eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art23d
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2011
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(Des-)Integration im egozentrierten Netzwerk behinderter Menschen

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2011
Alina Kirschniok
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der netzwerkorientierten Perspektive auseinander und führt ausgewählte soziologische Theoreme der Netzwerkforschung in den heilpädagogischen Diskurs ein. Auf der Grundlage dieser Theoreme und empirischer Studien wird die These aufgestellt, dass die wohlfahrtsstaatliche Behindertenhilfe in Deutschland zu Netzwerkbeschränkungen im egozentrierten Netzwerk eines Menschen mit Behinderung beiträgt.
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Fachbeitrag 45 VHN, 80. Jg., S. 45 - 56 (2011) DOI 10.2378/ vhn2010.art23d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel (Des-)Integration im egozentrierten Netzwerk behinderter Menschen Alina Kirschniok Dortmund n Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der netzwerkorientierten Perspektive auseinander und führt ausgewählte soziologische Theoreme der Netzwerkforschung in den heilpädagogischen Diskurs ein. Auf der Grundlage dieser Theoreme und empirischer Studien wird die These aufgestellt, dass die wohlfahrtsstaatliche Behindertenhilfe in Deutschland zu Netzwerkbeschränkungen im egozentrierten Netzwerk eines Menschen mit Behinderung beiträgt. Schlüsselbegriffe: Netzwerkanalyse, egozentriertes Netzwerk, starke/ schwache Beziehungen, strukturelle Löcher, institutionelle Netzwerkbeschränkung (Des-)Integration in the Self-Centred Network of Disabled Individuals Due to Institutional Network Restrictions for Handicapped People in Germany n Summary: This article examines the network-oriented perspective and introduces selected sociological theories of network research into the ongoing discussion of special education. Based on these theories and empirical studies, the author presents the theory that governmental services for disabled care in Germany play a role in restricting the egocentric networks of people with disabilities. Keywords: Network-analysis, egocentric networks, strong ties/ weak ties, structural lacks, institutional network restriction 1 Ausgangslage Die Auseinandersetzung mit einer Annäherung an die Netzwerk- und sozialräumliche Perspektive in der deutschen Heilpädagogik begann Ende der 1980er Jahre mit den Protagonisten Badura, Beck, von Ferber und Schiller und erfuhr mit der Einführung der Schrift zur Umfeld- und Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe von Beck und Franz (2007) erneuten Aufschwung. In den methodischen Ansätzen der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik in Deutschland gilt die netzwerkorientierte Perspektive 1 als etabliert. Die netzwerkorientierte Perspektive reicht durch die Verbindung der Methodenkonzepte der Sozialraum- und der Lebensweltorientierung über die klassische Dreiteilung in Einzelfallhilfe, Gruppen- und Gemeinwesenarbeit hinaus. Blickt man in die benachbarten Disziplinen, so stellt man fest: In der soziologischen Netzwerkforschung wird der Einsatz von qualitativen Netzwerkerhebungen eher gering geschätzt, wohingegen mathematischstatistische Verfahren zur Erfassung sozialer Strukturen einen höheren Stellenwert besitzen. Insgesamt lassen sich in der internationalen humanwissenschaftlichen Landschaft nebeneinander laufende Methodenstränge sowie ein uneinheitlicher theoretischer Konsens skizzieren. Die Entwicklung eines disziplin- und länderübergreifenden Instrumentariums für die Erhebung sozialer Strukturen im Sinne der netzwerkorientierten Perspektive ist angesichts der Bestrebungen international vergleichender Forschung unausweichlich. Mit einem einheitlichen empirischen Instrument lassen sich Rahmenbedingungen der Adressaten sozia- VHN 1/ 2011 46 Alina Kirschniok ler Hilfen erheben und Erkenntnisse über soziale Strukturen und deren ökonomische und politische Kontexte gewinnen. Die Komplexität von Problemlagen der Adressaten sozialer Hilfen ist u. a. aufgrund der Wirtschaftskrise deutlich gewachsen; dies dürfte sich am Beispiel wohlfahrtsstaatlich organisierter Verbände in der deutschen Behindertenhilfe bemerkbar machen. Interessant könnte ein Vergleich des Status quo der sozialen Ressourcen bzw. ihrer Verknappung in Europa, Amerika und Asien sein. Ziel eines einheitlichen analytischen Instrumentariums ist nicht nur die Erfassung sozialer Ressourcen. Ein ebenso wichtiges Ziel ist es, konzeptionelle Rahmenbedingungen für eine potenzierte gesellschaftliche Wertschöpfung hinsichtlich des sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitals zu formulieren und politisch zu gestalten. Die Entwicklung eines disziplin- und länderübergreifenden empirischen Instruments zur Erfassung sozialer Strukturen im Sinne der netzwerkorientierten Perspektive steht noch aus. