Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte VHN 1/11
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Frühgeburt – Familienzentrierte Betreuung in der Neonatologie: Situationsanalyse und Zukunftsperspektiven
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VHN 1/ 2011 78 Aktuelle Forschungsprojekte Frühgeburt - Familienzentrierte Betreuung in der Neonatologie: Situationsanalyse und Zukunftsperspektiven Jessica Carlitscheck Universität zu Köln Bei diesem Forschungsprojekt handelt es sich um das Dissertationsvorhaben von Jessica Carlitscheck am Lehrstuhl für Allgemeine Heilpädagogik der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Ausgangslage In der neonatologischen Intensivmedizin zeichnet sich weltweit seit Ende der 1980er Jahre eine grundlegende Fokusverschiebung in Bezug auf die Versorgung frühgeborener Kinder und ihrer Eltern ab. Dabei zeigt die Entwicklungsrichtung von einer vormals rein medizinisch orientierten Kindzentrierung hin zu einer biopsychosozialen Familien- und Kontextzentrierung. Diese Fokusverschiebung ergibt sich hauptsächlich aus drei Gründen: Zum einen aus der Anerkennung der besonderen, zumeist belastenden Situation, in der sich die Eltern eines frühgeborenen Kindes befinden. Zum anderen aus der Anerkennung der Bedeutung des neonatologischen Fachpersonals - Ärztinnen und Ärzte wie Pflegekräfte - als potenzielle Ressource für die Eltern während der Klinikzeit. Und drittens aus der Überzeugung, dass die Eltern der wesentliche protektive Faktor für eine positive Entwicklung des Kindes während und besonders nach der Klinikzeit sind. In der Forschungsliteratur zeigt sich jedoch ein uneinheitliches Bild. Einerseits ist der Ansatz familienzentrierter Betreuung als wichtige Säule einer entwicklungsorientierten Versorgung identifiziert worden und wird in seiner grundsätzlichen normativen Bedeutung und praktischen Notwendigkeit nicht angezweifelt. Andererseits existiert jedoch bislang noch keine einheitliche Definition „familienzentrierter Betreuung“, auf die sich Wissenschaft, Fachleute und Fachgesellschaften festlegt haben und nach der sich praktisch tätige Fachleute richten können. Schaut man des Weiteren auf die konkreten Aspekte, die familienzentrierte Betreuung umfassen soll, so verbleiben diese meist auf dem Niveau von Postulaten und weisen von Autor zu Autor große Unterschiede auf. International befindet sich die Wissenschaft aktuell in einer Phase, in der die definitorische und praxisorientierte Konturierung familienzentrierter Betreuung vorangetrieben wird. Darüber hinaus wurden die vor allem im USamerikanischen sowie skandinavischen und in geringer Zahl im deutschen Raum formulierten Standards bisher nur unzureichend in Bezug auf ihre praktische Umsetzung untersucht. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass allgemein eine Verschiebung vom Fokus medizinisch-pflegerischer Standards zugunsten familienzentrierter Standards attestiert wird, deren konsequente Umsetzung in der Alltagspraxis jedoch fraglich bzw. heterogen ist, so dass eine anzunehmende Diskrepanz besteht, „(…) between what has been accepted as essential and what we actually execute in the practice of family-centered care“ (Petersen u. a. 2004, 421). Petersen u. a. (2004) fragen in diesem Zusammenhang pointiert: „Family- Centered Care: Do We Practice What We Preach? “ (421) Forschungsfragen und Zielsetzung Als zentrale Desiderate für den aktuellen Forschungsbedarf lassen sich formulieren: 1. „Familienzentrierte Betreuung“ ist theoretisch wie praktisch kein einheitlicher Ansatz mit klar umrissenen, konkreten Standards und verbleibt meist auf dem Niveau von Postulaten. Sie stellt derzeit kein zwingend evidenzbasiertes Konzept dar. Der aktuelle Entwicklungsstand familienzentrierter Betreuung überlässt die praktische Ausgestaltung und konkrete inhaltliche Füllung den Fachleuten im Stationsalltag und garantiert damit keine flächendeckende Implementierung und konsequente Umsetzung. 2. Die vielfach formulierten Standards wurden bislang nur unzureichend in Bezug auf ihre praktische Umsetzung aus fachlicher wie aus elterlicher Sicht untersucht. 