Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art08d
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Dialog: Der Themenstrang „Bildungsstandards“
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Heinz Rhyn
Philippe Blanc
Der Themenstrang „Bildungsstandards“ in der VHN wird an dieser Stelle mit dem Dialog zwischen einem Wissenschaftlichen Mitarbeiter des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg und einem Vertreter der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) eingeleitet. Der Mailwechsel zeigt, dass die Thematik der Bildungsstandards sowohl für die Regel- wie auch für die Heil- und Sonderpädagogik aktuell ist und dass bezüglich verschiedener Aspekte Diskussionsbedarf besteht.
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71 VHN, 80. Jg., S. 71 - 77 (2011) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Der Themenstrang „Bildungsstandards“ Der Themenstrang „Bildungsstandards“ in der VHN wird an dieser Stelle mit dem Dialog zwischen einem Wissenschaftlichen Mitarbeiter des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg und einem Vertreter der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) eingeleitet. Der Mailwechsel zeigt, dass die Thematik der Bildungsstandards sowohl für die Regelwie auch für die Heil- und Sonderpädagogik aktuell ist und dass bezüglich verschiedener Aspekte Diskussionsbedarf besteht. Für die Regelpädagogik werden momentan für verschiedene Schulfächer Standards festgelegt und entsprechende Instrumente entwickelt. Für die Sonderpädagogik hat in Deutschland der Verein Sonderpädagogik e.V. eigene Standards veröffentlicht, die „Standards der Sonderpädagogischen Förderung“ (Wember/ Prändl 2009). In der VHN sollen die Thematik der Bildungsstandards und die damit verbundenen Entwicklungen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Vorgesehen sind - neben dem hier abgedruckten Dialog - ein provokatives Essay, ein Beitrag zum Thema „Bildungsstandards und schwere Behinderung“, die Auseinandersetzung einer Erziehungswissenschaftlerin und eines Erziehungswissenschaftlers mit den Standards der Sonderpädagogischen Förderung sowie ein Artikel, in dem sich ein Sonderpädagoge mit der Standard-Thematik befasst. Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz, Universität Zürich Wember, F. B.; Prändl, S. (Hrsg.) (2009): Standards der sonderpädagogischen Förderung. München/ Basel: Reinhardt. Bildungsstandards, Schulqualität und Ökonomie Heinz Rhyn Philippe Blanc Bern Freiburg/ CH Dialog Sehr geehrter Herr Rhyn Vor Jahren besuchte ich bei Ihnen ein Seminar zur politischen Steuerung von Bildungssystemen. Damals haben Sie versucht, mir die Vorzüge von Bildungsstandards schmackhaft zu machen. Seither habe ich mich weiter mit der Standardisierung von Bildung auseinandergesetzt, und immer, wenn mir morgens auf meinem Arbeitsweg die Kinder auf den Abstimmungsplakaten der HarmoS-Gegnerschaft weinend entgegenblickten, stellten sich mir grundsätzliche Fragen, über welche ich mich gerne mit Ihnen austauschen möchte. Die Schweiz hat sich dazu entschlossen, Basisstandards einzuführen. Geplant ist ein Bildungsmonitoring, welches darstellt, ob Schülerinnen und Schüler in den Fachbereichen Erstsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften standardisierte Mindestanforderungen erfüllen oder nicht. Geprüft wird jeweils am Ende des zweiten, sechsten und neunten Schuljahres. Monitoring und Standards - so die Vorstellung - bieten eine solide Basis für bildungspolitische Steuerungsentscheide. Die Erwartungen sind hoch gesteckt. Durch die Reform soll die Chancengleichheit erhöht und die Schule gerechter und