eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art07d
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Gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen

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2011
Maximilian Buchka
Die gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen wird als Theorie und Praxis der sozialtherapeutischen Geragogik verstanden. Als Theorie-Praxis-Konzept basiert sie auf einer klaren Material- und Formalobjektbestimmung, einer sozialethischen Spiritualität sowie einem geragogischen Handlungskonzept mit einer institutionellen Umsetzung in den kulturellen Lebensräumen des Wohnens und der Arbeit.
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Fachbeitrag 111 VHN, 80. Jg., S. 111 - 119 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel themenstrang alter und behinderung Gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen Maximilian Buchka Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter/ Bonn n Zusammenfassung: Die gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen wird als Theorie und Praxis der sozialtherapeutischen Geragogik verstanden. Als Theorie-Praxis-Konzept basiert sie auf einer klaren Material- und Formalobjektbestimmung, einer sozialethischen Spiritualität sowie einem geragogischen Handlungskonzept mit einer institutionellen Umsetzung in den kulturellen Lebensräumen des Wohnens und der Arbeit. Schlüsselbegriffe: Geragogik, Sozialtherapie, anthroposophische Spiritualität Gerontagogy in Anthroposophical Institutions n Summary: Gerontagogic activities in anthroposophical institutions are understood as the theory and practice of social-therapeutic geragogy. As a concept of theory and practice, they are based on a distinct definition of the material and the formal object, on a social-ethical spirituality as well as on a geragogic action-concept, implemented in an institutional setting with its cultural living spaces of residence and work. Keywords: Geragogy, social therapy, anthroposophical spirituality 1 Das Alter als individuelle und soziale Kategorie bei Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit Es ist eine Binsenweisheit, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine demografische Verschiebung vollzogen hat, die sich in den nächsten Jahrzehnten noch fortsetzen wird. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für die BRD (2009) wird die Bevölkerungszahl bis 2050 auf 68 Millionen Menschen sinken, inkl. der Zuwanderungszahlen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen wird von 21 % auf 16 %, der der erwerbstätigen Menschen im Alter von 20 bis 60 Jahren von 56 % auf 47 % fallen, während der Anteil der über 60-Jährigen von 22 % auf etwa 36 - 37 % ansteigen wird. Das heißt, dass im Jahre 2050 in Deutschland doppelt so viele ältere als jüngere Menschen leben werden. Die gleiche Beobachtung des prozentualen demografischen Anstiegs macht man auch bei der Gruppe der älter werdenden Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit. Seelenpflege-Bedürftigkeit ist ein spezifischer Begriff der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung. Er wurde schon Anfang der zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Rudolf Steiner vorgeschlagen, um diese Personengruppe vor Diskriminierung zu schützen, da sie zur damaligen Zeit noch als Idioten oder Schwachsinnige bezeichnet wurden. Ursachen für den raschen Anstieg der Anzahl der älteren Menschen sind für Backes/ Clemens (2003, 43) der demografische Wandel, die Fortschritte in der Altersmedizin, die Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für ältere Menschen sowie das Wanderungsgeschehen gegenüber dem Ausland. In der Gesellschaft der BRD ist ein Altersbild entstanden, das durch eine individuelle und eine soziale Kategorie bestimmt werden kann. VHN 2/ 2011 112 Maximilian Buchka 1.1 Die individuelle Kategorie des Alters Die individuelle Alterskategorie bezieht sich einerseits auf die biologischen Abbauprozesse, die während des Alterns bei jedem Menschen unterschiedlich wirksam werden; andererseits schätzt jeder Mensch seine Alterssituation und sein Altern unterschiedlich ein und geht anders damit um. Dafür gibt es ein Sprichwort: Man ist so alt, wie man sich fühlt. Die individuelle Kategorie des Alters bei Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit wird zusätzlich dadurch belastet, dass sie die einsetzenden Alterungsprozesse kognitiv nicht erfassen können. Sie „verstehen“ oft gar nicht, was mit ihnen leiblich-seelisch passiert, warum die Kräfte und Fähigkeiten plötzlich nachlassen, und sie wissen auch nicht, wie sie sich psychisch darauf einzustellen haben und warum sie sich im Alter gesund und fit halten sollen, um Alterungsprozesse kompensieren zu können. 