Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art04d
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Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen
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2011
Marius Metzger
Die vorliegende Studie untersuchte Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen. Hierzu wurden 21 Fallberatungen in unterschiedlichen Kinderschutzgruppen erhoben. Ergänzend wurden 81 Einschätzungen der Gelingens- und Misslingensbedingungen der Fallberatungen aus der Sicht der Kinderschutzgruppenmitglieder miteinbezogen. Als zentrales Ergebnis der qualitativen Analyse ließen sich die vier Prototypen „Prognose“, „Beratung“, „Intervention“ und „Realisierung“ bilden. Aus der vergleichenden Gegenüberstellung dieser Typen geht hervor, dass Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen durch einen höheren Strukturierungsgrad möglicherweise verbessert werden können.
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Fachbeitrag 57 VHN, 80. Jg., S. 57 - 66 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen Marius Metzger Hochschule Luzern - Soziale Arbeit n Zusammenfassung: Die vorliegende Studie untersuchte Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen. Hierzu wurden 21 Fallberatungen in unterschiedlichen Kinderschutzgruppen erhoben. Ergänzend wurden 81 Einschätzungen der Gelingens- und Misslingensbedingungen der Fallberatungen aus der Sicht der Kinderschutzgruppenmitglieder miteinbezogen. Als zentrales Ergebnis der qualitativen Analyse ließen sich die vier Prototypen „Prognose“, „Beratung“, „Intervention“ und „Realisierung“ bilden. Aus der vergleichenden Gegenüberstellung dieser Typen geht hervor, dass Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen durch einen höheren Strukturierungsgrad möglicherweise verbessert werden können. Schlüsselbegriffe: Kindesschutz, Fallberatungen, Entscheidungen Decision Making Processes in Child Protection Teams n Summary: This study examined decision-making processes in child protection teams. 21 case conferences conducted by different child protection teams were used to generate data. In addition, the 81 members of the child protection teams involved in this study were asked to assess dimensions of the case conference process. The main result of the qualitative analysis of the data was the development of four types of case conferences: „prognosis“, „consultation“, „intervention“ and „realization“. The comparison among these four types leads us to argue that decision making processes in child protection teams might be improved by applying a more structured approach. Keywords: Child protection, case conferences, decision making 1 Kinderschutzgruppen als aktive Form des Kindesschutzes Kinderschutzgruppen befassen sich mit Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Misshandlung oder Vernachlässigung geworden sind. Diese Gruppen setzen sich aus erfahrenen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen zusammen, welche sich professionell mit gefährdeten Kindern beschäftigen. Die Geschichte der Schweizer Kinderschutzgruppen reicht in die späten Sechzigerjahre zurück, als 1969 am Kinderspital Zürich die erste Kinderschutzgruppe und beinahe zeitgleich die zweite an der Kinderklinik Bern gegründet wurde (Colombo 2000, 6; Keller 2007, 27). Später kamen weitere hinzu. Zu einer starken Zunahme von Kinderschutzgruppen in den Neunzigerjahren führten gemäß Siegrist (2005, 5) die Inkraftsetzung des Schweizerischen Opferhilfegesetzes im Jahre 1993 sowie die Stellungnahme des Bundesrates zur Kindesmisshandlung in der Schweiz im Jahre 1995. Alleine im Kanton Zürich kamen in den späten Neunzigerjahren neunzehn Kinderschutzgruppen zu den drei bereits bestehenden hinzu. Diese neuen Gruppen waren nun allerdings nicht mehr primär auf den klinischen Kontext bezogen, sondern regional organisiert. In der Praxis wird zwischen klinischen und regionalen Kinderschutzgruppen unterschieden. Im Gegensatz zu regionalen Kinderschutzgruppen sind klinische an Spitäler angegliedert. Deren Zusammensetzung ist vorwiegend durch das medizinische Fachpersonal bestimmt. In der Regel handelt es sich dabei um Expertinnen und Experten aus Pädiatrie, Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Heilpädagogik und Pfle- VHN 1/ 2011 58 Marius Metzger ge. Vereinzelt zählen auch noch Juristinnen und Juristen dazu. Solche Kinderschutzgruppen initiieren neben der Beratung von Institutionen, Fachstellen und Behörden auch Sofortmaßnahmen wie beispielsweise eine Strafanzeige gegen misshandelnde Eltern. Im Unterschied dazu sind die regionalen Gruppen für eine bestimmte Region zuständig und zumeist einer Institution wie beispielsweise einer Opferberatungsstelle angegliedert. Deren Zusammensetzung ist hier nicht nur durch medizinisches Fachpersonal bestimmt, sondern mit Expertinnen und Experten aus Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Pädagogik, Justiz und Polizei breit abgestützt. Im Gegensatz zu den klinischen intervenieren die regionalen Kinderschutzgruppen in der Regel nicht direkt, sondern übernehmen primär beratende Funktionen und geben weitere Empfehlungen ab, nehmen Risikoeinschätzungen vor oder leiten an Fachstellen weiter. 