eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art02d
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2011
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„Ältere Menschen wohnen doch alle im Wohnheim!“

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2011
Bettina Lindmeier
Thema des Beitrags ist die Situation älterer Menschen mit geistiger Behinderung, die bei hochbetagten Eltern leben. Sie werden bislang von Angeboten der Behindertenhilfe kaum erreicht, und viele von ihnen müssen im Rahmen von Kriseninterventionen aufgrund von Krankheit oder Tod der Eltern in Wohneinrichtungen aufgenommen werden. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Lebenssituation dieser Familien und den Möglichkeiten ihrer Unterstützung.
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Fachbeitrag 7 VHN, 80. Jg., S. 7 - 18 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Ältere Menschen wohnen doch alle im Wohnheim! “ Zur Situation älterer Menschen mit geistiger Behinderung im Elternhaus Bettina Lindmeier Leibniz Universität Hannover n Zusammenfassung: Thema des Beitrags ist die Situation älterer Menschen mit geistiger Behinderung, die bei hochbetagten Eltern leben. Sie werden bislang von Angeboten der Behindertenhilfe kaum erreicht, und viele von ihnen müssen im Rahmen von Kriseninterventionen aufgrund von Krankheit oder Tod der Eltern in Wohneinrichtungen aufgenommen werden. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Lebenssituation dieser Familien und den Möglichkeiten ihrer Unterstützung. Schlüsselbegriffe: Alter und geistige Behinderung, ältere Menschen im Elternhaus, Wohnen behinderter Menschen “Isn’t it Obvious that All Elderly People do Live in Residential Homes? ” The Situation of Elderly People with Intellectual Disabilities Living with their Families n Summary: This article deals with the situation of elderly people with intellectual disabilities living together with their very old parents. Hitherto, they could hardly be included in the care system for disabled persons. Therefore a lot of them have to be admitted with utmost urgency in a residential home for disabled people in case of illness or death of their parents. The article researches into the situation of these families and the alternative offers of assistance. Keywords: Old age and intellectual disability, elderly people in their parents’ home, living arrangements for people with disabilities 1 Ausgangslage Familien, in denen erwachsene Menschen mit (geistiger) Behinderung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter mit ihren hochbetagten Eltern, einem Elternteil oder anderen Angehörigen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wurden bis vor einigen Jahren für eine zu vernachlässigende Minderheit gehalten. Mit dem qualitativen und quantitativen Ausbau der Wohnangebote wurde es im Verlauf der 1970er Jahre und der folgenden Jahrzehnte immer selbstverständlicher, dass auch Menschen mit einer geistigen Behinderung dem als gesellschaftlich normal angesehenen Lebenslauf folgten und im jungen Erwachsenenalter von zu Hause auszogen. Die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit war dementsprechend lange Zeit auf die Verbesserung der Wohnversorgung gerichtet, die sich sowohl durch Deinstitutionalisierungs- und Enthospitalisierungsprogramme als auch den Ausbau von Alternativen zu Wohnheimen, wie etwa dem ambulant betreuten Wohnen, vollzog. Dabei wurde übersehen, dass eine große Anzahl geistig behinderter Menschen - für die Bundesrepublik Deutschland sprechen Schätzungen von 60 % aller erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung - im Elternhaus leben (vgl. Theunissen 2002, 13). Für die meisten europäischen Länder wird ebenfalls von erheblichen Zahlen ausgegangen, für Großbritannien beispielsweise von geschätzten 44 % (Hogg/ Lambe 1998). Es ist allerdings schwer abzuschätzen, wie viele dieser Menschen bereits im fortgeschrittenen Erwachsenenalter sind und wie alt die Eltern VHN 1/ 2011 8 Bettina Lindmeier oder der verbliebene Elternteil sind. Janicki (2002) nennt für die USA eine Zahl von 26 % geistig behinderter Menschen, die bei Betreuungspersonen von über 60 Jahren leben (vgl. zusammenfassend Bigby 2004, 194). Bis zum Eintritt einer Krise handelt es sich um einen unauffälligen Personenkreis, denn das familiäre Betreuungsarrangement hat sich über Jahrzehnte eingespielt und sich mit zunehmendem Alter der Eltern häufig in Richtung einer gegenseitigen Unterstützung gewandelt, sodass auch die Eltern von der Anwesenheit ihres behinderten „Kindes“ vermehrt profitieren und wenig Interesse an einer Veränderung zeigen. Veränderungen der Betreuungssituation treten sehr häufig durch Krankheit, Tod oder Pflegebedarf eines Elternteils ein, und meist erfolgt dann die Aufnahme des behinderten Menschen in eine Wohneinrichtung. Wenn dies unter Zeitdruck geschieht, kann sowohl die Auswahl der Einrichtung