier von „hoch komplexe[n] Vermittlungsleistungen“ und betont, dass „die organisatorische Ausgestaltung institutioneller Alltagswelten einen nachhaltigen Einfluss darauf [hat], wie diese Anschlussprozesse gelingen können“. 3 Ziel und Fragestellung der Untersuchung Auf der Grundlage dieser Befunde befasst sich die vorliegende Untersuchung mit folgenden Fragen: Wie beurteilen Mädchen einige Jahre nach der Entlassung aus einer stationären Wohngruppe ihre Zeit im Heim, und inwieweit haben ihre dortigen Erfahrungen ihre soziale und gesellschaftliche Inklusion gefördert? Diese Fragestellungen gehen von der Annahme aus, dass es spezifische Erfahrungen und deren subjektive Verarbeitung sind, die nachhaltige Wirkungen für das spätere Leben der Mädchen haben. Gewiss spielen dabei auch die Vorerfahrungen der Mädchen in ihren Herkunftsfamilien eine Rolle. Da Mädchen bei ihrer Fremdunterbringung im Durchschnitt erheblich älter sind als Jungen (Daigler/ Finkel 2000), mussten sie ggf. länger unter destruktiven Familienbeziehungen leiden. Oftmals erlebten die Mädchen also vor dem Heimeintritt schwere Traumatisierungen und eigneten sich inadäquate Verhaltens- und Bewältigungsmuster an. Unter diesen erschwerten Bedingungen versucht Heimerziehung Einfluss zu nehmen auf die Fähigkeiten der Mädchen, sich in weiteren Lebensphasen konstruktiv mit sozialen und sachlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Die zentrale Frage, ob und unter welchen Bedingungen Heimerziehung im Erleben der betroffenen Mädchen zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Inklusion beiträgt, wurde anhand einer - im Rahmen einer Diplomarbeit (Bommer 2007) durchgeführten - empirischen Erhebung verschiedener Entlassungsjahrgänge einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung untersucht. Als potenzielle Probandinnen wurden alle Mädchen erfasst, die in den letzten sieben Jahren auf einer offenen Intensivgruppe für Mädchen untergebracht waren, deren Unterbringungsdauer mindestens vier Monate betrug und deren Entlassung mindestens sechs Monate zurücklag. 4 Das Befragungsinstrument Die schriftliche, stark strukturierte Befragung wurde mittels eines aus 31 Fragen bestehenden Fragebogens durchgeführt. Dieser war in fünf Themenkreise unterteilt, die aufeinander aufbauten und sich am Lebenslauf der Mädchen orientierten: 1. Fragen zur Person (Nationalität, Alter) 2. zur Situation vor dem Heimaufenthalt 3. zur Zeit im Heim 4. zur Situation nach dem Heimaufenthalt 5. zur persönlichen Zukunft. Als Indikatoren zur Beurteilung des Heimaufenthalts wurden Aspekte wie soziale Kontakte und Lernerfahrungen während des Heimaufenthalts, Umgang mit Tagesstruktur und Regeln und Vertrauensbeziehungen zu Personen VHN 4/ 2011 322 Christina Bommer, Matthias Moch gewählt. Bezüglich des weiteren Lebensverlaufs wurden Fragen nach dem Bildungsbzw. Erwerbsstatus, dem Legalverhalten sowie nach den sozialen Kontakten gestellt. Ein besonderes Augenmerk galt der Frage, inwieweit die Mädchen Erfahrungen und Strukturen des Heimalltags in ihr Leben nach dem Heimaufenthalt übertragen bzw. dort erworbene Gewohnheiten beibehalten haben. 5 Felderschließung Um das Vorhaben einer schriftlichen Befragung umzusetzen, war zunächst eine Aktenrecherche notwendig, um - unter Wahrung der Vertraulichkeit - an die Adressen und Telefonnummern der Eltern der Ehemaligen zu kommen. Ausgangspunkt waren 97 entlassene Mädchen, die aktenmäßig im Archiv erfasst waren. Im Verlauf langwieriger, intensiver Bemühungen konnte von 39 Mädchen eine aktuelle Telefonnummer in Erfahrung gebracht werden. Im nächsten Schritt erfolgte in diesen verfügbaren 39 Fällen eine direkte telefonische Kontaktaufnahme, um die Probandinnen über das Vorhaben, den Zweck der Befragung sowie über die Forschungsinteressen zu informieren. Generell reagierten die Mädchen oder ihre