2 Herausforderungen der interdisziplinären Entscheidungsfindung In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Entscheidungen über Maßnahmen im Kindesschutz koordiniert erarbeitet und breit abgestützt werden sollen (Ziegenhain/ Fegert 2008). Trotz dieser Erkenntnis ist die Praxis noch weit von deren Umsetzung entfernt. So kommt das im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms „Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im sozialen Wandel“ (Schultheis u.a. 2008) im Bereich des zivilrechtlichen Kindesschutzes durchgeführte Forschungsprojekt zum Schluss, dass die professionellen Akteure vergleichsweise selten im Sinne eines koordinierten Miteinanders als vielmehr im Sinne eines „betriebsamen Nebeneinanders“ agieren (Voll u. a. 2008, 64). Diese unkoordinierte Betriebsamkeit kann an der Tatsache veranschaulicht werden, dass sich in einem zivilrechtlichen Kindesschutzfall durchschnittlich 15 professionelle Akteure mit den betroffenen Kindern und deren Umfeld befassen, aber in der Regel nicht koordiniert zusammenarbeiten (Voll u. a. 2008, 52). Anders verhält sich dies bei Kinderschutzgruppen, welche ihre Anstrengungen mittels einer interdisziplinären Entscheidungsfindung zum Wohl des Kindes zu koordinieren versuchen. Aus solchen Versuchen, professionelle Akteure des Kindesschutzes zusammenzubringen, erwachsen neue Möglichkeiten: „In der Praxis hat sich gezeigt, dass im Erleben der beteiligten Professionellen multidisziplinäre Kinderschutzteams und die institutionsübergreifende Zusammenarbeit zu einer Verbesserung der Qualität von Interventionen beitragen können.“ (Goldbeck 2008, 111) In Fallberatungen in Kinderschutzgruppen erscheint insbesondere die gedankliche Vorwegnahme eines möglichen Verlaufes einer Kindesschutzmaßnahme im Sinne einer realitätsnahen Prognose aussichtsreich und macht eine breit abgestützte Entscheidung möglich. Dabei gilt allerdings mit Fegert (2002, 238) einschränkend darauf hinzuweisen, dass eine zuverlässige Prognosestellung aufgrund der vielen unbekannten Variablen immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet bleibt. Zwar scheinen die Bedingungen für eine bestmögliche Prognose und die darauf basierenden Entscheidungen über Interventionen im Rahmen eines koordinierten Austausches ideal, auch wenn sie mit einer gewissen Unsicherheit behaftet bleiben. Die Schwierigkeit solcher Entscheidungen unter Unsicherheit besteht darin, sowohl die weitere Entwicklung des Kindes als auch die Folgen der Intervention vorwegnehmen zu müssen. Voll u. a. (2008, 20) beschreiben diese spezifische Problematik daher auch äußerst treffend als Entscheidungen unter doppelter Unsicherheit. Nichtsdestotrotz versuchen Kinderschutzgruppen zu einem begründeten Entscheid zu gelangen, um das Kindeswohl im jeweiligen Fall bestmöglich sicherzustellen. Das Entscheiden wird damit zur Rationalwahl, wie dies die heute dominierende Entscheidungstheorie der VHN 1/ 2011 59 Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen sogenannten rationalen Entscheidungswahl postuliert (Diekmann/ Voss 2004). Dieser Ansatz geht davon aus, dass rational handelnde Akteure aufgrund bestimmter Präferenzen ein nutzenmaximierendes Verhalten zeigen: „Bei gegebenen Präferenzen kommt es in der Kernversion dieser Denktradition darauf an, alternative Handlungsmöglichkeiten in eine diesen Präferenzen am besten entsprechende Reihenfolge zu bringen und jene Alternativen zu wählen, die die jeweils höchstmögliche Präferenzrealisierung garantiert.