effizienter werden. Als Heilpädagoge messe ich jede Schulreform als Erstes an ihrer Wirkung auf Schülerinnen und Schüler mit speziellem Förderbedarf. Hierzu muss gesagt werden, dass seit Jahrzehnten Bemühungen laufen, die Schule für diese Gruppe weiter zu öffnen. VHN 1/ 2011 72 Heinz Rhyn, Philippe Blanc Genau hier zeichnen sich jedoch ernsthafte Zielkonflikte ab: Einerseits wird von einer leistungsheterogenen Schule für alle gesprochen, andererseits werden Leistungsstandards diskutiert, welche eine künstliche Trennlinie institutionalisieren zwischen Schülerinnen und Schülern, die den Anforderungen gerecht werden, und jenen, welche seit PISA als „Rest“ oder Risikogruppe bezeichnet werden. Dies zementiert leistungsbezogenes Differenzdenken, statt es abzubauen. Zudem ist unklar, wie sich Schulen oder Lehrpersonen verhalten werden, um die Mindeststandards zu erfüllen. Es ist davon auszugehen, dass Konkurrenz- und Leistungsdruck im Klassenzimmer ansteigen werden. Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf fallen diesem normalerweise als Erste zum Opfer. Eine wichtige Frage bleibt ungeklärt: Was geschieht, wenn ein Kanton oder eine Schule die geforderten Ansprüche nicht erfüllt? Es wird jeweils vom (bildungs-)politischen Kräfteverhältnis abhängen, ob auf verstärkte Unterstützung oder auf Sanktionierung gesetzt wird. Die Erfahrungen aus den USA und England haben gezeigt, dass gewissen Schulen sogar Mittel gestrichen wurden, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllt haben. Es würde mich interessieren, wie Sie als Pädagoge und Leiter der Abteilung Qualitätsentwicklung der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) diese Befürchtungen einschätzen. Herzliche Grüße Philippe Blanc Sehr geehrter Herr Blanc Es freut mich, dass das damalige Seminar an der Universität Freiburg bei Ihnen ein nachhaltiges Interesse geweckt hat, und besonders freue ich mich darüber, dass Sie nun den Dialog mit mir suchen. Als Heilpädagoge stellen Sie erwartungsgemäss Fragen, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen. Doch erlauben Sie mir zunächst einige Bemerkungen zu der von Ihnen skizzierten Ausgangslage. Mit der „Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule“ (kurz: HarmoS-Konkordat) wird ein Verfassungsauftrag erfüllt, der von einer überwältigenden Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes (86 %) und von allen Ständen mit der Revision der Bildungsartikel in der Bundesverfassung vorgegeben wurde. Die Kantone sind gemäss Artikel 62, Abs. 4 gehalten, Beginn, Dauer, Ziele und Übergänge der Bildungsstufen zu harmonisieren. Mit den Bildungsstandards sollen die Ziele der obligatorischen Schule zunächst in den von Ihnen genannten Fächern, später auch in anderen harmonisiert werden. Weil dies in einem mehrsprachigen Land nicht einfach mittels der regionalen Lehrpläne und Lehrmittel erfolgen kann, eignet sich das Instrument der an konkreten Kompetenzen orientierten nationalen Bildungsstandards besonders gut dafür. Der Weg zur Erreichung der Standards ist grundsätzlich offen und von den Sprachregionen, den Kantonen, den Schulen und nicht zuletzt im täglichen Unterricht von den dafür auf tertiärem Niveau professionell ausgebildeten Lehrpersonen zu gestalten. Die von der HarmoS-Gegnerschaft für ihre emotionalisierenden Abstimmungskampagnen missbrauchten Kinder weinen nicht wegen der Standards, auch nicht wegen des obligatorischen Kindergartens, der in den allermeisten Fällen zu lachenden und fröhlichen Kindergesichtern führt. Die Bildungsstandards und deren Überprüfung werden einen Beitrag zum Bildungsmonitoring Schweiz leisten, sie sind aber