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Einführung und kann daher nicht alle qualitativen und quantitativen Ansätze der empirischen Netzwerkanalyse berücksichtigen. Aus der Fülle und Breite der diskutierten und angewandten Ansätze werden ausgewählte qualitativ-analytische Ansätze der empirischen Netzwerkanalyse kurz umrissen und zwei soziologische Theoreme vorgestellt. Auf der Grundlage dieser Theoreme wird die Hypothese aufgestellt, dass die wohlfahrtsstaatliche Behindertenhilfe 2 in Deutschland zu Netzwerkbeschränkungen im egozentrierten Netzwerk eines Menschen mit Behinderung beiträgt. Ziel des folgenden Abschnittes ist jedoch zunächst eine grundlegende Erläuterung zum Spektrum der Schlüsselbegriffe der Netzwerkforschung und der in diesem Beitrag verwendeten Begriffe, bevor darauf aufbauend die Analysen, Debatten und Theoreme skizziert werden. 2 Das Spektrum der Schlüsselbegriffe und die Vielfalt der forschungspraktischen Anwendung einer Netzwerkanalyse In der Auseinandersetzung mit dem Begriff des „sozialen Netzwerks“ stößt man schnell an seine Grenzen, oder anders formuliert: Die Netzwerkforschung untersucht virtuelle, technische, neuronale und soziale Netzwerke. Der Begriff des sozialen Netzwerks ist vom Begriff des sozialen Netzes zu unterscheiden. Ferner ist nach Castells (1996) die Weltgesellschaft als Netzwerkgesellschaft beispielsweise von egozentrierten und partiellen Netzwerken zu differenzieren. Auch grenzt sich die psychologische Netzwerk- und Unterstützungsforschung von der soziologischen Netzwerkforschung ab. Taucht man tiefer in das Spektrum der Schlüsselbegriffe der Netzwerkforschung ein, so stellt man fest, dass dieses Spektrum mehrere Ebenen umfasst. Daher kommt es bei der Verwendung der Schlüsselbegriffe „soziale Netzwerke“, „soziales Netz“, „Akteure“, „Formen des Austausches/ soziale Unterstützung“, „Funktionen des sozialen Austausches/ der sozialen Unterstützung“ usw. disziplin- und fachintern wie -extern nicht selten zu Missverständnissen. Es werden fachübergreifend verschiedene Akteurskonstellationen (Individuum bis Institution) mit unterschiedlichen Schwerpunkten sowie unterschiedlichen Zielgruppen und theoretischen Bezügen untersucht und beschrieben. Die in der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse angewandten Verfahren lassen sich in qualitative und quantitative 3 aufteilen. Für die Entwicklung eines einheitlichen Analyseinstruments zur Erfassung sozialer Strukturen und ihrer Eigenschaften sind einerseits die Definitionen des sozialen Netzwerks, der Akteure, der Form und Funktion des sozialen Austausches in der Vertikalen zu systematisieren, und andererseits ist die horizontale Ebene zu berücksichtigen 4 . In der horizontalen Differenzierung unterscheidet die soziologische Netzwerkforschung totale, partielle und ego- VHN 1/ 2011 47 Egozentriertes Netzwerk behinderter Menschen zentrierte Netzwerke. Über die Erfassung eines egozentrierten Netzwerks lassen sich nicht nur die sozialen Kontakte eines Individuums darstellen, sondern beispielsweise auch die Wechselseitigkeit und Intensität der Verbindungen. Die Analyse des egozentrierten Netzwerks gilt in der partiellen Netzwerkforschung als besondere Form, mit der auch die (Des-)Integration einer Person untersucht werden kann. Die Analyse des egozentrierten Netzwerks teilt sich in die relationale und die positionale Analyse auf. Die positionale Analyse konzentriert sich beispielsweise ausschließlich auf die Positionen und Rollen bestimmter Teilgruppen. Exemplarisch beschrieben, lassen sich in der Stadt Köln innerhalb eines spezifizierten Wohlfahrtsverbands-Typus zwei strukturell äquivalente Positionen abbilden: Der eine Bereichsleiter verfolgt die subjektzentrierte therapeutische Förderung des behinderten Menschen, der andere richtet sich nach dem sozialraumorientierten Handlungsprinzip und fördert die Stärkung und Vernetzung sozialer Angebote für den behinderten Menschen. Eine relationale Analyse hingegen ermittelt die Zentralität und das Verbundenheitsgefühl zwischen einzelnen Individuen. So sind in Abbildung 1 die Individuen A, B und C über G und M miteinander verbunden. Das Individuum B ist zentraler als A und C. Nehmen