“ (Nullmeier u. a. 2008, 10) Bei der interdisziplinären Entscheidungsfindung im Rahmen von Fallberatungen in Kinderschutzgruppen ist die höchstmögliche Präferenzrealisierung allerdings äusserst schwierig umzusetzen, da je nach Fachzugehörigkeit unterschiedliche Präferenzen im Vordergrund stehen und anders gewichtet werden. Die bestmögliche Entscheidung zur Sicherstellung des Kindeswohls wird aufgrund der Bedeutungsoffenheit des Konstrukts Kindeswohl von jeder Fachdisziplin unterschiedlich bewertet. Darüber hinaus gilt es mit Sader (2008, 251) zu bedenken, dass solche Entscheidungen in ein hochkomplexes Gefüge von Einzelinformationen eingebettet sind, welche für die Beteiligten oft in schwer durchschaubarer Weise miteinander zusammenhängen und nicht einfach auf Denkprozesse bei vorgegebenen Alternativen reduziert werden können. Aufgrund dieser Schwierigkeiten reicht die Annahme einer Präferenzrationalität als alleinige Grundlage von Entscheidungen im Rahmen von Fallberatungen in Kinderschutzgruppen nicht aus. Demgegenüber scheint die Betonung der kollektiven Lösung im Sinne der Sachrationalität, wie sie im Rahmen der sogenannten deliberativen Entscheidungstheorie vertreten wird, den tatsächlichen Verhältnissen der sozialen Praxis näherzukommen. Diese Theorie ist aus der Forschungstradition zu demokratietheoretischen Grundsatzfragen entstanden, bei welcher der Grad an Argumentativität von Debatten untersucht und als Deliberationsgrad konzeptualisiert wird (Nullmeier u. a. 2008, 12). Entscheiden meint hier die gemeinsame Suche nach der bestmöglichen Lösung. Realisiert wird dies über den gleichberechtigten Austausch von Argumenten, wobei die jeweils besten zur kollektiven Entscheidung führen. Diese Form der argumentativen Entscheidungsfindung kommt der Praxis in Kinderschutzgruppen wohl am nächsten, da hier bewusst breit abgestützte Entscheidungen angestrebt werden. Die Beteiligten werden dabei allerdings vor hohe Anforderungen gestellt, da der eigene Beitrag mit anderen koordiniert und in einem übergeordneten Interventionskontext verortet werden muss (Mahrer u. a. 2007, 54). Aufgrund der zentralen Bedeutung solcher Entscheidungen für die weitere Entwicklung gefährdeter Kinder hat sich die vorliegende Studie 1 mit der Frage beschäftigt, wie Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen organisiert sind und wie sie gegebenenfalls optimiert werden können. 3 Methode 3.1 Stichprobe Angesichts der unterschiedlichen Formen der Fallarbeit in Kinderschutzgruppen ging es bei der Untersuchung insbesondere darum, die praktizierte Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Arbeit zu berücksichtigen. Die Stichprobe sollte dabei die Bandbreite der unterschiedlichen Formen von Kinderschutzgruppen abbilden. Das Sampling erfolgte daher unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien, um mittels des Prinzips der Varianzmaximierung eine größtmögliche Heterogenität zu erreichen (Patton 1990, 172f ). Wir unterschieden zwischen klinischen und regionalen Kinderschutzgruppen. Die untersuchten Gruppen waren in den Kantonen Aargau, Basel-Land, Graubünden, Luzern, Schaffhausen, Uri, Zug und Zürich angesiedelt. Insgesamt konnten vierzehn Kinderschutzgruppen für die Untersuchung gewonnen werden (drei klinische und elf regionale). VHN 1/ 2011 60 Marius Metzger 3.2 Erhebung und Aufbereitung der Daten Es wurden verschiedene Kinderschutzgruppen für die Untersuchung angefragt und über das Forschungsprojekt informiert. Die Teilnahme war freiwillig und erfolgte nur mit ausdrücklichem Einverständnis aller Mitglieder des jeweiligen Teams. Die Teilnahme konnte jederzeit und ohne Konsequenzen rückgängig gemacht werden. Dabei scheiterten verschiedene Anfragen bei klinischen Kinderschutzgruppen an den internen ethischen Richtlinien der betroffenen Kinderkliniken. In den untersuchten klinischen Kinderschutzgruppen wurden in zwei Gruppen zwei Fälle und in einer fünf Fälle erhoben. Die Fallzahl ist bei den klinischen Kinderschutzgruppen absichtlich größer, da insgesamt weniger klinische Gruppen an der Studie teilnahmen. In den untersuchten regionalen Kinderschutzgruppen wurden dagegen in zehn Gruppen je ein Fall und in einer Gruppe zwei Fälle erhoben, was insgesamt 21 Fallberatungen ergibt. Die Teilnahme an den Fallberatungen ermöglichte es, mit dem Handeln der Kinderschutzgruppen in deren Alltagspraxis vertraut zu werden. Die 21 Fallberatungen wurden auf Tonträger fixiert, schriftlich festgehalten und anonymisiert. Zur Transkription fand das System von Mergenthaler (1992) für kommentierte Transkriptionen Verwendung. Zudem wurde allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach der Fallberatung ein Fragebogen ausgehändigt. Es handelte sich dabei um einen offenen Fragebogen, welcher aus einigen wenigen vorformulierten Fragen bestand, die mit eigenen Worten beantwortet werden konnten (Foddy 1995). In diesem offenen Fragebogen sollte der Erfolg der Fallberatung aus der Sicht aller beteiligten Expertinnen und Experten eingeschätzt werden. Es ging dabei insbesondere um die Beantwortung der Frage, inwiefern die untersuchte Fallberatung aus der Sicht des Einzelnen dazu beigetragen habe, im jeweiligen Fall die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Von den 87 angefragten Expertinnen und Experten haben 81 den Fragebogen ausgefüllt, was mit 93 % einem sehr guten Rücklauf entspricht. 