nicht mit diesem gleichzusetzen. Das Bildungsmonitoring Schweiz umfasst das ganze Bildungssystem in allen seinen Teilen von der Vorschule bis zur Weiterbildung. Es setzt Art. 61 a der Bundesverfassung um und wird, den Zuständigkeiten und dem neuen Verständnis der gemeinsamen Sorge entsprechend, von Bund und Kantonen VHN 1/ 2011 73 Bildungsstandards, Schulqualität und Ökonomie zusammen durchgeführt. Im Februar des letzten Jahres ist der erste ordentliche Bildungsbericht Schweiz 2010 erschienen und wird zur Zeit breit diskutiert. Die Bildungsstandards in der Schweiz legen in Form von Basisstandards die grundlegenden Kompetenzen für die von Ihnen genannten Klassenstufen fest, die in der obligatorischen Schule der Schweiz mindestens erreicht werden sollen. Dadurch werden die Ziele gemäß Verfassungsauftrag harmonisiert. Die Umsetzung findet in einem föderal aufgebauten, subsidiär funktionierenden, direkt demokratisch gesteuerten und mehrsprachigen Land wie der Schweiz auf verschiedenen Ebenen statt. Die EDK hat bereits im Herbst 2007 festgehalten, dass die Basisstandards von der EDK zur Überprüfung des Bildungssystems und von den Kantonen, koordiniert in den drei Sprachregionen, für individuelle Standortbestimmungen der Schülerinnen und Schüler genutzt werden sollen. Festgehalten wurde ausserdem, dass die Basisstandards nicht für Schulrankings, nicht zur Beurteilung von Lehrerinnen und Lehrern und nicht zu Selektionszwecken genutzt werden sollen. Damit sollte auch klar sein, dass es nicht darum gehen kann, Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungs- und Entwicklungsbedarf mittels Basisstandards aus den Regelklassen zu drängen. Die Kantone haben mit der „Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik“ den Grundsatz aufgenommen, dass die Integration von Lernenden mit Behinderungen der Segregation vorangestellt werden soll und vollziehen damit bundesgesetzliche Vorgaben. Integriert wird dort, wo dies dem Wohl des Kindes entspricht und wo dies im Rahmen einer bestehenden Schulorganisation sinnvoll geleistet werden kann. In diesem Zusammenhang können Basisstandards durchaus positiv genutzt werden, weil die Zielvorgaben für Kinder mit besonderem Förderbedarf nun klar sind. Kinder, welche die Ziele nicht vollständig erreichen, müssen nicht ausgesondert, sondern können weiterhin, vielleicht optimiert, auf die Kompetenzen hin gefördert werden. Die Basisstandards sind eher als Vorgaben für die Schule als für die Schülerinnen und Schüler zu verstehen. Wenn die Standards nicht erreicht werden, sind nicht einfach Kinder auszusortieren, zu bestrafen oder mit schlechten Noten abzufertigen, sondern es sind Massnahmen zu ergreifen, die sicherstellen, dass die Schule künftig die Standards besser erreicht. Die Standards geben vor, was die obligatorische Schule auf die drei Messzeitpunkte hin in den vier Fächern zu leisten hat. In diesem Sinne dienen die Standards in erster Linie der Orientierung und weniger der Erhöhung von Konkurrenz. Die Schule als Institution übernimmt hier eine Leistungspflicht. Es entspricht weder der schweizerischen Tradition noch unserer Schulkultur, dass Schulen, die Schwierigkeiten haben, durch Kürzung der Mittel bestraft werden. In sämtlichen Kantonen, die eine Schulfinanzierung nach Sozialindex eingeführt haben, erhalten Schulen bzw. Gemeinden in sozial belasteten Verhältnissen mehr und nicht weniger Mittel. Ich sehe keinen Grund, warum das bei den Standards anders sein sollte. Die Schulkultur in der Schweiz unterscheidet sich markant von der in den angelsächsischen Staaten, weshalb wir auch anders mit den Bildungsstandards und mit den entsprechenden