Eltern auf das Telefonat freundlich und offen. Jedoch kam in 10 Fällen kein Kontakt zustande, weil entweder die Eltern oder das Mädchen eine Teilnahme ablehnten oder weil Kontakte zwischen Mädchen und Eltern abgebrochen waren. Die nun übriggebliebenen 29 Mädchen waren bereit, an der anonymen schriftlichen Befragung teilzunehmen und freuten sich sehr über das gezeigte Interesse an ihnen. Einige hatten auffällig viele Kontakte zu anderen Mädchen, die sie während der Maßnahme im Heim kennengelernt hatten, und vermittelten das Anliegen an diese Mädchen weiter. Es entwickelte sich eine Art Eigendynamik, sodass sich schließlich 38 Mädchen bereit erklärten, an der Befragung teilzunehmen. Von den 38 versandten Fragebögen kamen 33 korrekt beantwortet und vollständig ausgefüllt zurück. 6 Thesen In erster Linie verfolgte die Studie ein eher deskriptives Interesse an der skizzierten Fragestellung. Darüber hinaus standen jedoch einige spezifische Thesen im Fokus, die gesondert geprüft werden sollten: 1. Die im Rückblick wahrgenommenen Lernerfahrungen im Heim (Verbindlichkeit, Selbstverantwortung) stehen in engem Zusammenhang mit der Bereitschaft, die im Heim geltenden Regeln zu akzeptieren. 2. Der strukturierte Tagesablauf im Heim sowie die akzeptierten Regeln werden als eine positive Grundlage für das Leben nach dem Heimaustritt angesehen. 3. Die Erwachsenen im Heim erfüllen für die entlassenen Mädchen wichtige Funktionen, indem sie Beziehungserfahrungen ermöglichen, welche nach dem Heimaufenthalt das Zusammenleben mit anderen Menschen positiv beeinflussen. 4. Abweichendes und auffälliges Verhalten wird in Abhängigkeit der Erfahrungen von Regelakzeptanz und vertrauensvollen Beziehungen im Heim reduziert. 5. Mit der Dauer des Heimaufenthalts erhöhen sich die sozialen Inklusionschancen nach der Entlassung. 7 Untersuchungsgruppe Die befragten Mädchen waren zum Untersuchungszeitpunkt durchschnittlich 18 Jahre alt. Sie waren zwischen ihrem 12. und ihrem 16. Lebensjahr in die Heimgruppe aufgenommen worden. Die Dauer ihrer Heimunterbringung variierte zwischen 6 und 42 Monaten, wobei einigen wenigen langfristigen Unterbringungen ein Großteil von Unterbringungen bis zu einem Jahr gegenüberstand (Mittelwert = 19,4 Monate; Median = 12 Monate). Zum Entlassungszeitpunkt waren die Mädchen durchschnittlich VHN 4/ 2011 323 Mädchen nach der Heimerziehung 16 Jahre alt. Nur 2 Probandinnen wurden volljährig entlassen, alle anderen waren noch minderjährig. Bei 6 Mädchen erfolgte die Befragung innerhalb des ersten Jahres seit ihrer Entlassung, bei 15 weiteren lag die Entlassung bis zu 2 Jahre zurück. Ein Mädchen war vor 7 Jahren entlassen worden. Zum Zeitpunkt der Befragung betrug das Alter der Probandinnen zwischen 14 und 23 Jahre. Tabelle 1 gibt einen Überblick zu diesen Rahmendaten der Untersuchungsgruppe. 8 Ergebnisse Entsprechend dem Ziel der Arbeit werden schrittweise die Ergebnisse zu den Erfahrungen im Heim und zu deren Bewertung, zu den Lebensbedingungen nach dem Heimaufenthalt sowie zu den Zusammenhängen zwischen diesen Aspekten dargelegt. 8.1 Lebenserfahrungen im Heim Auf einer Notenskala von 1 bis 5 bewerteten die Befragten ihren Heimaufenthalt mit einer Durchschnittsnote von 3,0, wobei nur 7 ein Urteil mit schlechter als 3 abgaben. Keine der Befragten urteilte mit der Note 1. Hinter diesen Bewertungen stehen folgende Erfahrungsaspekte: 8.1.1 Beziehungen und Vertrauen zu Erwachsenen Die Frage nach erwachsenen Ansprechpartnern in Bezug auf persönliche Themen und Probleme erbrachte folgende Ergebnisse: Ein Drittel der Mädchen machte hier die Angabe, eine(n) Erwachsene(n) als Ansprechpartner/ in gehabt zu haben, mit dem/ der sie über persönliche Dinge, Probleme und Gefühle sprechen konnten. Fünfzehn weitere nannten mehrere Erwachsene, und nur zwei sagten, dass sie keinen erwachsenen Vertrauten gehabt hätten. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Mädchen durchaus in der Lage waren, sich zu öffnen und jemandem zu vertrauen. Befragt nach der wichtigsten Vertrauensperson benannten 15 ein Mitglied des Gruppenteams. Allerdings wurde von 14 Befragten - und damit auffallend oft - angegeben, dass es (nur) eine enge Freundin war, die Halt und Vertrauen gab. Dieses Ergebnis könnte darauf hindeuten, dass diese letztgenannten Mädchen vom pädagogischen Angebot der Gruppe nicht erreicht wurden. Vertrauenspersonen befanden sich aber auch in Bereichen außerhalb der Gruppe. So gab ein Drittel den psychologischen Dienst oder die Heimleitung an. Dies verweist darauf, dass auch andere Erwachsene aus dem Heim als Ansprechpartner/ innen fungieren können, wie z. B. der Hausmeister oder die Hauswirtschafterin. Von 33 Mädchen gaben zwölf an, sich von den Erwachsenen während der Heimunterbringung immer oder sehr oft ernst genommen gefühlt zu haben, dreizehn weitere antworteten mit „teils/ teils“. Diese Ergebnisse sprechen im Großen und Ganzen für eine gelungene Wertschätzung vonseiten der pädagogischen Mitarbeiter/ innen den Mädchen gegenüber. 8.1.2 Lernerfahrungen im Heim, Akzeptanz der Regeln, Tagesstruktur Auf die offene Frage nach ihren wichtigsten Lernerfahrungen in der Heimgruppe betonten die Mädchen in erster Linie die Übernahme von Aufnahmealter Unterbringungsdauer (Monate) Entlassalter Alter zum Befragungszeitpunkt Mittelwert Median 14,0 14,0 19,4 12,0 15,7 16,0 17,8 18,0 Tab. 1: Rahmendaten der Untersuchungsgruppe (N = 33) VHN 4/ 2011 324 Christina Bommer, Matthias Moch Verantwortung für ihr eigenes Handeln. Ebenfalls wurden lehrreiche Erfahrungen in Bezug auf Ichstärke und soziales Verhalten genannt. Jeweils etwa ein Drittel der Mädchen hoben den Umgang mit eigenen Aggressionen und/ oder den regelmäßigen Schulbesuch hervor. An den Antworten auf die Frage, inwieweit sie die Regeln in der Gruppe akzeptieren konnten und ob sich diese Akzeptanz im Verlauf der Unterbringung verändert habe, lässt sich im Selbstbericht der meisten eine deutliche Entwicklung erkennen: Während zu Beginn der Maßnahme nur 5 Mädchen die Gruppenregeln „immer“ oder „meistens“ akzeptieren konnten, waren es zum Ende der Maßnahme 20 (von 33). Auch berichteten viele Mädchen davon, dass sie die Tagesstruktur im Verlauf ihrer Unterbringung zunehmend als hilfreich erlebt hätten. Zum Ende der Maßnahme konnten dreizehn von 33 Mädchen den Tagesablauf als wichtige Orientierung für ihr weiteres Leben annehmen. 8.2 Das Leben nach der Heimerziehung 8.2.1 Entlassung und Anschlussmaßnahmen Neunzehn von 33 Mädchen wurden nach der Beendigung der Hilfe in ihre Herkunftsfamilie entlassen, sechs zogen in eine eigene Wohnung, vier kamen in ein anderes Heim, die übrigen zu Verwandten, Freunden oder in eine Pflegefamilie. Diese Quoten entsprechen etwa denen in der Gesamtpopulation der Heimentlassenen (Stat. Bundesamt 2006). Zum Befragungszeitpunkt lebte 1/ 3 alleine in einer eigenen Wohnung, ein weiteres Drittel lebte bei den Eltern oder einem Elternteil. Sieben Mädchen wohnten mit ihrem Freund/ Ehemann zusammen, die übrigen verteilten sich auf Freunde und Verwandte, und nur ein Mädchen gab „keinen festen Wohnsitz“ an. Etwa die Hälfte der Mädchen hatten weiterhin Kontakte zum Jugendamt, indem sie entweder eine niederschwellige Hilfe (betreutes Wohnen, sozialpädagogische Familienhilfe) erhielten oder wieder in einer Einrichtung lebten. 