wir an, es handle sich bei der Abbildung um die beruflichen Kontakte einer blinden Frau (A) im Alter von 35 Jahren, so ließen sich analog dazu die Zentralität und das Verbundenheitsgefühl eines blindes Mannes (A) im selben Alter mit derselben Berufsbezeichnung untersuchen und mit den Daten der blinden Frau vergleichen. Das personelle Konstrukt (A) ließe sich durch das Konstrukt der Subgruppen ersetzen. In diesem Falle wäre A die Subgruppe der Gehörlosen in der Stadt Köln im Vergleich mit der Subgruppe der Gehörlosen in der Stadt Hamburg. Ein weiterer Ansatz der Netzwerkanalyse unterscheidet strukturelle Kategorien von inhaltlichen Merkmalen. Zu den strukturellen Kategorien gehören die Reichweite des Netzwerkes, seine Größe, Dichte, Stabilität und Durchlässigkeit. Inhaltliche Merkmale sind die Beschaffenheit der Kontakte, die Ausrichtung (multiplex oder uniplex), die Dauerhaftigkeit der Verbindung und die Funktion der Unterstützung (von emotional bis finanziell). Auch das 3-Zonen-Schema dürfte sich für die Forschung und Rehabilitation bei Behinderung als interessant erweisen, da es die netzwerkanalytische und die behinderungsanalytische Perspektive vereint. Mithilfe dieser beiden Perspektiven lassen sich Ressourcen und Behinderungen im sozialen Netzwerk aufspüren. Doch was ist die netzwerkanalytische Perspektive? Aus der netzwerkanalytischen Perspektive werden Akteure - plakativ formuliert - als Knoten in einem Netz betrachtet. Akteure sind, wie bereits erläutert, Organisationen, politische Akteure, Haushalte, Familien oder Individuen. Zwischen den Akteuren bestehen Verbindungsstränge in Form sozialer Beziehungen. Diese stellen Formen des Austausches dar. Hier stellt sich nun die Frage, wie Behinderung im Netzwerk untersucht werden kann bzw. wo sie sich verorten lässt. Nach dem medizinischen Modell ist eine Behinderung ein individuelles Merkmal, demzufolge wird es im Netzwerkmodell Zone 1 genannt. Diese Zone unterscheidet das Individuum von der Subgruppe. Sowohl das Individuum als auch eine Subgruppe (z. B. mit der Diagnose Körperbehinderung) ließen sich im Abb. 1: Zentralität/ relationale Analyse VHN 1/ 2011 48 Alina Kirschniok Vergleich zu anderen Subgruppen untersuchen. Gibt es Unterschiede, Gemeinsamkeiten? Gibt es Parallelen zwischen den Regionen, den Ländern und Kontinenten? Neben dem individuumzentrierten Modell entstand das soziale Modell von Behinderung. Danach wird Behinderung als Produkt gesellschaftlicher Strukturen verstanden. Das soziale Modell von Behinderung orientiert sich an von der Gesellschaft geschaffenen Schranken. Behinderung umfasst nach Bloemers/ Wisch (2000, 298) „nicht nur das Individuum, sondern den zwischenmenschlichen Prozess, den Bezug, das soziale Feld, das behindert.“ Behinderung zeichnet sich demzufolge in einer weiteren Zone, der sogenannten 2. Zone, in den Verbindungssträngen zwischen den Knoten (Individuen) ab. Die Ursachen von Behinderungen sind innerhalb der 2. Zone auf der Gefühls-, Beziehungs- und Kommunikationsebene anzusiedeln. Hier führen Behinderungen/ Blockaden auf der Gefühlsebene (z. B. Angst, Scham) und auf der Beziehungsebene (z. B. fehlende Erfahrungen, soziale Distanzen) je nach Begebenheit zu einer schwachen, starken, engen oder hierarchischen Verbindung zwischen den Akteuren. Behinderung kann aber auch strukturelle Löcher im Netzwerk sichtbar werden lassen. In diesem Fall bestehen keinerlei Verbindungen zwischen den Akteuren. Des Weiteren lässt sich eine 3. Zone feststellen. Diese 3. Zone betrifft die Netzwerkebene und fragt nach der Offenheit und Geschlossenheit des gesamten Netzwerkes. Folgt das Netzwerk eigenen Inklusions- und Exklusionsregeln, und wenn ja: zu welchen Barrieren/ Behinderungen im Sozialraum führt dies (vgl. Kirschniok 2010)? So könnte auch die Behindertenpädagogik als wissenschaftliches Netzwerk in Lehre und Forschung nach Unterschieden und Parallelen bezüglich einer netzwerkorientierten Perspektive untersucht werden. Gibt es hier regionale Unterschiede in der Lehre und Forschung, und wenn ja: welche Auswirkungen haben diese Unterschiede auf die Lebensqualität behinderter Menschen in den Regionen? Trägt die Disziplin mit ihren Konzepten zu einer netzwerkorientierten Perspektive und zur konsequenten Umsetzung dieser Perspektive bei, oder anders gefragt: Trägt die Disziplin mit ihren Aktivitäten zur Inklusion oder zur Exklusion bei? 3 Ursprung, Verläufe und Spektrum der Debatten in den einzelnen Disziplinen und mögliche Erträge für die Behindertenpädagogik Blickt man in die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse, so