als auch die Vorbereitung und Information des behinderten Menschen und der Mitarbeiter nicht in der Form erfolgen, die wünschenswert wäre, wenngleich Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe zunehmend differenzierte und individuelle Angebote entwickeln. Im Interesse einer selbstbestimmten Lebensführung erscheint es aus fachlicher Sicht wünschenswert, rechtzeitig vor Eintritt einer Krise Vorkehrungen für eine Sicherung der Wohn- und Lebenssituation zu treffen. Auch den Eltern und einem Teil der behinderten Angehörigen ist bewusst, dass Krankheit oder Pflegebedürftigkeit jederzeit zu beträchtlichen Problemen führen können, und der Gedanke an die Zukunft ist bei einem Großteil der Eltern mit Sorge verbunden. Dennoch zögern viele Familien die Auseinandersetzung mit der zukünftigen Wohn- und Lebenssituation des behinderten Angehörigen auf unbestimmte Zeit hinaus. In anderen Familien werden zwar Pläne gemacht, ihre Umsetzung wird aber bis zu einer Verschlechterung der Situation aufgeschoben. Diese Strategie ist nicht selten verbunden mit dem Wunsch, den behinderten Angehörigen zu überleben; ein Wunsch, der letztlich einen Todeswunsch in Bezug auf das behinderte Familienmitglied darstellt und daher bei pädagogischen Fachkräften häufig auf vehemente Ablehnung stößt. Er gehört zu den vielen Faktoren, die eine Zusammenarbeit von Fachkräften mit „älteren Familien“ erschweren. Er wird zwar nicht akzeptabel, jedoch besser verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass dieser Elterngeneration durch Ärzte und pädagogische Fachkräfte in den 1960er und 1970er Jahren sehr oft eine geringe Lebenserwartung ihrer Kinder prognostiziert wurde, auf die sie sich in ihrer biografischen Planung eingestellt haben und die sie mehrfach korrigieren mussten. Angesichts der deutlich gestiegenen Lebenserwartung ist heute davon auszugehen, dass Menschen mit geistiger Behinderung ihre Eltern überleben. Menschen mit sehr schweren Behinderungen haben noch immer eine geringere, individuell sehr unterschiedliche Lebenserwartung. Bei Menschen mit Down-Syndrom ist die Lebenserwartung ebenfalls geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt, jedoch nicht mehr so gering, dass Eltern damit rechnen könnten, ihr Kind mit Down-Syndrom zu überleben. 2 Stand der Forschung Im angelsächsischen Raum setzt man sich bereits seit einiger Zeit mit der Situation älterer Familien intensiv auseinander (vgl. für Australien exemplarisch Bigby 2000; 2004; für England Mencap 2002; Wertheimer 2003; Walker 2005; Magrill 2005; für die USA Heller/ Factor 1991). Im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige Erhebungen, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind: Eine Untersuchung von Klicpera/ Gasteiger-Klicpera (1997) beschäftigt sich mit der Lebenssituation von zu Hause lebenden Menschen mit geistiger Behinderung in Südtirol, die keine Einrichtungen für behinderte Menschen in Anspruch nehmen. Sie konstatiert neben räumlichen Barrieren im ländlichen Raum eine schlechte „Passung“ der Unterstützungsangebote aus der Sicht der Familien bei VHN 1/ 2011 9 Ältere Menschen mit geistiger Behinderung einer grundsätzlichen Zufriedenheit mit der derzeitigen Situation auch bei den behinderten Menschen. Darin unterscheiden sich ihre Ergebnisse von gleichzeitig durchgeführten Untersuchungen aus dem angelsächsischen Raum, in denen vielfach über Bevormundung durch die Eltern geklagt wurde (vgl. Klicpera/ Gasteiger- Klicpera 1997, 260). Allerdings fehlten in vielen Familien Überlegungen oder Pläne für die zukünftige Gestaltung der Wohnsituation. Stamm (2008) analysierte die Lebenssituation von Familien mit erwachsenen geistig behinderten Angehörigen im Raum Minden- Lübbecke im Hinblick auf Möglichkeiten des Hilfesystems, sie beim Übergang in neue Wohnformen zu unterstützen. Der Fokus der Untersuchung richtet sich nicht speziell auf ältere Menschen im Elternhaus. Borchers u. a. (2007) untersuchten die Perspektiven alternder Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, die in ihren Herkunftsfamilien leben. Dazu wurden 27 Menschen mittels problemzentrierter Interviews befragt, die selbst zu ihrer Situation Auskunft geben konnten. Aufgrund dieser für den deutschsprachigen Raum sehr lückenhaften Literaturlage werden in die folgende Darstellung auch erste Ergebnisse eines eigenen Forschungsprojekts einbezogen, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie SILQUA-FH (Sicherung von Lebensqualität im Alter) gefördert wird. In der ersten Phase der Bestandserhebung wurden 21 Experteninterviews mit Mitarbeitern verschiedener Arbeitsbereiche einer Einrichtung der Behindertenhilfe geführt, die der Erfassung des Betriebs- und Kontextwissens zum Thema Alter und Behinderung und den im betreffenden Werkstätten- und Wohnverbund gefundenen Lösungsansätzen dienten. Mit den über 55-jährigen Beschäftigten wurden Zukunftstage zur Erhebung ihrer Wünsche in Bezug auf den Ruhestand durchgeführt. Alle Zitate von Mitarbeitern in diesem Artikel sind den Experteninterviews entnommen, die Wünsche der behinderten Menschen selbst sind Ergebnisse der Zukunftstage. 