3.3 Auswertung der Daten Die erhobenen und aufbereiteten Fallberatungen wurden mittels strukturierender Inhaltsanalyse ausgewertet, die bestimmte Textbestandteile systematisch aus dem Material extrahiert (Mayring 2007, 82) und sich als „interpretativ-reduktive Analyseform“ (Lamnek 2005, 195) zur Auswertung von Gruppendiskussionen anbietet. Diese Extraktion wird durch ein vorab entwickeltes Kategoriensystem realisiert. Im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojektes wurden die Kategorien induktiv gebildet, also direkt aus dem Material herausgearbeitet (Mayring 2007, 74). In einem ersten Schritt wurde das Material mit den herausgearbeiteten Kategorien inhaltlich analysiert, und die Kategorien wurden weiter differenziert. In einem zweiten Schritt wurden typische Strukturen in den Fallberatungen herauskristallisiert, zu Prototypen zusammengefasst und näher beschrieben. In einem dritten Schritt wurden die Prototypen und ihre Beschreibungen dialogisch-konsensual validiert. Zur Auswertung der offenen Fragebogen wurde die zusammenfassende Inhaltsanalyse verwendet, die das Material so reduziert, „dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben“ (Mayring 2007, 58). Diese Reduktion wird durch ein Kategoriensystem realisiert, welches immer noch ein Abbild des Grundmaterials darstellen sollte. Auf der Grundlage von Aussagen der jeweiligen Kinderschutzgruppenmitglieder über Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen bezüglich der Fallberatungen wurden Kategorien gebildet und mit den Prototypen in Beziehung gesetzt. 4 Ergebnisse: Bildung von vier Prototypen Die Größe der untersuchten Kinderschutzgruppen lag zwischen 4 und 11 Personen, die durchschnittliche Gruppengröße betrug 6 Per- VHN 1/ 2011 61 Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen sonen. Die Sitzungsfrequenz lag zwischen einer Sitzung alle zweieinhalb Monate und zwei wöchentlichen Sitzungen. Die durchschnittliche Sitzungsfrequenz betrug zwei Sitzungen pro Monat. Die Sitzungsdauer variierte zwischen 31 und 114 Minuten, die durchschnittliche Sitzungsdauer betrug genau 60 Minuten. Bei den klinischen Kinderschutzgruppen waren Fachleute aus den Disziplinen Pädiatrie, Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit und Pflege vertreten, in einem Fall auch ein Jurist und ein Sozialpädagoge. Bei den regionalen Kinderschutzgruppen waren Fachleute aus der Pädiatrie, Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Pädagogik und Justiz vertreten, in zwei Fällen auch Angehörige der Polizei. Bei der Analyse der Fallberatungen konnten die Kategorien Fallpräsentation, Situationsanalyse, Interventionsvorschläge, Entscheidung und Umsetzung gebildet werden. Da diese Kategorien in der Regel einen eindeutig bestimmbaren Teilschritt im Ablauf der Fallberatung umschreiben, werden sie im Folgenden als „Phasen“ bezeichnet. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen der einzelnen Phasen respektive Kategorien ließen sich mittels typisierender Strukturierung die folgenden vier Prototypen von Fallberatungen voneinander unterscheiden: Prognose, Beratung, Intervention und Realisierung. Diese sind nachfolgend beschrieben und bezüglich ihrer Eignung aus der Sicht der Kinderschutzgruppenmitglieder eingeschätzt worden. 4.1 Typ „Prognose“ In der Phase der Fallpräsentation werden beim Typ „Prognose“ die Elemente Falldarstellung, Leitfrage und Nachfragen voneinander abgegrenzt. Klärungs- und Ergänzungsfragen bleiben allerdings nicht auf das Nachfragen beschränkt, sondern kommen auch in den weiteren Gesprächsphasen vor. Die Phasen der Situationsanalyse und der Interventionsvorschläge sind nicht eindeutig voneinander getrennt. Das Wissen der Expertinnen und Experten ist in der Situationsanalyse und bei den Interventionsvorschlägen nur begrenzt erkennbar. Bei diesem Typ wird die Phase der Umsetzung vor der Entscheidung reflektiert. Die Kinderschutzgruppen formulieren also erst dann eine Empfehlung, nachdem sie diverse Vorschläge zur Umsetzung einer Maßnahme diskutiert und deren Realisierbarkeit geprüft haben. Es werden konkrete Umsetzungsvorschläge erörtert, aber nicht im Sinne einer Feinplanung weiter vertieft. Die Entscheidung über eine