gilt der Soziologe Georg Simmel mit seinem Aufsatz über die „Kreuzung sozialer Kreise“ (1890) als Vorläufer der heutigen Netzwerkanalyse. Nach Scott (1991) basiert die heutige Netzwerkanalyse auf zwei Entwicklungslinien: auf der sozialpsychologischen und auf der anthropologischen Forschungstradition (vgl. Jansen 2006, 38f ). Die Träger der Entwicklungslinien untersuchten mithilfe kognitiver, sozialpsychologischer oder mikro- und makrosoziologischer Fragestellungen beispielsweise das soziale Kapital differenter Individuen, Gruppen, Dörfer und Gesamtgesellschaften. In den USA und in Kanada hat die Netzwerkforschung ein beachtlich hohes Ansehen, während sie im deutschsprachigen Raum vergleichsweise wenig etabliert ist (vgl. Jansen 2006, 43). Im deutschsprachigen Raum sind die folgenden thematischen Schwerpunkte auszumachen: Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit der Suche nach Kooperations- und Kommunikationsmodellen, die Betriebswirtschaftslehre setzt sich mit Fragen des Netzwerkmanagements und der Strategieentwicklung auseinander, und die Organisationssoziologie fokussiert Veränderungsprozesse im Sinne des Change Managements (vgl. Otto/ Bauer 2005). Die soziologische Netzwerkforschung beschäftigt sich insbesondere mit der Entstehung und Erklärung von Netzwerken im mikro- und makrosoziologischen Kontext und mit dem Problem sozialer Ungleichheit (vgl. Jansen 2006). In VHN 1/ 2011 49 Egozentriertes Netzwerk behinderter Menschen der Behindertenpädagogik stellte der Soziologe Christian von Ferber erstmals eine Form des Netzwerkkonzepts vor. Schiller transferierte 1987 den Netzwerkgedanken als Konzept sozialer Hilfe- und Schutzfaktoren am Beispiel der Lebenslage erwachsener Menschen mit Behinderung in den sonderpädagogischen Kontext (vgl. Schumann u. a. 1989, 95f ). Es folgten Studien von Windisch und Kniel (1993), Niehaus (1993) und anderen, die sich Fragen zur Netzwerkgröße und zur sozialen Unterstützung behinderter Menschen widmeten. Auffällig ist, dass die Studien sich ausschließlich auf eine Fokusgruppe konzentrieren, z. B. auf Väter behinderter Kinder (Eckert 2008), auf Familien mit behinderten Kindern (Heckmann 2004) oder auf behinderte Frauen (Niehaus 1993). Empirische Untersuchungen von Schiller (1987), Windisch/ Hamel (1991), Niehaus (1993), Windisch/ Kniel (1993) und Michel/ Häußler-Szcepan (2005) zur Unterstützungs- und Netzwerksituation weisen nicht nur auf eine geringere Netzwerkdichte und -größe bei behinderten Menschen im Vergleich zu nichtbehinderten hin, sondern konstatieren teilweise darüber hinaus ein Ungleichgewicht im sozialen Netzwerk behinderter Menschen insofern, als einerseits ein Überschuss an professionellen Hilfesystemen und andererseits ein Mangel an informellen sozialen Kontakten zu beobachten ist (vgl. beispielsweise Schumann u. a. 1989). Fakt ist jedoch: Die Bedeutung sozialer Netzwerke in unserer Gesellschaft kann nicht überschätzt werden. Soziale Netzwerke mobilisieren Handlungsressourcen, bündeln soziales Kapital und sind Schaltfunktionen für soziale Kontrolle (vgl. von Kardorff 1995, 403). Die deutsche Behindertenpädagogik sollte sich daher mit den Erträgen der Netzwerkforschung auseinandersetzen und im Interesse ihrer behinderten Fokusgruppen systematisch analytische und insbesondere einheitliche Instrumente zur Erforschung sozialer Strukturen und ihrer Eigenschaften entwickeln. Die behindertenpädagogische Disziplin ist aufgefordert, sich mit Behinderungen im Sozialraum zu beschäftigen und damit zur Analyse einer sich fortwährend weiter entwickelnden Wissensbasis beizutragen. Sie ist ebenso aufgefordert, daraus Implikationen für innovative Handlungen im Bereich der Behindertenhilfe mit zu entwickeln. Es gilt systematisch zu eruieren, welche Ausmaße von Behinderungen institutioneller Form sich im sozialen Netzwerk behinderter Menschen niederschlagen und welche Verantwortung dabei die deutsche Behindertenhilfe als Institution zur Inklusion bzw. zur Exklusion trägt. Doch nicht nur die permanente Aufdeckung ihrer Inklusions-/ Exklusionsstrategien ist von Bedeutung, ebenso sind die Auswirkungen dieser Strategien auf die Träger sozialen Kapitals und deren gesamtgesellschaftliche Folgen von großem Interesse. Anknüpfungspunkte bieten die Hypothesen von Granovetter (1973) und Burt (1982). Granovetter prägte den Begriff der „Stärke schwacher Beziehungen“. Burt entwickelte darauf aufbauend seine Hypothesen zu den Strukturellen Löchern und zur Strukturellen Handlungstheorie (zur Strukturellen Handlungstheorie in Bezug auf Interessen und Handlungen im Kontext von Behinderung siehe Kirschniok/ Huppert 2010). Der folgende Abschnitt erläutert die Hypothesen der Stärke schwacher Beziehungen sowie der Strukturellen Löcher im Netzwerk und überträgt sie auf die Situation von Menschen mit Behinderung. 