3 Die Lebenssituation „älterer Familien“ mit behinderten Angehörigen 3.1 Die unterschiedliche Sicht auf geistige Behinderung und familiäre Leistungen durch Gesellschaft und Fachkräfte während der vergangenen Jahrzehnte Betagte Eltern haben im Verlauf ihrer Elternschaft extreme Veränderungen in Bezug auf den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung, die Erwartungen an Eltern, die fachlichen Prinzipien der Betreuung und die vorhandenen Angebote erlebt. Dies wird in der angelsächsischen Literatur durchgehend hervorgehoben und durch Äußerungen von Eltern illustriert (vgl. zusammenfassend Bigby 2004, 195). In besonderer Weise trifft dies auf Eltern in Deutschland und den während des Nationalsozialismus durch Deutschland besetzten Gebieten zu, z. B. in Österreich und vielen osteuropäischen Ländern. Auch Eltern, deren Kinder erst nach der NS-Zeit geboren wurden, wurden mit dem noch lange nachwirkenden eugenischen Gedankengut konfrontiert und hatten es als Mitglieder ihrer Gesellschaft selbst zumindest in Teilen verinnerlicht. Aber auch in anderen Länden herrschte noch eine stark defizitorientierte Sicht auf geistig behinderte Kinder, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Lebenserwartung und die Möglichkeiten ihrer Betreuung. Eltern wurde bis in die 1970er Jahre empfohlen, ihr Kind ins Heim zu geben, häufig mit dem Hinweis auf das anderenfalls wahrscheinliche Scheitern ihrer Ehe und die zu erwartenden Schäden für weitere Kinder der Familie. Heute führen die inzwischen etablierten Leitprinzipien der Behindertenhilfe wie Selbstbestimmung und Empowerment dazu, dass Fachkräfte die Eltern als überbehütend wahrnehmen. Wieder tendieren Fachleute dazu, die Lebensleistung der Eltern nicht als solche wahrzunehmen. VHN 1/ 2011 10 Bettina Lindmeier 3.2 Das Erleben der Eltern Betagte Eltern sehen sich keineswegs als „Problemgruppe“. Sie haben sich gut mit der Situation arrangiert und erleben weniger Stress als jüngere Familien mit einem behinderten Kind. Zum Coping gibt es eine Reihe von Untersuchungen aus dem angelsächsischen Raum, die darauf hinweisen, dass die Familien die Situation subjektiv gut bewältigt haben, aber Fachkräfte dies oft nicht ausreichend wahrnehmen und würdigen, da sie die familiären Wertvorstellungen und Lebensperspektiven zu wenig berücksichtigen (Seltzer/ Krauss 1994; 2001; Grant 2000). Viele Eltern ziehen beispielsweise Befriedigung und Stolz aus der Tatsache, keine Hilfe annehmen zu müssen, allein zurechtzukommen und das „Kind“ gut versorgt zu wissen. Dagegen sehen insbesondere jüngere Fachleute die Situation der Familie oft sehr negativ, weil sie sie aufgrund eines anderen Wertesystems beurteilen und Selbstverwirklichung, neue Erfahrungen für alle Familienmitglieder und persönliches Wachstum vermissen, wenn beispielsweise eine Familie nie in den Urlaub gefahren ist, der behinderte Angehörige nie eine Nacht außerhalb des Elternhauses verbracht hat oder ihm wenig Möglichkeiten zu eigenständigen Entscheidungen eingeräumt werden. Mit zunehmendem Alter entwickeln sich die Beziehungen in Richtung interdependenter Beziehungen, da der behinderte Angehörige Aufgaben im Rahmen der täglichen Versorgung übernehmen kann, beispielsweise das Tragen von Einkäufen oder die Verrichtung von Hausarbeiten und Pflegetätigkeiten, meist unter Anleitung. Für verwitwete Elternteile ist auch die Anwesenheit einer weiteren Person im Haushalt von großer Bedeutung, wie die folgenden Zitate zeigen: „Ja, das ist dann, das ist sogar auch mit ein Grund, weshalb alte Eltern auch gar nicht unbedingt ihren Sohn abgeben wollen, weil er ist ja immer noch da und wenn ich denn falle, dann ist ja mein Sohn noch da, der das zumindest sieht und gelernt hat er vielleicht, einen Telefonhörer abzunehmen, um eine Nummer zu wählen, weil ich es ihm beigebracht habe.“ „Da sagte mal ein Vater, der Anfang 80 war, der sagte dann: Ich weiß, man sollte sie eigentlich ins Wohnheim geben, aber man behält sie ja auch für sich selber. Also dass es auch klar ist. Ein gewisses Interesse daran besteht, das, was jahrzehntelang die Eltern-Kind-Beziehung, die so da war. Die will man mit dem Alter, also wenn man sie so viele Jahrzehnte hatte, möchte man sie im Alter nicht missen.“ Auch der finanzielle Beitrag zum Familienbudget durch Werkstattlohn, Rente für Menschen mit Behinderung bzw. EU-Rente 1 und möglicherweise Pflegegeld kann ein Grund sein, die familiäre Wohnsituation aufrechtzuerhalten. Verwitwete Mütter erhalten in der Regel keine eigene Rente oder Pension, sondern nur die Witwenrente, da sie Hausfrauen waren: „Und vielleicht gibt es auch eine finanzielle Abhängigkeit bei den Eltern, dass diese Beschäftigten gerade noch zu Hause wohnen. Weil es gibt schon die Fälle, dass über die Beschäftigten z. B. das Auto finanziert wird oder anders irgendwie steuerlich auch abzurechnen ist, als wenn ich das für mich habe. (…) Das müssen wir schon mit bedenken, dass ein Stück Lebensunterhalt vielleicht auch dadurch gesichert wird, obwohl es nicht so sein sollte, dass, es ist vielleicht auch ein Stück Normalität, dass das dann eben doch so ist.