8.2.2 Bildungsstand / Erwerbstätigkeit / ökonomische Situation Zum Zeitpunkt der Befragung hatten 16 Mädchen einen Schulabschluss (10 Hauptschule, 6 mittlere Reife). Ein Drittel besuchte die Schule, ein Viertel befand sich noch in einer Berufsausbildung, bevorzugt in den Berufen Erzieherin, Jugend- und Heimerzieherin, Bankkauffrau, Friseurin, Hauswirtschafterin, Altenpflegerin, Köchin und Einzelhandelskauffrau. Nur zwei hatten einen festen Arbeitsplatz. Neun von 33 jobbten, z. B. als Putzhilfe oder Kellnerin oder aber als Aushilfskräfte im Altenheim und im Einzelhandel, oder sie trugen Zeitungen aus. Nur ein geringer Teil der Befragten (vier Mädchen) nahm zum Zeitpunkt der Befragung staatliche Hilfen (SGB II-Leistungen) in Anspruch. Es kann davon ausgegangen werden, dass die allermeisten entweder während ihrer Ausbildung von ihren Eltern unterstützt wurden (13 Mädchen) oder aber arbeiteten oder jobbten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. 8.2.3 Partnerbeziehungen / Familiengründung / Vertrauenspersonen 19 der 33 Befragten lebten zum Befragungszeitpunkt in einer festen Beziehung zu einem Mann, 13 waren Single, und eine Befragte war verheiratet. Von 33 hatten 10 Mädchen bereits ein Kind, 17 weitere gaben an, sich Kinder zu wünschen. Eine Befragte war schwanger, lediglich 5 sprachen sich definitiv gegen Kinder aus. Die allermeisten Mädchen (25 von 33) gaben an, in ihrem sozialen Umfeld mindestens eine Vertrauensperson zu haben, mit der sie über persönliche Dinge sprechen können. Dies ist in den meisten Fällen (19) der männliche Freund. Nur zwei gaben an, keinen Ansprechpartner bei Problemen zu haben. Die speziellen Erfahrungen während des Heimaufenthaltes schlugen sich im Leben nach der Heimzeit nieder: Etliche hatten starke Bindungen zu ihren ehemaligen Betreuer/ innen aufgebaut und VHN 4/ 2011 325 Mädchen nach der Heimerziehung pflegten diese Beziehung auch Jahre nach der Entlassung weiter. In regelmäßigen Abständen riefen sie an, teilten sich mit, erkundigten sich nach dem Befinden, holten sich Rat und Unterstützung bei Entscheidungsprozessen und Alltagsproblemen. 8.2.4 Deviantes Verhalten / Strafanzeigen Danach befragt, ob sie nach ihrem Heimaufenthalt abweichendes Verhalten gezeigt hätten, antworteten 14 Befragte mit nein oder machten keine Angabe. Bei den übrigen fielen insbesondere Drogenkonsum (13), depressive Stimmungen (8) sowie Selbstverletzungen (7) ins Gewicht. Auf die Frage, ob sie seit ihrer Entlassung eine Strafanzeige bekommen hätten, machten 2/ 3 die Angabe, dass dies nicht der Fall war. Demgegenüber waren 6 Mädchen einmal, 2 bis zu dreimal und 3 mehr als dreimal angezeigt worden. Davon waren jedoch nur 5 Mädchen rechtskräftig verurteilt worden. Diese Ergebnisse zeigen, dass auch nach der Heimerziehung ein Teil der Befragten noch deviantes bzw. kriminelles Verhalten zeigte. 8.3 Was prägt die nachträgliche Bewertung des Heimaufenthalts? Im Folgenden soll nun auf die empirisch geprüften Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen einzelnen der erfassten Erfahrungs-Merkmale eingegangen werden. Hierbei konnten insbesondere jene Variablen herangezogen werden, welche einzelne Erfahrungen auf Rangskalenniveau (Skala 1 - 5) abbildeten. Bei der folgenden Analyse wird grundsätzlich von der Annahme ausgegangen, dass eine vorhergehende Erfahrung (in der Herkunftsfamilie oder im Heim) sich - in erwartbarer Weise - im späteren Erleben der Person widerspiegelt. Bei der statistischen Auswertung der rangskalierten Variablen sind wir daher von jeweils einseitigen Signifikanz-Prüfungen der Rangkorrelationen (nach Spearman) ausgegangen. Darüber hinaus muss jedoch wiederum berücksichtigt werden, dass die Ergebnisse auf Berichten der Mädchen beruhen und somit Ausdruck ihres jeweiligen subjektiven Erlebens sind. Zunächst soll gezeigt werden, welchen Stellenwert die Mädchen dem Heimaufenthalt für ihr weiteres Leben einräumen. Auf die Frage, inwieweit ihnen „die Zeit im Heim für ihr weiteres Leben was gebracht“ hat, antworten die Befragten mit einer Durchschnittsnote von 2,0. Mit 11 Befragten bewertet ein Drittel den Nutzen des Heimaufenthaltes für ihr weiteres Leben mit 1, nur 6 Befragte urteilen mit einer Note schlechter als 