Empfehlung für eine konkrete Intervention wird nicht konsensual, sondern von einigen wenigen Personen getroffen. Die Fallgeberin respektive der Fallgeber ist nicht direkt in den Beratungsprozess einbezogen, da es sich um externe Fälle handelt, bei denen ein Kinderschutzgruppenmitglied die Fallpräsentation übernimmt. Aus Sicht der Gruppenmitglieder bewähren sich die interdisziplinären Fallberatungen. Optimierungsbedarf besteht bezüglich der teilweise ungenügenden Informationen bei der Fallpräsentation, der fehlenden Visualisierung des Verlaufs sowie der Gruppenkommunikation. Bei der Fallpräsentation wird kritisch hervorgehoben, dass weitere Klärungs- und Ergänzungsfragen oft unbeantwortet bleiben, da die fallgebende Person selbst nicht anwesend ist, sondern durch ein Mitglied der Kinderschutzgruppe vertreten wird. Die fehlende Visualisierung von Ideen und Vorschlägen führt dazu, dass während der Fallberatung die Orientierung verlorengehen kann. Die Gruppenkommunikation weist insofern Schwächen auf, als dass die Mitglieder sich gegenseitig ins Wort fallen und sich Einzelne bei der Entscheidungsfindung zu wenig einbringen. Eine Verbesserung könnte erreicht werden, indem die Fallgeberin respektive der Fallgeber für die Fallpräsentation eingeladen und die Fallbeschreibung vorgängig in schriftlicher Form allen zugänglich gemacht würde. Darüber hinaus wurden der konsequente Einbezug aller Mitglieder sowie die Visualisierung des Ablaufs vorgeschlagen. VHN 1/ 2011 62 Marius Metzger 4.2 Typ „Beratung“ Der Schwerpunkt dieses Typs liegt auf der Fallpräsentation, welche auch den größten Anteil an Redezeit beansprucht. Die einzelnen Elemente von Falldarstellung, Leitfrage und Nachfragen werden nicht eindeutig voneinander abgegrenzt, was zu häufigen Unterbrechungen der Fallgeberin respektive des Fallgebers durch Klärungs- und Ergänzungsfragen führt. Die Phasen der Situationsanalyse und der Interventionsvorschläge werden miteinander vermischt. In beiden Phasen werden wiederum Klärungs- und Ergänzungsfragen gestellt. Das Wissen der Expertinnen und Experten fließt nur begrenzt in die Situationsanalyse und in die Interventionsvorschläge ein. Eine Entscheidung über eine Empfehlung für eine konkrete Intervention wird von der Kinderschutzgruppe nicht getroffen. Vielmehr wird bei diesem Typ die Fallgeberin respektive der Fallgeber bezüglich einer Entscheidung beraten, aber nicht direkt in den Beratungsprozess einbezogen. In der Umsetzungsphase wird die Realisierung von vorgeschlagenen Interventionen allgemein diskutiert, aber nicht im Sinne einer Feinplanung weiter vertieft. Die Fallgeberin respektive der Fallgeber teilt der Gruppe nach Beendigung der Umsetzungsphase den Entscheid mit. Aus Sicht der Kinderschutzgruppenmitglieder bewähren sich die interdisziplinären Fallberatungen. Optimierungspotenzial besteht bezüglich der Falldarstellung, der Gruppenkommunikation und der Umsetzungsvorschläge. Die Falldarstellungen werden als zu wenig detailliert und unübersichtlich beanstandet. Die Gruppenkommunikation weist insofern Schwächen auf, als dass die Mitglieder zu wenig aufeinander hören und sich Einzelne zu wenig in die Diskussion einbringen. Die Umsetzungsvorschläge werden als zu wenig konkret eingeschätzt. Zur Verbesserung der Fallberatungen wird vorgeschlagen, die Falldarstellungen strukturierter vorzubereiten und vorgängig zugänglich zu machen, alle Mitglieder konsequenter einzubinden und die Umsetzungsvorschläge zu konkretisieren. 4.3 Typ „Intervention“ In der Phase der Fallpräsentation werden beim Typ Intervention Falldarstellung und Nachfragen nicht eindeutig voneinander abgegrenzt, was zu häufigen Unterbrechungen der Fallgeberin respektive des Fallgebers durch Klärungs- und Ergänzungsfragen führt. Darüber hinaus werden bereits bei der Falldarstellung Interventionsvorschläge eingebracht. Eine Leitfrage wird nicht ausdrücklich formuliert. Klärungs- und Ergänzungsfragen tauchen dann allerdings auch während des weiteren Verlaufs wieder auf. Eine Phase der Situationsanalyse ist nur in Ansätzen erkennbar und kann daher nicht eindeutig ausgewiesen werden. Die Phase der Interventionsvorschläge ist deutlich ausgeprägt und nimmt einen großen Teil der Redezeit in Anspruch. Eine Entscheidung über eine Empfehlung für eine konkrete Intervention wird von der Kinderschutzgruppe nicht getroffen. Vielmehr wird die Fallgeberin respektive der Fallgeber bezüglich einer Entscheidung beraten, aber nicht direkt in den Beratungsprozess einbezogen. In der Umsetzungsphase wird die Realisierung von vorgeschlagenen Interventionen allgemein