“ 3.3 Das Erleben der geistig behinderten Angehörigen Das Erleben der erwachsenen „Kinder“ ist noch wenig untersucht. Befragungen sind angesichts der Tendenz zur Zufriedenheit von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren eingeschränkten Möglichkeiten zum Vergleichen von Alternativen auch nur bedingt aussagekräftig. Eine angelsächsische Studie berichtet, dass die behinderten Angehörigen sich zum Teil durchaus andere Lebensperspektiven vorstellen können oder wünschen, sich aber verantwortlich fühlen für ihre Eltern, wie das Zitat implizit verrät: „Not being nasty, but when my mum goes I’d like to marry Isabell“ (Walmsley 1996, 12). Walmsley weist auch darauf hin, dass die Eltern die Kontrolle über finanzielle Fragen, Lebensstil und familiäre Rollen weitgehend behalten; Hinweise darauf ergeben sich auch aus der Untersuchung VHN 1/ 2011 11 Ältere Menschen mit geistiger Behinderung von Borchers u. a. (2007) sowie aus den Experteninterviews unserer Untersuchung (vgl. unten). Die Befragung von älteren Mitarbeiter/ innen in Werkstätten im Rahmen der Zukunftstage ergab sehr unterschiedliche Aussagen: Neben Stolz auf die Leistungen für die Familie, welche die Haushaltsführung und die Pflege pflegebedürftiger Elternteile umfassten, wurde - teilweise von den gleichen Personen - Sorge vor eigener Überforderung bei zunehmender Pflegebedürftigkeit der Eltern geäußert (vgl. Lindmeier 2010). 3.4 Die allmähliche Überwindung des „Ablösungspostulats“: Wahrnehmung der Familien durch Fachkräfte Familien mit älteren behinderten Angehörigen wurde in den letzten Jahrzehnten der Vorwurf gemacht, sie hätten „die Ablösung verpasst“. Die erste kritische Auseinandersetzung mit dieser Auffassung erfolgte durch Weiß (2002), der eine Analogie zum „Annahmepostulat“ in der Frühförderung herstellte. In der Frühförderung hatte in den 1980er Jahren eine intensive Diskussion über die Forderung von Fachleuten stattgefunden, Eltern müssten die Behinderung ihres Kindes „annehmen“. Diese Forderung führte bei Eltern vielfach dazu, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten und ihre sachliche Kritik an Einrichtungen der Behindertenhilfe oder am Handeln von Fachkräften mit dem Hinweis abgewehrt wurde, sie hätten „die Behinderung nicht angenommen“ (vgl. zusammenfassend Weiß u.a. 2004, 137ff ). Weiß beschreibt eine in ähnlicher Weise gegen Kritik immunisierende Haltung in Bezug auf die Ablösung von Eltern und erwachsenen behinderten „Kindern“: Eltern, die unzufrieden mit den vorhandenen Angeboten sind, können mit der Aussage zum Schweigen gebracht werden, sie hätten lediglich die Ablösung nicht vollzogen oder seien an ihr gescheitert. Diese Haltung gegenüber Eltern hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt, wozu verschiedene Entwicklungen beigetragen haben: n Die Angebote für erwachsene Menschen mit Behinderung haben stetig zugenommen; Fachleute arbeiten mit stärkerem Bezug zum Sozialraum und versuchen gewachsene soziale Netze zu stärken. In diesem Prozess wuchs die Sensibilität dafür, wie groß die Anpassungsleistungen von Familien und behinderten Menschen auf der Suche nach einem geeigneten Wohn- und Unterstützungsangebot sein können und dass auch ein grundsätzlich gutes Angebot nicht unbedingt dem gewünschten Lebensstil entspricht. Die Bedeutung familiärer Beziehungen auch für erwachsene Menschen wird durch das Bestreben, soziale Netze zu würdigen und zu erhalten, besser erkannt. Zum Umzug in ein gemeindenahes Wohnheim sagt eine Mitarbeiterin entsprechend: „Aber ne, das ist so eine, aus meiner Sicht eine zweischneidige Geschichte, ne. Zu sagen, jemand, der relativ fit ist und zu Hause gelebt hat, der hat natürlich auch einen gewissen, gerade wenn er selbstständig ist, ne, hat er natürlich auch eine gewisse Lebensqualität, die im Wohnheim unter Umständen eingeschränkt wird. Äh, selbstständiges Wohnen, mit all dem, was damit verbunden ist, auch wenn die Eltern mit dabei sind. Für andere ist Wohnheim, wenn sie jetzt zu Hause rauskommen, soziale Kontakte haben, an bestimmten Angeboten teilnehmen (…) Da ist dann für die vielleicht, dass der Wechsel in ein Wohnheim mehr Lebensqualität bedeutet. Also ich glaube, das hängt immer auch vom Einzelfall ab.