3. Dieses Ergebnis steht in deutlicher Diskrepanz zur unmittelbaren Bewertung des Heimaufenthalts selbst (s. Abschnitt 8.1). Dabei zeigen unsere Ergebnisse die bereits häufig beobachtete Tatsache, dass entlassene junge Menschen ihren Heimaufenthalt umso positiver beurteilen, je älter sie zum Zeitpunkt der Befragung sind (r = .31; P < .05) und je länger die Heimentlassung zurückliegt (r = .30; p < .05). Der Eindruck, in Bezug auf den Umgang mit Aggressionen, Akzeptanz von Regeln, Regelmäßigkeit des Schulbesuchs und Verantwortungsübernahme etwas gelernt zu haben, nimmt mit fortgeschrittenem Lebensalter (r = .34; P < .05) sowie mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Heimentlassung (r = .41; P < .01) zu. Dies bestärkt die Vermutung, dass Aspekte wie psychosoziale Reife, aber auch die nachträgliche Verarbeitung der Erlebnisse im Heim in Verbindung mit den Lebenserfahrungen danach wesentlich dazu beitragen, dass der eigene Heimaufenthalt rückblickend in positiverem Licht erscheint als zum Entlassungszeitpunkt. Offensichtlich können viele den Gewinn, den sie für sich aus der Heimerziehung gezogen haben, in fortgeschrittenen Reifestadien eher erkennen als im Jugendalter selbst. Dies gilt insbesondere für die Erfahrung, dass die Strukturierung des Tagesablaufs, wie sie im Heim erlebt wurde, mit zunehmendem Lebensalter als Orientierung in der aktuellen Lebensführung angesehen wird (r = .59; P < .01). VHN 4/ 2011 326 Christina Bommer, Matthias Moch Welche Aspekte sind es, denen die Mädchen bei der rückblickenden Beurteilung des Heimaufenthalts besondere Beachtung schenken? In Abbildung 1 sind die wesentlichen Aspekte sowie die statistisch signifikanten Zusammenhänge (Signifikanzniveau: α ≤ .05) zwischen diesen dargestellt. Es sind vor allem zwei Erfahrungskomplexe, die hier in den Blick kommen: 1. Die Erfahrung, innerhalb des Heims Personen gefunden zu haben, mit denen die Mädchen über Gefühle und persönliche Dinge sprechen konnten, trägt wesentlich zur Gesamtbewertung des Heimaufenthaltes bei (r = .42; P < .01). Zu diesem Personenkreis können - wie bereits erwähnt - durchaus auch Freundinnen und andere Personen außerhalb des Heimpersonals zählen. Bezieht man die Frage der Vertrauensbeziehungen nur auf die Heim- Mitarbeiter/ innen, so zeigt sich auch hier ein positiver Zusammenhang (r = .36; P < .05). 2. Das zweite Themenbündel bezieht sich auf die Akzeptanz von Rahmenbedingungen und Regeln. Je mehr es den Mädchen gelungen ist, im Verlauf ihres Aufenthalts die gegebenen Regeln zu akzeptieren (r = .46; P < .01), und je mehr die Bedingungen sie darin unterstützt haben, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen (r = .35; P < .05), desto positiver haben sie den Heimaufenthalt in Erinnerung. In Bezug auf die weitergehende Frage, inwieweit ihnen der Heimaufenthalt für ihr weiteres Leben nützlich ist oder war, erweisen sich insbesondere das Vertrauen zu den Mitarbeiter/ innen (r = .35; p < .05) sowie die eigenen Lernfortschritte in Bezug auf Selbstverantwortung (r = .55; P < .01) und Anerkennung der Regeln (r = .40; P < .05) als bedeutsam. 8.4 Inwieweit schlagen sich die Erfahrungen im Heim im späteren Leben tatsächlich nieder? Inwieweit können wir mit unseren Ergebnissen zeigen, dass der Heimaufenthalt im Erleben der Mädchen mit ihren Erfahrungen und ihren Lebensbedingungen danach in Verbindung steht? Wie schätzen die Mädchen - direkt befragt - Abb. 1: Selbstberichte von Mädchen zu Bewertung und Nutzen ihres Heimaufenthaltes: Signifikante empirische Rangkorrelationen (Spaerman) zwischen spezifischen Aspekten VHN 4/ 2011 327 Mädchen nach der Heimerziehung selbst den Nutzen für ihr späteres Leben ein? Zwei Drittel der Mädchen (21 von 33) geben an, dass „die Zeit im Heim“ für ihr Leben „sehr viel bzw. viel gebracht hat“. Diese Aussage korreliert sehr hoch mit der