Testverfahren umgehen werden, als dies in den USA oder in England der Fall ist. Ich will Ihnen gegenüber nichts schönreden, und ich bin mir bewusst, dass die Gefahr des Missbrauchs besteht. Wir müssen aber alle gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Missbrauch aufgedeckt und verhindert wird. Damit tragen wir dazu bei, ein Instrument zu befördern, von dem die Schule insgesamt und somit auch die Schülerinnen und Schüler, auch diejenigen mit besonderem Bildungs- und Entwicklungsbedarf, profitieren können. Mit herzlichem Gruß Heinz Rhyn VHN 1/ 2011 74 Heinz Rhyn, Philippe Blanc Sehr geehrter Herr Rhyn Vielen Dank für Ihre Antwort, welche ich mit viel Aufmerksamkeit gelesen habe. Für mich schildern Sie nicht nur sehr treffend, was mit HarmoS entschieden wurde, sondern auch, wie diese Entscheide legitimiert werden. Ich gehe mit Ihnen einig, dass es heute noch nicht klar ist, wie sich die Basisstandards auf leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler auswirken werden. Dieselbe Unsicherheit gilt für eine Reihe allgemeiner Einwände, welche nicht nur spezifisch leistungsschwache Lernende betreffen. Zwei Kritikpunkte erscheinen mir im Zusammenhang mit Schülerinnen und Schülern aus Regelklassen wichtig: 1. Standardisierte Leistungserwartungen und deren Überprüfung sagen wenig darüber aus, wie schulische Leistungen entstehen. Hierzu werden zusätzliche Informationen zum Lehr- und Lernprozess benötigt. Diese werden durch standardisierte Leistungstests nicht erhoben. Messen und Testen garantiert zwar hohe Kosten, leider aber nicht zwingend eine höhere Qualität der Volksschule. 2. Die erhöhte Bedeutung des Testens und Evaluierens kann im Schulalltag gewollt oder ungewollt zu einer Verengung des Bildungsauftrags beitragen. Dies ist dann der Fall, wenn Lehrpersonen ihren Unterricht immer stärker auf Leistungstests ausrichten oder bestehende Hierarchien zwischen Haupt- und Nebenfächern durch unterschiedliche Evaluationsarten weiter verstärkt werden. Das Problem reicht jedoch weit über (fach-) didaktische Befürchtungen hinaus. Das Denken in Standards und Kompetenzmodellen beinhaltet eine veränderte Vorstellung von Bildungsqualität. Im aktuellen Diskurs weicht das emanzipatorische Potenzial eines weit gefassten kritischen Bildungsbegriffs unübersehbar bildungsökonomischen Idealvorstellungen. Aus Bildungszielen werden Ausbildungsziele gemacht. Das ökonomische Paradigma sieht Bildung als Produktionsfaktor, aus welchem sich der (Arbeits-)Marktwert eines Menschen oder die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft ableiten lässt. Es ist meines Erachtens jedoch zu früh, um abschliessend zu beurteilen, inwiefern sich der ökonomische Bildungsbegriff in der Volksschule umsetzen lässt. Es würde mich interessieren, ob auch Sie solche Verschiebungen wahrnehmen. Ich möchte am Stichwort Ökonomisierung festhalten, die Diskussion jedoch auf eine institutionelle Ebene verlagern. In Ihrer Mail erwähnen Sie den vor Kurzem erschienenen Bildungsbericht, welcher Bund und Kantone bei Steuerungsentscheiden mit vielen interessanten Informationen zu Equity, Effizienz und Effektivität beliefert. Diese drei Schwerpunkte machen deutlich, worauf es bei (bildungs-) politischen Steuerungsentscheiden ankommt. Gewünscht sind Lösungen, welche möglichst Vielen zu niedrigen Kosten viel Nutzen erbringen. Zwischen den einzelnen Schwerpunkten bestehen jedoch Zielkonflikte, denn sie lassen sich kaum gemeinsam realisieren. Dies erklärt wohl die andauernde Debatte darüber, wie das Bildungssystem gesteuert werden soll. Wie wird ein chancengleicher Zugang zu Bildung garantiert? Wie viel Geld des