4 Die Vor- und Nachteile von strukturellen Löchern im Netzwerk und die Stärke schwacher Beziehungen Aus netzwerktheoretischer Sicht, in der Netzwerkbeziehungen als Formen sozialen Kapitals betrachtet werden, sind zwei Perspektiven aufzuwerfen: Starke Beziehungen (sog. strong ties nach Granovetter 1973) liefern einerseits eher emotionale, praktische und materielle Unterstützung als schwache Beziehungen (sog. weak ties), da deren Akteure sich emotional nicht so nahestehen (vgl. Diaz-Bone 2006). Anderer- VHN 1/ 2011 50 Alina Kirschniok seits ist davon auszugehen, dass starke Beziehungen zu Homogenität in den Sicht- und Verhaltensweisen tendieren. Das bedeutet, dass bestimmte Ansichten und Meinungen zu einem Sachverhalt innerhalb starker Beziehungen aufgrund einer möglichen Abhängigkeit übereinstimmen und man sich weniger frei fühlt, eine andere Meinung zu vertreten, da man befürchtet, die Verbindung zum anderen dadurch zu verlieren. Am Beispiel von behinderten Menschen ist oftmals zu beobachten, wie sie die Ansichten ihres Betreuers oder Wohnheimleiters übernehmen, auch wenn sich daraus kein Vorteil für sie selbst ergibt. Anders sieht das Bild aus, wenn die behinderte Person lose Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des Wohnheimes hat. Die Stärke schwacher Beziehungen, so Granovetter (1973), hat den Effekt, dass man über lose Kontakte zu mehreren Kontakten/ Clustern in unterschiedliche Informationsflüsse eingebunden ist. An unterschiedlichen Informationsflüssen beteiligt zu sein, erweitert den Horizont. Im optimalen Falle stärkt dies den behinderten Menschen: er nimmt am Leben anderer teil und erfährt mehr über die Lebensformen und Partizipationsmöglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen außerhalb des Wohnheims. Im umgekehrten Falle, wenn keine sozialen Kontakte außerhalb des Wohnheims bestehen, spricht man in der soziologischen Netzwerkforschung von sozialen Netzen mit strukturellen Löchern. Burt (1982, 18) zufolge zeichnen sich soziale Netze mit strukturellen Löchern durch eine geringe Kohäsion und fehlende Überschneidungen der Kontakte aus. Abbildung 2 verdeutlicht exemplarisch, dass Ego zu D und C eine starke Beziehung unterhält und zu A und B eine schwache. D. h., dass er durch A und B beispielsweise Informationen erhält und diese ihm Steuerungsvorteile bieten können. Bourdieu zufolge hängt die Höhe des sozialen Kapitals eines Egos zum einen von der Ausdehnung des Netzes ab und zum anderen vom ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital der Personen, mit denen Ego in Verbindung steht (vgl. Bourdieu 1983). Die Netzwerkforschung ist sich nicht einig: Einige Theorien gehen davon aus, dass strukturelle Löcher dem Ego bei der Durchsetzung seiner Interessen helfen, während andere Theorien enge Verflechtungen der Cluster für bedeutsamer bei der Durchsetzung eigener Interessen einschätzen. Es gibt bislang zu wenige Untersuchungen darüber, in welcher Weise Menschen mit Behinderung, die in Wohnheimen leben, von existierenden/ fehlenden Kontakten bzw. strukturellen Löchern im Netzwerk betroffen sind. Die Vor- und Nachteile der lose gekoppelten oder eng geknüpften Netzwerke der in stationären Wohneinrichtungen lebenden Bewohner/ -innen sind bundesweit noch zu erfassen. Eine aktuelle Studie (Schulz-Nieswandt u. a. 2008) zu Netzwerkstrukturen im Kontext von Alter und Behinderung unter besonderer Berücksichtigung des Inanspruchnahme-Verhaltens gegenüber Anbietern von Einrichtungen der Behindertenhilfe belegt, dass fast 15 % der Menschen mit Behinderung keine Netzwerkpersonen haben, die sie einbis mehrmals monatlich treffen. So weist die Studie auf folgenden Befund hin: „Freunde und Bekannte haben zwischen 6,3 (Angabe aus der Befragung der Menschen mit Behinderung) und 10,8 % (Befragung der Angehörigen/ gesetzlichen Betreuer) der Menschen mit Behinderung nicht.