Übernahme von Elementen des Tagesablaufs im Heim (r = .59; P < .01), mit Lerneffekten in Bezug auf Selbstverantwortung (r = .55; P < .01) und mit der abstinenten Haltung gegenüber illegalen Drogen im weiteren Leben (r = .43; P < .01). Bedeutsame Zusammenhänge ergeben sich auch zum erlebten Vertrauen zu anderen Menschen im Heim, zur Akzeptanz der Alltagsregeln sowie zu der Erfahrung, nicht mehr in frühere, dissoziale Verhaltensmuster zurückgefallen zu sein (r = -.34; P < .05). Des Weiteren wurden die im Fragebogen erfassten Aussagen zur Zeit im Heim direkt zu den Angaben zum Leben nach der Entlassung (soziales Netzwerk, Übernahme von Aspekten des Tagesablaufs im Heim, dissoziale Verhaltensweisen, Drogenkonsum, aktuelle ökonomische Situation) in Beziehung gesetzt. Insgesamt zeigen sich nur wenige, hier aber durchaus bedeutsame Zusammenhänge: Am deutlichsten treten in den Berichten der Mädchen die Auswirkungen des Heimaufenthalts auf ihren Drogenkonsum hervor: Selbst erlebte Fortschritte in Bezug auf Regelakzeptanz und Selbstverantwortung stehen in klarem Zusammenhang zu vermindertem Konsum illegaler Drogen (r = .48; p < .01; r = .50; P < .01). Drogenabstinenz korreliert ihrerseits mit der Übernahme von Aspekten des Tagesablaufs im Heim (r = .35; P < .05). Darüber hinaus zeigte sich, dass umso weniger über dissoziale Verhaltensweisen (Selbst- oder Fremdverletzung, Depression, Sachbeschädigung oder ähnliche Verfehlungen) berichtet wird, je stärker das Vertrauensverhältnis zu Mitarbeiter/ innen im Heim erlebt wurde (r = -.40; P < .05). Die Summe der möglichen Ansprechpartner im aktuellen sozialen Netz korrespondierten klar mit Anzahl und Bedeutung der Vertrauenspersonen (auch Freundinnen und Nicht-Fachpersonen) während des Heimaufenthalts (r = .35; P < .05). Der Umfang des sozialen Netzwerks steht allerdings auch mit den aktuellen ökonomischen Bedingungen der Mädchen in Verbindung (r = .36; P < .05). Was die Beurteilung ihrer aktuellen Lebenskompetenzen anbetrifft, äußerten sich viele Mädchen recht optimistisch: Auf die Frage „Würdest du sagen, du hast dein Leben im Griff? “, antworteten 16 Mädchen mit „sehr gut“. Die durchschnittliche Bewertung liegt bei 1,3. Erstaunlich ist, dass diese Aussage mit keinem Aspekt zur Bewertung des Heimaufenthalts korreliert. Dieser Optimismus fällt jedoch umso geringer aus, je später das Mädchen in die Wohngruppe kam (r = .33; P < .05). Bleibt zuletzt die Frage, ob sich nicht die Lebenslage und die Familienverhältnisse vor dem Heimaufenthalt in den Lebensbedingungen danach widerspiegeln, ob also die Lebensbedingungen der Herkunftsfamilien auf das Leben nach dem Heim „durchschlagen“. Soweit unsere Daten dies abbilden, zeigte sich, dass häufiger über dissoziale Verhaltensweisen und Drogenkonsum berichtet wird, wenn die Eltern nicht erwerbstätig, sondern von staatlichen Finanzhilfen abhängig waren (r = .46; P < .01; r = .34; P < .05). 9 Interpretation und Schlussfolgerungen Die Ergebnisse der Untersuchung widerspiegeln die subjektiv erlebte Welt der befragten Mädchen während der Erziehungsmaßnahme im Heim und danach. Diese Wirklichkeit wurde von den Probandinnen unterschiedlich aufgenommen, verarbeitet und retrospektiv bewertet. Ihre Biografien sowie ihre Antworten auf die Fragen nach der Heimerziehung lassen es zu, die Ergebnisse zu interpretieren, aufgestellte Thesen zu überprüfen und Tendenzen herauszuarbeiten, die für die Soziale Arbeit in punkto Heimerziehung von Bedeutung sind. Die pauschale Aussage der meisten Befragten, dass „die Zeit im Heim für das Leben was gebracht“ hat, wird durch zahlreiche qua- VHN 4/ 2011 328 Christina Bommer, Matthias Moch litative und quantitative Einzelbefunde gestützt und bestätigt im Wesentlichen die Ergebnisse von Kormann (2005). Die fachlichen Bemühungen der Mitarbeiterschaft um vertrauensvolle