diskutiert, aber nicht im Sinne einer Feinplanung weiter vertieft. Die Fallgeberin respektive der Fallgeber teilt der Gruppe nach Beendigung der Umsetzungsphase den Entscheid nicht mit. Aus Sicht der Kinderschutzgruppenmitglieder bewähren sich die interdisziplinären Fallberatungen. Zusätzlich wird auf die gelungene Gesprächseinbindung aller Mitglieder verwiesen. Optimierungsbedarf besteht bezüglich des Ablaufs der Fallberatung, der Breite und Tiefe der Falldarstellungen sowie der Positionierung einzelner Mitglieder. Der Ablauf der Fallberatungen erfolgt nicht nach einem einheitlichen Muster, und die Falldarstellungen werden als zu wenig detailliert eingeschätzt. Darüber hinaus verteidigen einzelne Mitglieder ihre Ansicht zu wenig dezidiert. Zur Verbesserung der Fallberatung wird vorgeschlagen, einzelnen Mitgliedern eine eigenständige Positionierung zu ermöglichen, ein einheitliches Ablaufmodell einzufüh- VHN 1/ 2011 63 Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen ren sowie allen vorgängig eine ausführliche Fallbeschreibung auszuhändigen. Ferner wird ein Feedback der Fallgeberin respektive des Fallgebers nach Umsetzung der empfohlenen Interventionen in der Praxis gewünscht, um die Empfehlungen der Kinderschutzgruppe auf deren Praxistauglichkeit hin zu prüfen. 4.4 Typ „Realisierung“ Der Schwerpunkt liegt bei diesem Typ auf der Fallpräsentation, welche den größten Anteil an Redezeit beansprucht. Während der Fallpräsentation werden Falldarstellung, Nachfragen und Leitfrage eindeutig voneinander abgegrenzt, wobei allerdings die Leitfrage erst im Anschluss an das Nachfragen formuliert wird. Die Klärungs- und Ergänzungsfragen folgen unmittelbar auf die Darstellung des Falles, tauchen dann allerdings auch während der Situationsanalyse und den Interventionsvorschlägen wieder auf. Die Phasen der Situationsanalyse und der Interventionsvorschläge können zwar eindeutig voneinander getrennt werden, es kommt jedoch zu mehrmaligen, schnellen Wechseln zwischen den beiden. Das Wissen der Expertinnen und Experten fließt sowohl in der Phase der Situationsanalyse als auch in der Phase der Interventionsvorschläge ein. Die Phase der Entscheidung ist eindeutig bestimmbar. Es wird eine Entscheidung über eine Empfehlung für eine konkrete Intervention durch die Kinderschutzgruppe getroffen. In der Umsetzungsphase wird die Realisierung der vorgeschlagenen Interventionen diskutiert und genau geplant. Aus Sicht der Kinderschutzgruppenmitglieder bewähren sich die interdisziplinären Fallberatungen. Darüber hinaus wird auf die konsequente Gesprächseinbindung aller Mitglieder sowie den dadurch erreichten Konsensentscheid verwiesen. Optimierungsbedarf besteht bezüglich des Ablaufs der Fallberatung und der mangelnden Orientierung bei komplexen Fällen. Der Ablauf der Fallberatungen erfolgt nicht immer einheitlich, und bei komplexen Fällen ist die ständige Vergegenwärtigung aller nötigen Informationen zu anspruchsvoll. Zur Verbesserung der Fallberatungen wird vorgeschlagen, deren Ablauf einheitlich zu gestalten sowie die Fallbeschreibung vorgängig in schriftlicher Form allen zugänglich zu machen. 5 Diskussion der Ergebnisse Gesamthaft betrachtet schätzen alle Kinderschutzgruppenmitglieder die interdisziplinäre Fallberatung als sinnvoll ein. Dies deckt sich mit den bisherigen Erfahrungen, dass im Erleben der beteiligten Fachleute interdisziplinäre Formen der Fallarbeit zu einer Verbesserung der Qualität von Interventionen beitragen können (Goldbeck 2008, 111). Dieser Umstand wird in der Regel mit der gegenseitigen fachlichen Unterstützung begründet, was im folgenden Zitat einer Juristin zum Ausdruck kommt: „Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit wurden verschiedene Aspekte berücksichtigt. Standen Fragen aus einem entsprechenden Fachgebiet im Raum, so konnten diese in der Regel beantwortet werden.“ Darüber hinaus gewinnen die Kinderschutzgruppenmitglieder auch eine realistischere Vorstellung darüber, was die einzelnen Berufsgruppen leisten können. Eine klinische Psychologin formuliert treffend: „Für mich haben sich die Vorstellungen darüber, was andere Berufsgruppen an Unterstützung anbieten können und wollen, durch die Sitzung an die Realität angepasst.