Staatshaushaltes soll in den Bildungsbereich fließen? Wer entscheidet, wie gelehrt und gelernt werden soll? Reformvorschläge zur Steuerung des Bildungssystems orientieren sich idealtypisch entweder an Markt- oder an Staatssteuerung. Welche Vorschläge sich durchsetzen, hängt von politischen und wirtschaftlichen Interessen ab. Mit HarmoS wird die Verantwortung für Kontrolle und Finanzierung zentralisiert. Die Verantwortung für die Leistungserbringung wird jedoch nach unten an Schulen und Lehrpersonen übertragen. Dies ist prinzipiell nichts Neues. Es laufen seit Jahren Bemühungen in Richtung Schulautonomie und New Public Management: Schulleitungen werden gestärkt, Leitbilder geschaffen, Evaluationen durchge- VHN 1/ 2011 75 Bildungsstandards, Schulqualität und Ökonomie führt, Qualitätsnormen eingehalten und Konzepte entwickelt. Im Rahmen von Pilotprojekten zur freien Schulwahl und zu Bildungsgutscheinen werden sogar Erfahrungen mit der völligen Liberalisierung der Volksschule gesammelt. Bildungsstandards sind auch vor dem Hintergrund dieser Tendenzen zu betrachten. Indem sie Bildungsqualität quantifizieren, schaffen sie erstmals die Ausgangslage eines Bildungsmarkts, in dem konkurrierende Leistungsanbieter um Leistungsverträge oder um das Vertrauen von Eltern buhlen. Denn mit dem Versprechen, „Transparenz“ zu schaffen, ermöglichen Standards sogenannt „rationale“ Entscheidungen. Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass es der Volksschule ebenso ergeht wie dem Gesundheits-, dem Kommunikations- oder andern Bereichen des Service Public, welche liberalisiert und (teil-)privatisiert wurden? Die Volksschule ist der letzte Teil des Bildungssystems, welcher noch nicht vollständig den Gesetzen des Marktes unterworfen ist. Vorschulische, tertiäre oder berufliche (Weiter-)Bildungsangebote sind heute schon als Quasimärkte organisiert. Gerade in der aktuellen Situation einer angespannten Wirtschaftslage ist zu erwarten, dass der Druck auf die Staatskassen rasant ansteigen wird. Der steigende Spardruck wird voraussichtlich auch die Volksschule nicht verschonen. Im heutigen politischen Kontext ist es denkbar, dass rasch auf das Rezept ,Kosten senken durch Liberalisierung‘ gesetzt wird. Zudem stellt der Bildungsmarkt einen potenziellen realwirtschaftlichen Investitionsmarkt für Private dar. Nach dem Überborden der Finanzmärkte scheinen solche mehr als gefragt. Ich teile Ihre Einschätzung, dass dies bisher im Volksschulbereich nicht üblich war, doch sind solche „Traditionen“ bei Geldbedürfnissen nicht jeweils schnell wandelbar? Ich freue mich auf Ihre Antwort und danke Ihnen herzlich für den offenen Dialog. Mit freundlichem Gruß Philippe Blanc Sehr geehrter Herr Blanc Mit grösster Aufmerksamkeit habe ich Ihre grundsätzlichen Überlegungen zur Bildungssystemsteuerung, zu Grundprinzipien der Bildungspolitik und zum ökonomisierten Bildungsbegriff gelesen. Nur vordergründig entfernt sich damit unser Dialog von Themen der Heilpädagogik; im Kern geht es aber genau auch darum, weil es um die Zukunft der obligatorischen Schule und damit um eine allgemeine, öffentliche Volksschule für alle geht. Ihrem ersten herausgehobenen Kritikpunkt stimme ich gerne zu: Messen und Testen führt nicht automatisch zu besseren Leistungen oder höherer Schulqualität. Es ermöglicht aber je nach Testverfahren eine Standortbestimmung für einzelne Schülerinnen und Schüler oder für das Schulsystem. Aufgrund der Ergebnisse müssen geeignete Fördermassnahmen und Unterstützungsformen beschlossen und umgesetzt werden. Erst dann entsteht ein Nutzen für die Schülerinnen und Schüler und für die Schule. Dass sich diese