Beziehungen, Tagesstruktur, soziale Regeln und Selbstverantwortung sind bei den Mädchen angekommen und zeigen in ihrem subjektiven Erleben nachhaltige Wirkungen. In einem Ranking der diesbezüglich am häufigsten konkret genannten Begriffe stand die Übernahme eines geregelten Tagesablaufes ganz oben, dicht gefolgt von Sauberkeit, regelmäßig zur Schule gehen und Pünktlichkeit. Somit können die oben genannten Thesen 1 und 2 als empirisch bestätigt gelten. Sie bestätigen auch die Aussage von Finkel (2004, 320), dass gelingende Verselbstständigung „immer auch etwas mit den jeweils ausgehandelten und gesetzten Handlungsrahmen der Einrichtungen zu tun“ hat. Ersichtlich ist auch, dass die Mädchen während ihrer Heimzeit weiterhin soziale Kontakte nach „außen“ pflegten. Immerhin 10 gaben an, eine(n) Ansprechpartner/ in außerhalb des Heimes zu haben. Dies untermauert - wie bereits von Normann (2003) gezeigt -, wie sinnvoll ein lebensweltorientiertes Konzept in der Heimerziehung ist und wie wichtig und notwendig es ist, das soziale Umfeld des Mädchens (etwa Schulfreunde) in das Wohngruppenleben mit einzubeziehen. Denn die sozialen Erfahrungen, die während dieser Zeit gemacht werden, sind für das spätere soziale Leben nachweislich von großer Bedeutung, wie es in These 3 postuliert wurde. In Bezug auf deviantes Verhalten in der Zeit nach der Heimentlassung (These 4) sind die Ergebnisse etwas weniger eindeutig. Sehr klar zeigt sich, dass diejenigen Mädchen, die auf (weiteren) Konsum illegaler Drogen (weitgehend) verzichten, dies mit vielfältigen Aspekten der Lernerfahrungen im Heim in Verbindung bringen. Andere Verhaltensänderungen werden (nur) mit den erlebten vertrauensvollen Beziehungen zu den Mitarbeiter/ innen im Heim in Zusammenhang gebracht. Dabei kann nicht verschwiegen werden, dass ein Teil der Befragten, der diese Erfahrungen nicht oder kaum machen konnte, (weiterhin) deviantes bzw. kriminelles Verhalten zeigte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit konnten diese Mädchen im Rahmen des gegebenen Gruppensettings pädagogisch nicht mehr oder nur ungenügend erreicht werden. Insbesondere wurde unsere 5. These, wonach sich die sozialen Inklusionschancen mit der Dauer der Unterbringung erhöhen, nicht bestätigt. Hier muss gewiss berücksichtigt werden, dass bei einem durchschnittlichen Aufnahmealter von 14 Jahren die in der Herkunftsfamilie erworbenen Verhaltens- und Bewältigungsmuster bei einem Teil der Befragten bereits soweit verfestigt waren, dass die Dauer der Unterbringung nicht mehr ins Gewicht fiel. Die Ergebnisse der oben dargelegten qualitativen und quantitativen Studien, welche besagen, dass die rückblickende Bewertung des Heimaufenthaltes durch die Mädchen von spezifischen Erfahrungen des Vertrauens, der Selbstverantwortung und der Strukturierung des Alltags abhängig ist, werden durch die hier vorgelegte Studie voll bestätigt. Die Annahme, dass die Chancen zur sozialen Inklusion (in Bezug auf Bildungsbeteiligung und Legalverhalten) der Mädchen und jungen Frauen durch die Heimerziehung steigen, wird in unserer Untersuchung insoweit bestätigt, als vertrauensvolle soziale Kontakte während der Zeit im Heim, vertrauensvolle Beziehungen, zunehmende Akzeptanz der Regeln im Heim und Lerneffekte bezüglich Selbstverantwortung und Verlässlichkeit dazu führen, dass die Mädchen und jungen Frauen nach der Entlassung in ein soziales Netz integriert sind. Des Weiteren tragen - im Erleben der Befragten - Strukturen des Heimalltags wesentlich dazu bei, späteren Drogenkonsum zu reduzieren. Abweichende Verhaltensweisen (Autobzw. Fremdaggression, Depressivität u. Ä.) werden in dem Maße überwunden, in dem zu Mitarbeiter/ innen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden konnte. VHN 4/ 2011 329 Mädchen nach der Heimerziehung Indem Heimerziehung alltagsbezogene Kompetenzen stärkt, wird