“ n Es wurden vermehrt Erfahrungen mit Familien im Verlauf von Kriseninterventionen gesammelt, wenn in Familien mit hochbetagten Betreuungspersonen wegen Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Tod kurzfristig Lösungen gefunden werden mussten. Die Einsicht in die Dynamik der Familiensysteme und die Notwendigkeit des Handelns im Interesse der Beteiligten hat dazu beigetragen, dass Schuldzuweisungen und Appelle vielerorts einer pragmatischen Herangehensweise gewichen sind. VHN 1/ 2011 12 Bettina Lindmeier „Jetzt war jedenfalls ein Fall, der Vater war über 90, lebte mit seiner geistig behinderten Tochter, (…). Der hat immer zu ihr gesagt, wenn ich mal, du wirst immer hier wohnen bleiben. Das hat sie auch immer gesagt, in der Werkstatt. Sie war schon einmal zur Kurzzeit und da hat sie auch jeden Tag gefragt, immer, jeden, den sie traf, wann sie wieder nach Hause kann, ne? (…) Die hat immer nur eigentlich gewartet, dass sie wieder nach Hause kann. Und im letzten Jahr kam schon mal eine Notaufnahmeanfrage und da ist es auch zu Hause geregelt worden. Sie ist alleine zu Hause geblieben, da wohnt niemand sonst in dem Haus. Und der Vater hatte sich das so gedacht, da wird einer von den anderen Söhnen mal einziehen und dann kann sie da wohnen bleiben auch. Dann, die haben sich aber alle völlig zerstritten, das wurde natürlich gar nichts, der Sohn fühlte sich überhaupt völlig, gar nicht akzeptiert und gefragt und so. Es gab dann auch ganz schwierige Verhältnisse, auf jeden Fall war es natürlich jetzt, der Vater kam von heute auf morgen ins Krankenhaus und kam auch nicht wieder zurück. So richtig voll aus dem Leben und alle schrien Kakao und haben gesagt, diese Frau muss sofort einen Wohnheimplatz haben.“ (Im weiteren Verlauf schlugen die Söhne das Erbe aus, weil ihnen die ganze Situation zu kompliziert erschien, blieben aber gesetzliche Betreuer. Der Wohnverbund arbeitete gemeinsam mit ihnen intensiv an einer Lösung, die vorsieht, dass die Frau weiterhin im Elternhaus wohnen kann und ambulant betreut wird. Die Entscheidung des Sozialhilfeträgers bezüglich der Kostenübernahme für die gefundene Lösung steht allerdings noch aus, sodass der Träger des Wohn- und Werkstättenverbunds hier trotz der ungesicherten Refinanzierung auf eigenes Risiko in Vorleistung treten musste, um die gewünschte Lebens- und Wohnsituation zu sichern.) n Wohneinrichtungen haben sich zum Teil sehr intensiv mit dem Leitprinzip der Selbstbestimmung auseinandergesetzt. Selbstbestimmung ernst zu nehmen bedeutet auch, das Votum behinderter Menschen ernst zu nehmen, die bestehende Lebenssituation aufrechtzuerhalten. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Wunsch von Fachleuten, dem behinderten Menschen andere Perspektiven zu öffnen, vor allem dann, wenn Hinweise vorliegen, dass er die Lebenssituation im Elternhaus mehr aus Rücksicht auf die Eltern denn aus eigenem Interesse fortführt, wie das folgende Zitat einer Werkstattmitarbeiterin zeigt: „Ich habe einen Mann da, der ist also auch - man merkt, dass der Abbau stattfindet, und ich bin also immer wieder dabei und versuche die Eltern davon zu überzeugen, die also auch beide über 80 sind, dass es besser für sie wäre, für die Eltern, und auch für den Mann, dass er wirklich ins Wohnheim ginge, weil die Eltern es, das geht nicht. Das fängt schon damit an, dass er, also ganz eingeschränkte Zeiten hat. Er geht also morgens früh aus dem Haus, bleibt bis nachmittags um viere hier [in der Werkstatt], ist um fünfe wieder zu Hause und geht um 7 Uhr abends ins Bett. Der Mann ist über 40. Ich denke, da könnte man noch was machen, aber die Eltern, die Kraft der Eltern ist einfach nicht da, da muss ich das akzeptieren.“ 3.5 Nutzung von Angeboten im Verlauf der Lebensspanne Familien mit älteren behinderten Angehörigen sind zu einer Zeit mit der Behinderung ihres Kindes konfrontiert worden, als das Unterstützungssystem noch wenig ausdifferenziert war. Der Ausbau von Frühförderung und Sonderkindergärten steckte vielerorts noch in den Anfängen, das Gleiche gilt für die Beschulung. Integration fand mancherorts in der Form statt, dass ein behindertes Kind, das unauffällig war, einfach „mitlief“. Eine Integration im heutigen Sinne, die den besonderen Bedürfnissen eines Kindes mit Behinderung in einer Regeleinrichtung zu entsprechen sucht, gab es allerdings nicht. Viele Eltern haben die Ablehnung ihres Kindes durch Regeleinrichtungen oder sogar durch Sondereinrichtungen erlebt. Wie bereits erwähnt, rieten Fachkräfte der Behindertenhilfe bis in die 1970er Jahre häufig dazu, das Kind ins Heim zu geben, und argumentierten mit den besseren Fördermöglichkeiten, der Gefahr VHN 1/ 2011 13 Ältere Menschen mit geistiger Behinderung des Scheiterns der Ehe und den Schwierigkeiten für die anderen Kinder der Familie. Selbst wenn solche Erfahrungen nur vereinzelt gemacht wurden, waren sie in vielen Fällen dennoch prägend für die Wahrnehmung der Gesamtsituation: Viele Eltern kamen zum Schluss, dass es besser sei, die Betreuung des Kindes autonom zu regeln und zu verantworten, was den damaligen Vorstellungen von Familienleben als Privatangelegenheit und der geringen Bedeutung außerhäuslicher Betreuungsangebote (auch für nicht behinderte Kinder) entsprach. Allerdings sind die meisten behinderten Erwachsenen, die im Elternhaus leben, in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt, sodass durchaus ein Zugang zu Unterstützungsleistungen stattgefunden hat (vgl. Borchers u. a. 2007; Stamm 2008, 257). Die Tätigkeit in der Werkstatt wird von den meisten Menschen mit Behinderung als befriedigend erlebt. Neben der Beschäftigung sind auch die Pflege von sozialen Kontakten und Freundschaften und die Inanspruchnahme von Angeboten der beruflichen Bildung und im Bereich des Sports wichtig für die Beschäftigten (vgl. Lindmeier 2010). Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zur Situation beispielsweise in Großbritannien, wo von 25 % behinderten erwachsenen Menschen im Elternhaus ausgegangen wird, die überhaupt keinen Zugang zu Unterstützungsleistungen haben (Magrill 2005). 4 Unterstützung von und Zukunftsplanung mit älteren Familien 4.1 Zukunftspläne der Familien Eine vergleichsweise ältere Untersuchung von Richardson und Ritchie (1989) kommt zum Ergebnis, dass Familien hinsichtlich der Planung der Zukunft drei unterschiedliche Grundhaltungen einnehmen, die die Autoren als „bejahend“, „vermeidend“ und „ambivalent“ bezeichnen. Ein Teil der Familien erstellt relativ konkrete, zum Teil schriftlich festgelegte Pläne. Andere machen Pläne, die nur mündlich abgesprochen werden. Hinzu kommt, dass nach Grant (1989) die Hälfte der Eltern innerhalb von zwei Jahren ihre Pläne änderten. Mitunter sieht ein Plan auch vor, bis zum eigenen Tod die gewohnte Lebenssituation aufrechtzuerhalten und Vereinbarungen mit einer Wohneinrichtung über eine anschließende Aufnahme bzw. ambulante Versorgung im Elternhaus zu treffen: „Oder ein Aufnahmegespräch musste ich führen, da kam, um bei diesem Thema Alter zu bleiben, da kam eine, kommt hier auch aus der Nähe, eine 92-jährige alte Frau, mit ihrer 55-jährigen Tochter, die noch nie woanders geschlafen hat, zog ihre Tochter hinter sich her an der Hand. Nehmen Sie meine Tochter, wenn ich sterbe? “ [Interviewerin]: Puh. „Ja. Mit über 90 darf man auch wohl ans Sterben denken. Noch nie von zu Hause weg.“ Bigby (2004, 24) weist darauf hin, dass die Benennung von sog. „key persons“, Vertrauenspersonen, die Verantwortung für eine reibungslose Gestaltung des Übergangs übernehmen, sehr günstig ist. Dem ist aus unseren Erfahrungen prinzipiell zuzustimmen. Mitunter fühlen sich die benannten Personen allerdings in einer Weise den Wünschen der (verstorbenen) Eltern verpflichtet, die sie stark unter Druck setzt: „… bei einer Beschäftigten bei uns ist es so, da hat die Schwester, also die Tante von ihr, die hat also dem Vater auf dem Sterbebett versprochen, ich kümmere mich so lange, wie ich kann. So, da sitzen dann auch wieder, da sitzt dann wieder so ein Druck darin“. 4.2 Wünsche der Familien bezüglich Unterstützung Trotz der sehr unterschiedlichen Lebenssituationen und Motivlagen der beteiligten Personen soll im Folgenden versucht werden, Schlussfolgerungen aus den vorliegenden Erkenntnissen zu ziehen und Vorschläge für Forschung und Praxis zu entwickeln. Bigby benennt als ein wichtiges Ziel vieler Familien, die bestehende Lebenssituation auf- VHN 1/ 2011 14 Bettina Lindmeier rechtzuerhalten (2004, 218; 221). M. E. ist die (fehlende) Anerkennung dieses Zieles in seiner lebensgeschichtlichen Relevanz und vordringlichen Bedeutung der Schlüssel zum Verständnis dafür, dass diese Familien von den bestehenden Unterstützungsangeboten bisher schlecht erreicht wurden. Neue Formen der Unterstützung müssen dieser Tatsache Rechnung tragen. Die konkreten Wünsche der Familien beziehen sich zum einen auf praktische Hilfestellungen, die den Alltag erleichtern, zum anderen auf emotionale Unterstützung, die sich durch Vertrauen, Wertschätzung und Respekt ausdrückt. Bigby (2004, 213) nennt u. a. Unterstützung der Mobilität durch Fahrdienste und Taxigutscheine und die Anpassung der häuslichen Umgebung an bestehenden Pflegebedarf. Unsere Untersuchungsergebnisse verweisen auf die hohe Bedeutung von Kurzzeitunterbringung, Beschäftigung oder, nach dem Übertritt in den Ruhestand, die Gewährleistung von Tagesbetreuung für Senioren sowie die Gewährleistung von Mobilität im ländlichen Raum. Emotionale Unterstützung ist zentral für den Aufbau von Vertrauen und einem Gefühl von Sicherheit; die folgende Aussage der Leiterin der Kurzzeitbetreuung zeigt, dass Vertrauen häufig über konkrete Tätigkeiten aufgebaut werden muss. „Ich mache es so, in der Regel, um warm zu werden, dass ich ihnen immer erst die Einrichtung zeige und eher zurückhaltender bin, um halt ihnen auch die Möglichkeit zu geben, ihre Eindrücke mir mitzuteilen. Das ist sehr unterschiedlich, das ist auch spannend, der Erstkontakt. Dann gehen wir in der Regel in mein Büro (…). In der Regel ist es so, dass ich diejenige bin, die die Fragen stellt, damit es nicht so anstrengend ist, auch wenn die sehr sehr viele Fragen haben, mindestens so viele wie ich. Ich erkläre das im Vorfeld. (…) Und dafür brauche ich natürlich auch viele Informationen, und dafür brauche ich aber auch das Vertrauen. Sonst geht der Schuss nach hinten los. Sonst kommen die nicht. Und da kommen die kritischsten Fragen. Also was wie, wenn Sie mir beweisen, dass Sie meinen Sohn liften können, dann kriegen Sie ihn. Also ganz andere Denkweisen, die ich gar nicht, die ich gar nicht habe unbedingt. So. Da muss ich ihnen das zeigen, dass das geht, weil das ist dann für die wichtig.