Standortbestimmungen in einer ersten Phase auf vier Fächer beschränken (Ihr zweiter Kritikpunkt), hat in erster Linie mit arbeitsökonomischen Rahmenbedingungen und erst in zweiter Linie mit Fächergewichtungen zu tun. Immerhin wird mit den vier aktuellen Fächern mehr als die Hälfte des schulischen Unterrichts abgedeckt. Im HarmoS- Konkordat sind die Bildungsbereiche allgemein umschrieben (vgl. Art. 3), und es ist explizit festgehalten, dass nicht nur Leistungsstandards, sondern auch andere Formen (Standards zu Inhalten und zu Angeboten) entwickelt werden sollen. Zurzeit gehen wir davon aus, dass in einer zweiten Phase Standards für die Bereiche Musik, Sport, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Bildnerisches Gestalten ausgearbeitet werden. Die geplanten Test- und Messverfahren dienen einer Standortbestimmung im diagnostischen und explizit nicht im kompetitiven Sinne. Dass ein einzelnes Datum nicht ausreicht, um eine Diagnose oder einen Befund zu VHN 1/ 2011 76 Heinz Rhyn, Philippe Blanc erstellen, wissen wir beide. Dies gilt selbstverständlich auch für Schulleistungsmessungen auf allen Ebenen. Beispielsweise lassen sich aufgrund der PISA-Erhebungen nur sehr bedingt Urteile über Schulsysteme fällen. Zum einen können diese Verfahren nur eingeschränkt fachspezifische Kompetenzen messen, zum andern wird durch die Beschränkung auf drei Fächer ein grosser Teil der Bildungsleistungen ausgeklammert. So werden etwa die grossen Anstrengungen und Leistungen im Fremdsprachenunterricht in unserem Bildungssystem ebenso wenig berücksichtig wie die Tatsache, dass andere Länder teilweise keinen oder kaum Fremdsprachenunterricht im obligatorischen Schulbereich anbieten. Ein internationaler Systemvergleich ist unter diesen Bedingungen mit Vorsicht zu interpretieren. Anders als in den angelsächsischen Ländern üblich, wird die Schulqualität im deutschsprachigen und lateinischen Europa in der Regel nicht ausschliesslich aufgrund gemessener schulischer Leistung definiert, weil andere Merkmale - auch solche der Schulhauskultur - beigezogen werden. Die von Ihnen angesprochene Tendenz zur Ökonomisierung des Bildungsbegriffs nehme ich im internationalen Diskurs stark wahr. Eine der treibenden Kräfte ist dabei sicherlich die OECD. Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass die Meinungen zwischen der Schweiz und der OECD nicht nur im Finanz-, sondern auch im Bildungsbereich teilweise auseinandergehen und sich die schweizerischen Bildungsbehörden in keiner Weise als verlängerter Arm der OECD oder anderer ökonomisch ausgerichteter Interessenverbände verstehen. In der Schweiz ist die politische Unterstützung insbesondere für einen starken und unabhängigen obligatorischen Schulunterricht ungebrochen vorhanden, und die Volksabstimmungen zur freien Schulwahl in einzelnen Kantonen haben gezeigt, dass auch der Souverän an einer allgemeinen, öffentlichen Volksschule festhalten will. Eine Marktsteuerung des obligatorischen Schulbereichs ist weder realistisch noch geplant noch politisch gewollt. Eine Deregulierung im Sinne einer marktwirtschaftlichen Liberalisierung ist für den obligatorischen Schulbereich in der Schweiz in absehbarer Zeit nicht zu befürchten. Mit dem Bildungsbericht 2010 werden denn auch weniger Grundlagen für eine marktorientierte Steuerung des Bildungssystems geschaffen als solche für eine verantwortungsvolle politische Steuerung, die sich in Kenntnis einer empirisch gesicherten Beschreibung des Bildungssystems an Wirkungen und an Gerechtigkeit orientiert. Dass dabei auch die eingesetzten Mittel - und somit Fragen der Effizienz - berücksichtigt werden, ist in einem