“ Die in den einzelnen Gruppen auftretenden Schwierigkeiten zeigen aber auch, dass diese Form der Zusammenarbeit äußerst anspruchsvoll ist. Insbesondere der konsequente Einbezug des Wissens aller Expertinnen und Experten erweist sich als große Herausforderung, was sich auch mit den Einschätzungen von Mahrer u. a. (2007, 54) deckt. Bei den Typen „Beratung“, „Prognose“ und „Intervention“ zeigt sich dies in der fehlenden Annahme von Interventionsvorschlägen sowie der ausbleibenden Partizipation Einzelner an der Fallberatung. Die damit ein- VHN 1/ 2011 64 Marius Metzger hergehende fehlende Berücksichtigung fachlich begründeter Einzelbeiträge ist insofern zu problematisieren, als dass dadurch eine interdisziplinär begründete Entscheidungsfindung nicht mehr gegeben ist und somit die Stärke der Kinderschutzgruppe nicht mehr voll zum Tragen kommen kann. Einzig beim Typ „Realisierung“ findet eine konsequente Gesprächseinbindung aller Mitglieder statt, was den Konsensentscheid zu begünstigen scheint. Aufgrund des hohen Deliberationsgrades dieses Typs sind optimale Voraussetzungen für die gemeinsame Suche nach der bestmöglichen Lösung gegeben (Nullmeier u. a. 2008, 12). Der gleichberechtigte Austausch von Argumenten aller Mitglieder begünstigt ein Vorgehen, bei welchem die jeweils besten Argumente zur kollektiven Entscheidung führen. Es erscheint plausibel, dass die eindeutig voneinander getrennten Phasen (Fallpräsentation, Situationsanalyse, Interventionsvorschläge, Entscheidung und Umsetzung) beim Typ „Realisierung“ dem hohen Deliberationsgrad förderlich ist. Schließlich trägt ein strukturiertes Vorgehen dazu bei, einen emotionalen Abstand zum Fall zu schaffen, wodurch die Wahrscheinlichkeit steigt, übereilt getroffene Entscheidungen zu verhindern (Rimmasch 2003, 20). In der Phase der Fallpräsentation werden die Elemente Falldarstellung, Leitfrage sowie Nachfragen beim Typ „Prognose“ und beim Typ „Realisierung“ eindeutig voneinander getrennt behandelt. Die fehlende klare Abgrenzung dieser Elemente führt beim Typ „Beratung“ und beim Typ „Intervention“ zu häufigen Unterbrechungen der Fallgeberin respektive des Fallgebers sowie zu einer vagen respektive fehlenden Formulierung einer Leitfrage. Da das Ziel der Kinderschutzgruppen in aller Regel in der Handlungsbefähigung der fallgebenden Person besteht, erscheint die Forderung nur folgerichtig, dass die Fallgeberin respektive der Fallgeber auch Gelegenheit zur Formulierung einer Leitfrage erhalten sollte. Schließlich gibt eine solche Leitfrage die Richtung der Fallberatung vor, welche in einem für die Fallgeberin/ den Fallgeber hilfreichen Entscheid münden sollte. Die uneindeutige Festlegung des weiteren Vorgehens hat dagegen Desorientierung zur Folge, was sich im nachstehenden Zitat einer Mütterberaterin niederschlägt: „Es bestand keine gemeinsame Haltung darüber, wer oder was beraten werden sollte: die Fallvorstellerin mit ihrem Anliegen versus die Beratung des Falls.“ Zur Verhinderung eines solchen Orientierungszusammenbruchs werden in der Regel Fragen gestellt. Bei allen vier Typen fällt auf, dass Klärungs- und Ergänzungsfragen nicht auf die Fallpräsentation beschränkt bleiben, sondern sich über die gesamte Fallberatung erstrecken. Möglicherweise ist der Grund hierfür weniger in einer eindeutigen Trennung der Phasen als vielmehr in der allgemein hohen Komplexität der Fälle zu suchen, wie dies insbesondere beim Typ „Prognose“ und teilweise auch beim Typ „Realisierung“ als Problem erkannt worden ist. Es ist dabei mit Sader (2008, 251) davon auszugehen, dass die Zusammenhänge in solch hochkomplexen Entscheidungssituationen von den Beteiligten ganz generell nur schwer zu durchschauen sind. Möglicherweise könnten Strukturierungsmaßnahmen wie Zusammenfassungen oder Visualisierungshilfen den Beteiligten die Orientierung erleichtern. Eine Sozialarbeiterin macht den folgenden Vorschlag: „Auch rückblickend auf andere Sitzungen könnte allenfalls ein Flipchart hilfreich sein, um die Ideen, Inputs, Vorschläge, Gedanken etc. zu sammeln. Durch diese Visualisierung kann dann eventuell eine Empfehlung für das weitere Vorgehen besser abgeleitet werden.“ Die Phasen Situationsanalyse und Interventionsvorschläge werden bei den Typen „Beratung“ und „Prognose“ miteinander vermischt. Es fällt auf, dass bei beiden Typen das Wissen der Expertinnen und Experten nur in begrenztem Ausmaß in diese Phasen einfließt. Möglicherweise kann hier ein Zusammenhang zwischen der fehlenden Trennung der beiden Phasen und der Erschließung des Wissens hergestellt werden. Es gilt mit Pfadenhauer (2003, VHN 1/ 2011 65 Entscheidungsprozesse in Kinderschutzgruppen 27) zu bedenken, dass sich das Wissen von Expertinnen und Experten insbesondere auf die Analyse und das Lösen von Problemen bezieht. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass eine Vermischung der Phasen Situationsanalyse und Interventionsvorschläge die Entfaltung des Wissens der Expertinnen und Experten behindern könnte. Einen weiteren Hinweis für die Richtigkeit dieser Annahme findet sich beim Typ „Realisierung“, wo die beiden Phasen eindeutig voneinander getrennt sind und somit das Wissen der Expertinnen und Experten einfließen kann. Etwas weniger eindeutig zeigt sich dies beim Typ „Intervention“, wo die Phase der Situationsanalyse nicht klar erkennbar ist, während die Phase der Interventionsvorschläge deutlich hervortritt. Gleichwohl fließt auch hier das Wissen der Expertinnen und Experten in der Phase der Interventionsvorschläge ein. So gesehen scheint es, dass über alle Typen hinweg eine klare Trennung zwischen den Phasen der Situationsanalyse und der Interventionsvorschläge die Erschließung des Wissens begünstigt. Unter optimalen Voraussetzungen führt das eingebrachte Wissen zu einer differenzierteren Sichtweise des Falles und ermöglicht eine breiter abgestützte Entscheidung, wie eine Schulpsychologin treffend formuliert: „Viele Fragen wurden zu verschiedenen Aspekten der Situation erörtert. Fragen, Widersprüche und weitergehende Erörterungen führten zu einem sehr differenzierten Meinungsaustausch. Verschiedene Standpunkte, welche zum Teil auch die unterschiedliche Herkunft der Mitglieder widerspiegelten, kamen zum Zug.“ In der Phase der Entscheidung zeigt sich, dass bei den Typen „Beratung“ und „Intervention“ gar keine Entscheidung gefällt wird. Vielmehr wird die Fallgeberin respektive der Fallgeber bezüglich einer Entscheidung beraten. In der anschließenden Phase der Umsetzung möglicher Entscheidungen werden diese dann allgemein besprochen, aber nicht im Sinne einer Feinplanung weiter vertieft. Beim Typ „Prognose“ wird dagegen die Phase der Umsetzung vor dem eigentlichen Entscheid gedanklich durchgespielt. Die Entscheidung wird also erst gefällt, wenn die Umsetzung geklärt ist, wobei die Umsetzung wie beim Typ „Beratung“ und „Intervention“ nicht im Sinne einer Feinplanung weiter vertieft wird. Dieses Vorgehen ist insofern interessant, als dass seine Realisierbarkeit am besten gewährleistet sein dürfte. Andererseits besteht dabei die Gefahr, dass sich der Entscheid stärker an den konkreten Gegebenheiten, wie z. B. an den finanziellen Möglichkeiten von Gemeinden, als konsequent am Kindeswohl orientieren könnte. Demgegenüber wird beim Typ „Realisierung“ die Umsetzung im Sinne einer Feinplanung vertieft. Als einziger der vier Typen wird hier die Umsetzung genau geplant, was die Chancen für deren Realisierung auch erhöhen dürfte. Darüber hinaus werden bei diesem Typ die Entscheidungen im Konsens gefällt und damit von der gesamten Gruppe mitgetragen. Solche Entscheidungen sind breit abgestützt und vermitteln der Fallgeberin respektive dem Fallgeber Sicherheit, was in folgendem Zitat einer Lehrerin zum Ausdruck kommt: „Es werden Voraussetzungen geschaffen, damit schwierige Entscheidungen breit abgestützt sind und nicht alleine getragen werden müssen.“ Abschließend kann gefolgert werden, dass Fallberatungen in Kinderschutzgruppen einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung des Kindeswohls leisten. Die Qualität der interdisziplinären Zusammenarbeit kann möglicherweise durch eine konsequente Unterteilung der Fallberatung in die Phasen Fallpräsentation, Situationsanalyse, Interventionsvorschläge, Entscheidung und Umsetzung verbessert werden. Da der Komplexitätsgrad der bearbeiteten Fälle in der Regel hoch ist, sollte innerhalb der einzelnen Phasen zudem eine strukturierte Form der Verarbeitung der eingebrachten Informationen ermöglicht werden. Ein solches Vorgehen schafft günstige Voraussetzungen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, da dadurch das Wissen der beteiligten Expertinnen und Experten in den Prozess einfließt und so die Chancen für einen breit abgestützten Entscheid steigen. VHN 1/ 2011 66 Marius Metzger Anmerkung 1 Das Forschungsprojekt wurde durch die finanzielle Unterstützung der Stiftung Suzanne und Hans Biäsch zur Förderung der Angewandten Psychologie sowie der Hochschule Luzern ermöglicht. Der Kinderschutz Schweiz unterstützte das Forschungsprojekt ideell. Die Untersuchung wurde im Zeitraum zwischen Winter 2007 bis Sommer 2009 durchgeführt. Literatur Colombo, Gianmarco (2000): Das Patientengut der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich 1993 - 1997 als Ausgangsanalyse vor der Bildung von regionalen Kinderschutzgruppen im Kanton Zürich. Inaugural-Dissertation an der Universitäts-Kinderklinik Zürich Diekmann, Andreas; Voss, Thomas (Hrsg.) 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