“ 4.3 Konsequenzen für die Unterstützung älterer Familien Eine angemessene und als sinnvoll erlebte Unterstützung von älteren Familien muss eine doppelte Strategie verfolgen: Sie muss zum einen die Wünsche und Bedarfe der Eltern als relevant und aus ihrer Perspektive sinnvoll anerkennen, selbst wenn sie fachlichen Standards nicht entsprechen. Zum anderen muss sie die langfristigen Bedürfnisse der behinderten Menschen einbeziehen. 4.3.1 Gestaltung des Zugangs In vielen Ländern ist eines der zentralen Probleme der Zugang zu den sogenannten „hidden families“, den Familien, die keinerlei Kontakt zu Unterstützungsangeboten haben. Es ist zwar davon auszugehen, dass es auch im deutschsprachigen Raum solche Familien gibt. In Deutschland ist es aber so, dass ein sehr großer Teil der Familien Angebote zur Beschäftigung oder Tagesgestaltung in Werkstätten und Tagesförderstätten nutzt. Die begleitenden Dienste oder Sozialdienste der Werkstätten und die Leiter der Arbeitsgruppen sind daher Fachkräfte, die meist einen langjährigen, wenngleich losen Kontakt zu den Angehörigen von zu Hause lebenden Beschäftigten haben. Sie genießen oft das Vertrauen der Menschen mit Behinderung und ihrer Eltern und können so Informationen über Entlastungsmöglichkeiten geben und Kontakte zu anderen Fachdiensten herstellen. Auch Einrichtungen der Kurzzeitpflege und familienunterstützende Dienste haben die Funktion von „Türöffnern“. Da sie in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Finanzierungsbedingungen vielerorts nicht kostendeckend arbeiten können, werden sie nicht so intensiv beworben, wie es für die Zielgruppe der älteren Familien sinnvoll wäre; nicht alle VHN 1/ 2011 15 Ältere Menschen mit geistiger Behinderung Familien kennen das Angebot, und noch weniger nutzen es regelmäßig (vgl. auch Hirchert 2002, 101f ). 4.3.2 Der Unterstützungsprozess für die Eltern Fachkräfte argumentieren häufig mit der Entlastung der Eltern und führen einen überwiegend rationalen Diskurs - eine Vorgehensweise, die anscheinend mitunter an den Bedarfen vorbeiläuft. So argumentiert eine Interviewpartnerin: „Die Eltern können nicht mehr. Ich akzeptiere das, aber mir tut auch irgendwo der Junge leid. Aber an manche Eltern kommt man leider nicht ran, das ist das Problem. Wir haben es also schon mit mehreren Sachen hier vom Haus versucht, aber ist nicht.“ „Was waren das für Sachen? “ (…) „Überlegen Sie sich das mal, Sie haben mehr Zeit, Sie können mal alleine wegfahren, Sie können was unternehmen, brauchen nicht, müssen nicht ständig zu Hause sein, wenn der Mann wiederkommt nach Hause, ne? Es ist nichts, nichts mit gut zureden oder so, ist im Moment nicht.“ Wenn es für die Eltern wichtig ist, ihren Angehörigen selbst und weitgehend ohne fremde Hilfe versorgt zu haben, dann ist die eigene Entlastung möglicherweise das falsche Argument, da sie zugleich eine Belastung darstellt durch das Gefühl, versagt zu haben oder dem Kind nicht gerecht zu werden. In einer solchen Situation wäre möglicherweise ein Angebot hilfreich, das den Gewinn für den Angehörigen in den Mittelpunkt stellt, wie ein Freizeitwochenende oder - oft erst nach Jahren der Zusammenarbeit - eine Urlaubsfreizeit. In dieser Interpretation findet das transaktionale Modell der Stressbewältigung nach Lazarus Anwendung, das davon ausgeht, dass nicht die realen Belastungen und Ressourcen allein, sondern auch ihre Bewertung durch die Beteiligten von zentraler Bedeutung sind. Diese Bewertung muss durch die Eltern selbst erfolgen (für die Rezeption in der Sonderpädagogik vgl. Heckmann 2003, 72ff ). Neben Informationen für die Eltern und einem wertschätzenden, ergebnisoffenen, geduldigen Zugehen haben daher die Angebote für ihre behinderten Angehörigen zentrale Bedeutung. 