öffentlich finanzierten gesellschaftlichen System ein Gebot der politischen Redlichkeit und vermutlich auch Klugheit. Abgesehen vom Gesundheitswesen wird meines Wissens von der öffentlichen Hand für den Bildungsbereich am meisten Geld ausgegeben, und da besteht zweifelsohne eine Rechenschaftspflicht, welche in der Vergangenheit kaum genügend wahrgenommen wurde. Diese Rechenschaft muss sich jedoch nicht auf ökonomische Kennwerte beschränken. Hier würde ich Ihnen durchaus zugestehen, dass Konzepte allgemeiner Bildung und damit ein „emanzipatorischer“ Bildungsbegriff wieder stärker Berücksichtigung finden können und müssen. Klar widersprechen muss ich Ihnen bezüglich der Behauptung, dass mit dem HarmoS- Konkordat die Verantwortung für Kontrolle und Finanzierung zentralisiert werde. Mit diesem Konkordat werden keine Zuständigkeiten und Kompetenzen verschoben oder anders verteilt. Zudem ist das Subsidiaritätsprinzip explizit verankert, die föderale Struktur in einem mehrsprachigen Land wird konsequent berücksichtigt und die Profession respektiert. Dies bedeutet beispielsweise, dass die EDK die verfassungsrechtlich geforderte Harmonisierung der Bildungsziele nicht über Lehrpläne erreichen kann, weil die Lehrplan- und Lehrmittelhoheit bei den Kantonen bzw. den Sprachregionen liegt. Auf gesamtschweizerischer Ebene werden mittels Bildungsstandards fachbezogene VHN 1/ 2011 77 Bildungsstandards, Schulqualität und Ökonomie Kompetenzen vorgegeben, die mit unterschiedlichen Lehrplänen und Lehrmitteln erreicht werden können. Weiter sagt das Konkordat nichts darüber aus, wie diese Bildungsstandards erreicht werden sollen. Die Lernwege zu diesen Kompetenzen können nur von den professionell, heute auf tertiärem Niveau ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern aufgezeigt, gestaltet und umgesetzt werden. Schließlich ist mit den Bildungsstandards kein curricularer Anspruch verbunden. Was eine gute Allgemeinbildung ist, kann und soll nicht von der Verwaltung und der Politik bestimmt werden. Das hat nichts mit Übertragung von Verantwortung gegen unten im Sinne des New Public Managements zu tun, sondern ist Ausdruck von Respekt vor den Fachleuten und den Lehrerinnen und Lehrern. Wenn Politik oder Verwaltung vorschreiben würden, wie Schülerinnen und Schüler zu unterrichten sind, dann würde dies von den Schulen und Lehrpersonen zu Recht als Anmaßung und Entmündigung empfunden. Die Stärke der Bildungsstandards liegt in ihrer Beschränkung und zugleich in der Gewährleistung eines schulischen und professionellen Handlungs- und Gestaltungsfreiraums. Wichtig ist mir, dass die Bildungsstandards nicht für die Ökonomisierung der Schule oder gar der Bildung missbraucht werden, dass wir aber mit ihnen über ein Instrument verfügen, das uns erlaubt, die Ziele der obligatorischen Schule zu klären. Die Messbarkeit ist sekundär. Die Zielvereinbarung ist aber für die Volksschule von zukunftsweisender Bedeutung auch und gerade für die Integration von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Entwicklungsbedürfnissen. Jedoch kann das Vorhaben nur gelingen, wenn es von wachen und kritischen Geistern wie Ihnen begleitet wird. In diesem Sinn hoffe ich, dass wir unseren Dialog in der einen oder anderen Weise weiterführen können. Mit freundlichen Grüßen Heinz Rhyn Dr. Heinz Rhyn Leiter Abteilung Qualitätsentwicklung Generalsekretariat EDK Haus der Kantone Speichergasse 6 Postfach 660 CH-3000 Bern 7 E-Mail: rhyn@edk.ch Philippe Blanc Wissenschaftlicher Mitarbeiter Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ Schweiz Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: philippe.blanc@unifr.ch