“ (Schulz-Nieswandt u. a. 2008, 114) Abb. 2: Strukturelle Löcher im Netzwerk (Burt 1992, 27) VHN 1/ 2011 51 Egozentriertes Netzwerk behinderter Menschen Für die Behindertenpädagogik könnte es interessant sein, Diaz-Bones Netzwerktypen genauer zu betrachten. Diaz-Bone (1997) unterscheidet drei Typen egozentrierter Netzwerke: den desintegrativen, den familial integrativen und den modernen Typus. Der Begriff Typus bezieht sich im Allgemeinen auf Personen, Sachverhalte usw., begrenzt sich bei Diaz-Bone jedoch auf Personen, d. h., es handelt sich um Netzwerkdarstellungen, die bestimmten Personentypen entsprechen. Innerhalb des Netzwerks werden drei Verbindungsformen genannt, nämlich die schwache, die starke und die vermutete Beziehung. Als Knotenpunkte bzw. Akteure fungieren Ego, Verwandte und Nichtverwandte, wie Abbildung 3 zeigt. Der desintegrative Typus zeichnet sich dadurch aus, dass er zu zwei Verwandten eine starke Beziehung pflegt und zu einem Verwandten außerhalb des Quartiers/ Stadtviertels eine vermutete Beziehung hat. Der familial integrierte Typus hingegen hat drei Verwandte und unterhält zu zwei von ihnen auch außerhalb des Haushaltes eine starke Beziehung. Zwischen diesen Verwandten besteht mit Wahrscheinlichkeit eine Beziehung. Der familial Integrierte hat außerdem eine schwache Beziehung zu einer nichtverwandten Person außerhalb des Haushaltes. Beim modernen Typus fällt auf, dass er drei schwache Beziehungen zu Personen außerhalb des Quartiers besitzt, wovon es sich bei zwei von den drei Verbindungen um eine Beziehung zu Nichtverwandten handelt. Im Folgenden wird die aufgezeigte Charakteristik der (Des-)Integration am Beispiel des egozentrierten Netzwerks eines 20-jährigen Mannes mit Asperger-Syndrom aus dem Jahre 2006 reflektiert. Die Netzwerkkarte unterteilt sich in drei Bereiche: Der primäre Bereich umfasst Familie/ Verwandte, nachbarschaftliche Kontakte und Freunde/ Bekannte. Zum sekundären Bereich zählen alle öffentlich organisierten Netzwerke wie Kindergarten, Schule und Arbeitsplatz. Der tertiäre Bereich kennzeichnet professionelle Dienstleistungen, Selbsthilfegruppen und Nichtregierungsorganisationen (vgl. Bullinger/ Nowak 1998: 70f ). Abbildung 4 verdeutlicht, dass N. B. (die Person mit Asperger-Syndrom) familial integriert ist und eine hohe Kontaktfrequenz zu professionellen Hilfesystemen unterhält. Das Cluster oben links stellt das familiale Netzwerk dar, das aus sieben Kontakten besteht. Da es nicht deutlich erkennbar ist, gilt es an dieser Stelle zu präzisieren, dass sich zwei Personen (Brüder) weit außerhalb des Quartiers befinden. Die unteren Cluster kennzeichnen das professionelle Hilfesystem: Es bestehen Kontakte zu zwei Therapeuten (Bereich unten links) und zum ABW (Ambulant-Betreuten-Wohnen). Das Cluster oben rechts stellt einen Circle of Support (CoS) dar, der von N. B. ins Feld der Freunde/ Bekannten gesetzt wurde. Ein CoS ist Abb. 3: Typen im egozentrierten Netzwerk nach Diaz-Bone (1997, 184) Abb. 4: Netzwerk-Karte eines 20-jährigen Mannes mit Asperger-Syndrom VHN 1/ 2011 52 Alina Kirschniok eine Gruppe von Menschen, die sich konstituiert und regelmäßig trifft, um einen Menschen mit Assistenzbedarf bei der Erreichung von ihm selbst bestimmter, persönlicher Zielsetzungen zu unterstützen. Konzeptionell entspringt der Ansatz der angloamerikanischen Independent- Living-Bewegung mit der Forderung, an den Ressourcen des Gemeinwesens anzuknüpfen und diese auszubauen. Dies sollte einen Wandel des Rollenverständnisses der Fachkräfte aus den Sozialdiensten bewirken (vom Versorger zum Vermittler). Ein CoS grenzt sich in seiner Organisationsform von der Selbsthilfegruppe, von Helferkonferenzen und von der persönlichen Assistenz ab. Ein CoS funktioniert in den unterschiedlichsten Lebensbereichen: in der Schule, im Arbeitsleben und in der Freizeit. Die Teilnehmenden eines CoS setzen sich aus Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Studierenden zusammen. Ideelle Grundlage eines CoS ist die Selbstbestimmung des Menschen mit Assistenzbedarf, der sogenannten Fokusperson. Es bestehen verschiedene Arbeitsformen der CoS, und die Netzwerkgröße ist in den einzelnen Ländern und Regionen höchst unterschiedlich. Ziel eines CoS ist beispielsweise die Netzwerkerweiterung, wobei dies von den Wünschen und Zielangaben der Fokusperson abhängt (vgl. Kirschniok 2010). Zurück zur Abbildung 4: Bei dem aufgezeigten CoS handelt es sich um einen CoS nach dem Dortmunder Muster. Dieser CoS besteht aus studentischen Akteuren und löst sich nach einem Jahr wieder auf. Nach der Auflösung des CoS bleibt im sozialen Netzwerk von N. B. nur eine einzige Freundin übrig, die er einmal jährlich sieht. Auffällig sind einerseits die starke Verflechtung der Kontakte zu einem Cluster und andererseits die fehlenden Verbindungen zu Nachbarn, Freunden, Arbeitskollegen und bürgerschaftlichem Engagement. Fragt man N. B. nach den Gründen, weshalb sein soziales Netzwerk in dieser Weise konstituiert ist, so verweist er darauf, dass sein Umfeld großes