durch sie die soziale Inklusion der jungen Menschen unterstützt und ihnen ein besseres Zurechtkommen in der Gesellschaft ermöglicht. Ein Teil der von Heimerziehung Betroffenen kann diese Erfahrungen jedoch nicht (mehr) machen: Sie verharren in ihrer tendenziell isolierten, eher verweigernden Position, zeigen auch nach dem Heimaufenthalt deviantes Verhalten und kehren möglicherweise in destruktive Beziehungsstrukturen zurück, wo sie ihre Lernerfahrungen nur begrenzt umsetzen können. Die Ergebnisse sprechen für die Vermutung, dass sich insbesondere die Letztgenannten nach erlebten Vertrauensbeziehungen sowie nach einem klaren Tagesablauf, der ihren Alltag strukturiert, zurücksehnen. Für einen allmählichen „Sinneswandel“ spricht auch, dass der Heimaufenthalt mit zunehmendem zeitlichem Abstand positiver beurteilt wird. Für die Praxis haben diese Ergebnisse folgende Konsequenzen: 1. Erfolgt die Unterbringung in einer Wohngruppe im Lebenslauf des Mädchens relativ spät, so sind die Chancen auf einen positiven Beziehungsaufbau und eine nachhaltige Lebensorientierung reduziert. Einiges spricht dafür, dass die Aufnahme in eine Wohngruppe zu einem Zeitpunkt erfolgen muss, zu welchem die Identitätsentwicklung gegenüber neuen hilfreichen Beziehungen in einem Gruppensetting noch offen ist. 2. Daraus ergibt sich, dass der Übergang vom Heim in ein eigenständiges Leben außerhalb der Einrichtung verstärkt (etwa durch Erziehungsbeistandschaft) fachlich begleitet werden muss. Für ein Mädchen, das trotz seines dissozialen Verhaltens Kontakt zu einer erwachsenen Person sucht, zu dieser Person Vertrauen und damit vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben eine tragfähige Beziehung aufbaut, stellt dies einen enormen Entwicklungsschritt dar. Die „Nachwirkungen“ der Heimerziehung sind daher - wie Tanner (1999) gezeigt hat - wesentlich davon abhängig, inwieweit der Übergang begleitet, gefördert und unterstützt wird. Wenn die Traumatisierungskette am Ende der Heimunterbringung nicht durch einen erneuten Beziehungsabbruch fortgesetzt werden soll, müssen die Bezugserzieher/ innen für die Mädchen auch nach ihrer Heimentlassung - zumindest in der Übergangsphase während begrenzter Zeit - Ansprechpartner/ innen bleiben. Für diese Umsetzung müssten innovative Konzepte entwickelt werden. Literatur Bommer, Christina (2007): Trägt Heimerziehung zu einer Verbesserung der Inklusion bei? - Eine empirische Nacherhebung bei Mädchen verschiedener Entlassungsjahrgänge einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Diplomarbeit: Duale Hochschule Baden-Württemberg - Stuttgart. Bürger, Ulrich (2002): Praxis der Hilfegewährung im Leistungskanon der erzieherischen Hilfen. Disparitäten in altersklassen- und geschlechtsspezifischer Analyse. 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Weinheim: Beltz, 270 - 285 Kormann, Georg (2005): Ehemalige im Kinderdorf - Die innerseelische Situation und Entwicklung der Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen in einer Einrichtung der stationären Ju- VHN 4/ 2011 330 Christina Bommer, Matthias Moch gendhilfe - Eine empirische Untersuchung auf der Basis von Gesprächen mit Ehemaligen aus einem Kinder- und Jugenddorf und einer Aktenanalyse. Dissertation, Universität Hamburg. München: M-Press Luhmann, Niklas (1995): Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag Normann, Edina (2003): Erziehungshilfen in biografischen Reflexionen. Weinheim: Beltz Quinton, David; Rutter, Michael (1988): Parenting Breakdown. The Making and Breaking of Inter- Generational Links. Aldershot: Avebury van Sandten, Eric (2010): Verweildauer in den erzieherischen Hilfen. In: Forum Erziehungshilfen 16, 97 - 98 Schimpf, Elke (2007): Familialisierung der Jugendhilfe als Zumutung für Mädchen und junge Frauen. 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