3. Die Perspektive der Eltern, ihre Bedürfnisse und Ressourcen wie auch ihre Zufriedenheit mit der familienzentrierten Betreuung wurden insbesondere im deutschen Kontext bisher kaum thematisiert. Unter Berücksichtigung dieser Ausgangslage besteht die Zielsetzung des hier skizzierten Forschungsprojektes darin, die bislang in der internationalen Literatur benannten Aspekte familienzentrierter Betreu- VHN 1/ 2011 79 Aktuelle Forschungsprojekte ung zusammenzutragen und zu überprüfen, wie diese von neonatologischen Fachleuten und Eltern als Adressaten der Versorgungsleistung „familienzentrierte Betreuung“ bewertet und in der praktischen Umsetzung beurteilt werden. Methodisch wird dies mit dem im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelten Fragebogen „Familienzentrierte Betreuung in der Neonatologie (FaZeB)“ umgesetzt. Neben der explorativen Untersuchung des Umsetzungsstandes sollen anschließend Leitlinien vorgestellt werden, die auf Basis elterlicher und fachlicher Einschätzungen eine Orientierungshilfe zur Planung und Durchführung familienzentrierter Betreuung in der Neonatologie darstellen können. Damit soll ein Beitrag zur konzeptionellen Weiterentwicklung familienzentrierter Betreuung geleistet werden. Untersuchungsdesign Das Design kann als explorative, querschnittliche und multizentrische Felduntersuchung charakterisiert werden. Die Untersuchung gliedert sich in eine Pilotphase und eine Hauptstudie, in der eine Fragebogenerhebung mit neonatologischen Fachleuten und qualitative Interviews mit Eltern frühgeborener Kinder trianguliert werden. Innerhalb der Pilotphase wurde der Ansatz „familienzentrierte Betreuung“ exploriert und der entwickelte Fragebogen getestet. Damit diente die Pilotphase schon als eigene explorative Erhebungsphase. Mittels qualitativer Methoden (Fokusgruppen und kognitive Interviews) wurde der Fragebogen- Prototyp weiterentwickelt und inhaltlich validiert. Folglich konnte der Fragebogen sukzessive durch in Fokusgruppendiskussionen gesammelte Problembereiche ergänzt und im Hinblick auf die Verständlichkeit und Eindeutigkeit der Fragen schrittweise überarbeitet werden. Durch eine Faktorenanalyse werden im Anschluss an die Erhebung die statistische Validierung des Fragebogens gesichert und wesentliche Komponenten familienzentrierter Betreuung identifiziert. Die Stichprobe rekrutiert sich aus der Grundgesamtheit sämtlicher 226 neonatologischen Abteilungen in Deutschland, die im Rahmen eines Perinatalzentrums Level I oder II organisiert sind. Daraus wurde eine Zufallsstichprobe gezogen, aus der sich 28 Kliniken mit 749 Mitarbeitern zur Teilnahme an der Fragebogenerhebung bereit erklärt haben. Der Fragebogen „Familienzentrierte Betreuung in der Neonatologie (FaZeB)“ erhebt in Anlehnung an Bruce und Ritchie (1997) in zwei Schritten auf einer je 4-stufigen Likert-Skala, inwieweit die genannten Aspekte 1. derzeit angewendet werden und 2. wichtig für die Bereitstellung familienzentrierter Betreuung auf neonatologischen Intensivstationen sind. Es werden insgesamt 91 Items abgefragt. Der Bogen ist in die folgenden 10 Subskalen unterteilt, die zentrale Konstrukte familienzentrierter Betreuung repräsentieren und die aus einer Literaturreview synthetisiert wurden: Haltung, Kooperation, Information und Aufklärung, Partizipation, familienorientierte Rahmenbedingungen, entwicklungsfördernde Pflege, Förderung der Eltern-Kind-Beziehung, Elternselbsthilfe, Psychosoziale Entwicklungsprozesse der Eltern sowie Entlassungsmanagement und Nachsorge. Im Anschluss an die Fragebogenerhebung werden Eltern ehemals frühgeborener Kinder zu ihren Bedürfnissen und Ressourcen während der Klinikzeit sowie zu ihrer Zufriedenheit mit familienzentrierter Betreuung interviewt. Die Ergebnisse aus diesen beiden Teilkomponenten - Befragung der Fachleute und der Eltern - werden abschließend zur Konzeptionalisierung familienzentrierter Betreuung synthetisiert. Weitere Informationen und Literaturhinweise können eingeholt werden bei Jessica.Carlitscheck@uni-koeln. de