Gewicht darauf legt, ihn pädagogisch-therapeutisch zu fördern. Das heißt, dass er in Arrangements eingebunden ist, die ihm im Alltag wenig Zeit lassen, sich zu entspannen und soziale Kontakte zu pflegen. Für Menschen mit autistischem Kontinuum sind soziale Interaktionen meistens mit Stress verbunden, da sie wissen, dass ihre Art und Weise zu kommunizieren oftmals gesellschaftlich nicht die volle Anerkennung erfährt. Sie reagieren darauf häufig mit Rückzug und Isolation, obwohl sie sich wünschen, gesellschaftlich mehr zu partizipieren. Im Falle von N. B. erweist sich der lose Kontakt zu der Freundin, die er einmal jährlich sieht, als fruchtbar für seine psychosoziale Stabilität und Lebenszufriedenheit. Wäre er in weiteren losen Kontakten/ Clustern eingebunden, die ihm Wertschätzung, Achtung und kognitiv sowie künstlerisch entsprechende Kommunikation böten, würde dies sein subjektives Empfinden für eine verbesserte Lebensqualität steigern. Im Falle von N. B. ist die informelle Netzwerkerweiterung pädagogisch zu begleiten. Der Ansatz eines CoS war ein gutes Mittel, ihm zumindest für 12 Monate Kontakte zu Studierenden zu eröffnen. Zum Leidwesen aller im Prozess involvierten Akteure bricht die CoS-Struktur weg, sobald sie institutionell nicht mehr aufrechterhalten wird. Wenn also die Fachhochschule ihre zeitliche Vorgabe von einem Jahr einhält, löst sich das gesamte CoS-Arrangement auf. Für dieses Problem sind noch wissenschaftliche, institutionelle und kommunalpolitische Lösungen zu eruieren und zu entwickeln. Bezugnehmend auf die eingangs erwähnten Studien zur Netzwerksituation behinderter Menschen ist im Netzwerk des 20-jährigen Mannes mit Asperger-Syndrom ein Ungleichgewicht hinsichtlich der informellen und der formellen Kontakte erkennbar. Folgt man der Hypothese von Burt und überträgt sie auf das Netzwerk von N. B., so ist anzunehmen, dass er durch strukturelle Löcher (vgl. Burt 1982) in seinem Netzwerk eben nicht an unterschiedliche Informationsflüsse angebunden ist. Dies wiederum hat eine geringere gesellschaftliche Partizipation zur Folge, obwohl N. B. - in so- VHN 1/ 2011 53 Egozentriertes Netzwerk behinderter Menschen zialräumlicher Perspektive betrachtet - nicht isoliert lebt, wie dies in stationären Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung häufig der Fall ist. 5 Schlussfolgerung Die obigen Ausführungen bekräftigen die eingangs aufgestellte Hypothese, wonach wohlfahrtsstaatliche Verbände zu Netzwerkbeschränkungen im egozentrierten Netzwerk eines Menschen mit Behinderung beitragen. Allerdings bedarf sie der weiteren Überprüfung. Die behindertenpädagogische Disziplin kritisiert die institutionelle Separierung und macht auf die Notwendigkeit gemeindeintegrierter Unterstützungssysteme aufmerksam (maßgebend hierzu ist die Expertise von Franz/ Beck 2007). Auch Schumann u. a. (1989, 100) gehen davon aus, dass die Separierung in Sondereinrichtungen isolierte Lebenswelten schafft, die wenig Verbindungen zu dem biografisch gewachsenen Netzwerk aufweisen. Eder-Debye (1988) stellt die These auf, dass medizinische Dienste häufiger in Anspruch genommen werden, sobald wenig stützende Beziehungen im informellen Netzwerk gegeben sind. Es ist anzunehmen, dass soziale Bedürfnisse behinderter Menschen durch die Inanspruchnahme professioneller (ambulanter) Dienste kompensiert werden. Selbst Sluzalek-Drabents Studie (2005) liest sich so, dass die wohlfahrtsstaatlichen Verbände durch institutionell bedingte Strukturen und Vorbehalte eine Öffnung zum bürgerschaftlichen Engagement verhindern und somit zur Netzwerkbeschränkung im egozentrierten Netzwerk behinderter Menschen beitragen. Um die in diesem Beitrag aufgestellte Hypothese zu verifizieren oder zu falsifizieren, sind entsprechende, im netzwerk- und sozialraumorientierten Sinne analytische Erhebungsinstrumente zu entwickeln. Dabei spielt die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Verfahren eine bedeutende Rolle und ist genauso notwendig wie die strikte Ausrichtung eines einheitlichen Instruments. Die bundesweite Integration bzw. Implementierung der netzwerkorientierten Perspektive in die Behindertenpädagogik ist wünschenswert. So lassen sich leichter Erhebungen in wohlfahrtsstaatlichen Verbänden durchführen, deren Ergebnisse als konkrete Zielsetzungen und -vorgaben an die Politik gerichtet werden können. Für politische Entscheidungen sind nicht nur empirisch gesicherte Ergebnisse von Bedeutung, sondern auch die Integrität und Geschlossenheit des Faches an sich. Die Behindertenpädagogik sollte sich im Hinblick auf eine