4.3.3 Der Unterstützungsprozess für die behinderten Menschen Nicht nur viele ältere Eltern vermeiden eine Zukunftsplanung, auch Fachleute scheuen sich davor, zumal wenn sie die Chance als gering einschätzen, in Zusammenarbeit mit den Eltern zu einer Lösung zu gelangen. Bowey und McGlaughlin (2005) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Kultur der Behütung“ im angelsächsischen Raum: Die Konfrontation von Menschen mit Behinderung im Elternhaus mit der Notwendigkeit von Zukunftsplanung wird vermieden, um ihnen Angst und Trauer zu ersparen. Die Autoren weisen aber darauf hin, dass diese Vorgehensweise die Angst und die Trauer noch verstärken können. Angebote für Menschen mit Behinderung können ebenso praktische Unterstützung in der Alltagsgestaltung beinhalten wie die Erweiterung der biografischen Kompetenz. Praktische Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der aktuellen Lebenssituation betrifft neben der Beschäftigung in der Regel die Mobilität, die Freizeitgestaltung, Ferien oder Kurzzeitbetreuung. Diese Formen sind bekannt und können bezüglich der Wünsche der behinderten Menschen und der Akzeptanz der Angehörigen leicht abgefragt werden. Die Umsetzung ist angesichts der Refinanzierungsbedingungen oft schwieriger, da Unterstützung der Mobilität und der Freizeitgestaltung zumindest in Deutschland zu den unzureichend vorhandenen und fast immer mit deutlichen Belastungen des Familienetats verbundenen Leistungen zählen. Persönliche Budgets, die hier hilfreich sein könnten, werden vielerorts nur sehr restriktiv angeboten und müssen mit viel Aufwand eingefordert werden, was den Zugang deutlich erschwert. VHN 1/ 2011 16 Bettina Lindmeier Die Förderung biografischer Kompetenz kann durch Angebote der Erwachsenenbildung geschehen. Neben allgemeinen Angeboten zur Biografiearbeit ist die Arbeit mit einem Lebensbuch sinnvoll, das einerseits eine Dokumentation des bisherigen Lebens und eine Auflistung der wichtigen und erhaltenswerten Informationen ist und das andererseits die Auseinandersetzung mit dem gewünschten Lebensstil fördert (vgl. Magrill 2005; Oermann 2008). 5 „Alles soll so bleiben, wie es ist“: Arbeit mit einem Lebensbuch Diese Äußerung wurde von einem Teilnehmer in einer ersten Pilotphase zur Einführung der Arbeit mit einem Lebensbuch in einer der Werkstätten des Projektpartners gemacht. Wörtlich genommen erscheint dieser Zukunftswunsch kaum realisierbar. Die Möglichkeit, im Rahmen des Erwachsenenbildungskurses einen solchen Wunsch äußern zu können, zu erzählen, was einen bewegt, es zu fotografieren und aufschreiben zu lassen, hat aber greifbare Folgen: Die Teilnehmer haben sich mit den Dingen auseinandergesetzt, die ihnen viel bedeuten, Kollegen und Kursleiter haben sich dafür interessiert, haben nachgefragt und Vorschläge gemacht, Eltern sind zu einer Abschlusspräsentation eingeladen worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass wesentliche Dinge erhalten bleiben, ist dadurch gestiegen. Die Werkstattkollegen aus dem Kurs und ein Mitarbeiter des Begleitenden Dienstes können in Zukunft wichtige Ansprechpartner werden, falls sich die Lebenssituation dieses Menschen verändern sollte. Sie haben einige seiner Bedürfnisse und liebgewonnenen Gewohnheiten kennengelernt; sie wissen, dass er ein Lebensbuch besitzt, das auch kleine Details der Tagesgestaltung, die Namen von Ansprechpersonen und Bedürfnisse auflistet und das er nutzen kann, um sich auch unbekannten Personen mitzuteilen und ihnen gegenüber Unterstützungsbedarf zu formulieren. So sind die Voraussetzungen gut, dass der von einer Mutter geäußerte Zukunftswunsch auch verwirklicht werden kann: „Mein Sohn soll sich später einmal so wohlfühlen wie heute zu Hause.“ Anmerkung 1 Menschen mit Behinderung, die 20 Jahre in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt waren, erhalten eine Rente, deren Höhe sich nicht an ihrem realen Verdienst orientiert, sondern an der durchschnittlichen Rentenhöhe in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn sie in einer Wohneinrichtung leben oder ambulant betreut werden, wird die Rente auf die Grundsicherung oder die Teilhabeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII angerechnet. Leben sie sozialhilferechtlich selbstständig, beispielsweise in einer Einliegerwohnung im Elternhaus, oder auch bei den Eltern im elterlichen Haushalt selbst und nehmen keine Sozialleistungen in Anspruch, bleibt diese Rente erhalten. Bislang können sie trotz Erhalt der Rente bis zum Alter von 65 Jahren weiterhin in der WfbM tätig sein, was die meisten geistig behinderten Menschen tun. Literatur Allen, R.; Petr., C. (1998): Rethinking Family Centered Practice. In: American Journal of Orthopsychiatry 68, 4 - 15 Bigby, C. (2000): Moving on Without Parents: Planning, Transition and Sources of Support for Older Adults with Disabilities. Sydney: Maclennon & Patty Bigby, C. (2004): Ageing with a Lifelong Disability. London & Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers Borchers, A.; Hellmann, M.; Olejniczak, C. (2007): Perspektiven alternder Menschen mit schwerster Behinderung in der Familie. Hannover: Selbstverlag Bowey, L.; McGlaughlin, A. (2005): Adults with a Learning Disability Living with Elderly Carers Talk about Planning for the Future: Aspirations and Concerns. In: British Journal of Social Work 35, 1377 - 1392 Grant, G. (1989): Letting Go: Decision Making Among Family Carers of People with Mental Handicap. 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