verbesserte Lebensqualität ihrer Zielgruppe die netzwerkorientierte Perspektive vermehrt zu eigen machen. Im Sinne dieser Perspektive ist es auch, sich international auszutauschen und gemeinsam in Kooperation ein einheitliches netzwerkorientiertes Integrations- und Evaluationsmonitoring zu entwickeln. Anmerkungen 1 Am Beispiel der Heilpädagogik im deutschsprachigen Raum galt lange die Orientierung an der behinderten Person als die personale Orientierung/ Perspektive. Die personale Orientierung/ Perspektive eines Faches am Subjekt lässt sich der netzwerkorientierten Perspektive gegenüberstellen. Es gilt in der personalen Orientierung/ Perspektive, die behinderte Person pädagogisch so zu fördern, dass sie sich sozial integrieren kann. „Die personale Orientierung geriet historisch einerseits zur individualisierten Förderung und andererseits auf Jahrzehnte zur eng auf Persönlichkeitsprobleme reduzierten Defektlehre.“ (Beck 2008, 45) In der Heilpädagogik gab es Stationen der Perspektiven am Subjekt in folgender Reihenfolge: erst die personale defektorientierte, dann die Annäherung an eine lebensweltliche Orientierung des Subjekts und dazwischen die institutionelle Perspektive. Der Wandel von der personalen zur lebensweltlichen Orientierung geht nach Beck auf Thimm zurück, der sich Ende der 1980er Jahre stark für die wohnortsnahe und offene Angebotsstruktur sowie für eine konsequente Förderung von Selbsthilfe, sozialer Integration und Partizipation aussprach (vgl. Beck 2008, 46). In der Sozialarbeit/ Sozial- VHN 1/ 2011 54 Alina Kirschniok pädagogik etablierten sich bereits Ende der 1970er Jahre gemeindeorientierte Ansätze. Dem voraus ging die lebensweltliche bzw. netzwerkorientierte Perspektive als Selbstverständlichkeit und handlungsleitendes Prinzip der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. 2 Der Begriff „Behindertenhilfe“ unterteilt sich in zwei Organisationsformen: in die Wohlfahrtsverbände (Caritas, AWO, Rotes Kreuz, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden) und die Behindertenverbände, die als Interessenverbände in eigener Betroffenheit und als Repräsentanten einer Gruppe, nämlich der behinderten Menschen fungieren. Die in diesem Beitrag diskutierte Hypothese einer Netzwerkbeschränkung im egozentrierten Netzwerk behinderter Menschen durch die Behindertenhilfe fokussiert die erstgenannte Organisationsform. Zu differenzieren sind dabei die unterschiedlichen Bereiche der Wohlfahrtsverbände in Wohn-, Arbeits-, Versorgungs- und Ausbildungsbereiche von den Zielgruppen, die sich über bestimmte Zeitabschnitte hinweg in den von den Wohlfahrtsverbänden organisierten Bereichen sozialisieren. Der Begriff der „deutschen Behindertenhilfe“ spezifiziert sich im europäischen Kontext beispielsweise in Abgrenzung zur englischen, schwedischen und italienischen Behindertenhilfe. Die deutsche Behindertenhilfe ist im konservativen Wohlfahrtsstaat von einem Versorgungsdenken mit Sonderunterstützungssystemen geprägt, wohingegen die schwedische Behindertenhilfe mit ihrem sozialdemokratisch ausgerichteten Wohlfahrtstypus auf Bürgerschaftlichkeit zielt. Im Zentrum der schwedischen Behindertenhilfe steht die Solidarität. Herausragendes Merkmal der englischen Behindertenhilfe sind Regulierungstendenzen, die zwar Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe als Zielvorgabe nennen, aber regional höchst unterschiedlich umgesetzt werden (vgl. Aselmeier 2009). 3 Eine gute Einführung bieten Jansen (2006), Hennig (2006) und Straus (2002). Die gesamte Darstellung der quantitativen und qualitativen Verfahren der Netzwerkanalyse würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 4 Klusmann (1989) zufolge ist ein soziales Netzwerk ein System sozialer Beziehungen zwischen Individuen. „Dieses System wird entsprechend der Metapher des Netzes als eine Struktur angesehen, die aus Knoten und Verbindungssträngen besteht, wobei die Knoten Personen oder andere Entitäten darstellen und die Verbindungsstränge Formen des Austausches zwischen Personen symbolisieren, etwa Freundschaft, Zuneigung oder materielle Hilfe.“ (Klusmann 1989, 38) Hollstein und Straus (2006, 15) weisen darauf hin, dass es sich bei den Knoten um divergierende soziale Akteure handelt: So sind Akteure nicht nur Individuen, sondern können auch Familien, Haushalte, politische Akteure und Organisationen sein. An dieser Stelle kreuzt sich die vertikale mit der horizontalen Linie. Literatur Aselmeier, Laurenz (2009): Gemeinwesenorientierung in England, Schweden und Deutschland. 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