1.2 Die soziale Kategorie des Alters Das Altersbild ist nicht nur individuell, sondern vor allem auch sozial bestimmt. Mit der sozialen Relevanz des Altersbildes ist gemeint, dass in allen Kulturen der Welt den verschiedenen Altersphasen differenzierte Rollen, Wertungen, Rechte und Pflichten zugeschrieben werden sowie altersspezifische Verhaltenserwartungen bestehen. Das alles trägt dazu bei, dass die spezifische Form des Altseins eines Menschen letztlich seine „soziale Konstruktion“ ist. Was bedeutet, dass der ältere Mensch durch die Einnahme seiner neuen Rolle als „alternder Mensch“ aufgefordert ist, sich auch mit der neuen Lebensphase produktiv auseinanderzusetzen. Das Ergebnis ist das eigene Altersbild, das er für sich schafft und mit dem er dann seine letzten Lebensabschnitte sinnvoll gestalten kann. Aus seinem sozialen Altersbild heraus verfolgt er die Gesunderhaltung des eigenen Körpers und trifft psychohygienische Maßnahmen zur Stabilisierung seines Alters-Selbstbildes. Dazu gehört, dass er lernt, wie er seine gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration selbst in die Hand nehmen kann. Das Empowerment-Prinzip hilft ihm dabei, seine kommunikativen und strukturellen Lebensbedingungen so zu ändern, dass er selbstbestimmt zu leben vermag. Dadurch wird das Alter und das Altern kein negativ besetztes „soziales Schicksal“ (Thomae 1969) mehr, sondern eine „soziale Lage“, die der ältere Mensch aktiv beeinflussen kann, um seine Existenz und seine Lebensräume individuell und sozial akzeptabel zu konstruieren (vgl. Wieland 1993, 22). Die Konstruktion des sozialen Altersbildes bei Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit dagegen gestaltet sich viel schwieriger, denn für sie kommen zusätzliche belastende Faktoren hinzu. Da ist zuerst einmal die lebenslang andauernde soziale Benachteiligung zu nennen, die bestimmt wird durch anhaltende Ausgrenzung, Ablehnung und negative Zuschreibungen durch die Umwelt aufgrund der Seelenpflege- Bedürftigkeit. Ein weiterer Faktor ist der Verlust von familiären Bezugspersonen (verstorbene Eltern und Geschwister) und das Fehlen einer eigenen Familie (Ehemann/ -frau, Kinder). Das trifft den seelenpflege-bedürftigen Menschen im Alter besonders hart, weil er keine direkten Angehörigen hat, die ihn zu Hause pflegen können. Aus den genannten Gründen gilt, dass für Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit das Altern ein „soziales Schicksal“ (Thomae) wird. Im Gegensatz zu nicht behinderten älteren Menschen, die diese soziale Situation des Alterns in für sie neue, sinnerfüllende Lebenssituationen umgestalten können, steht Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit diese intellektuelle Fähigkeit der Neukonstruktion nur selten zur Verfügung. 2 Gerontagogische Arbeit als sozialtherapeutische Geragogik bei Menschen mit Seelenpflege- Bedürftigkeit Auch wenn die Überschrift zu diesem Kapitel wie selbstverständlich von gerontagogischer Arbeit spricht, wird diesem Begriff in der Fachdis- VHN 2/ 2011 113 Gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen kussion nicht allgemein zugestimmt. In der Fachliteratur der anthroposophischen Heilpädagogik (als Theorie und Praxis der heilpädagogischen Arbeit bei Kindern und Jugendlichen) und Sozialtherapie (als solche bei erwachsenen und alten Menschen) taucht er nicht auf, dafür wird von einer Sozialtherapie im Alter gesprochen. Um ein wenig Licht in die Begrifflichkeiten zu bringen, folgt eine kurze Begriffsbestimmung. 2.1 Klärung der Grundbegriffe 2.1.1 Geriatrie, Gerontologie und Geragogik Die folgenden Begriffe beziehen sich etymologisch auf die „geronten“, Mitglieder des Ältestenrates in vielen griechischen Stadtstaaten. Mit Geriatrie wird medizinisch die Altersheilkunde verstanden, im Sinne einer „Lehre von den Erkrankungen des alten Menschen (als) fächerübergreifendes Gebiet der Medizin“ (Pschyrembel 2007, 679). Die Gerontologie beschäftigt sich vom Grundsatz her mit allen Fragen und Prozessen des Wachsens, Reifens und Alterns, aber insbesondere in der letzten Lebensphase des Menschen. Sie ist interdisziplinär angelegt. Neben der Medizin der Alterskrankheiten (Geriatrie), speziell der Geronto-Psychiatrie, gehört zur Gerontologie ein breites Wissenschaftsgebiet, welches die Geronto-Psychologie, die Geronto- Soziologie und die Geronto-Pädagogik bzw. Geragogik oder Gerontagogik (vgl. Wingchen 2004, 12) in sich vereint. Die Geragogik ist wohl zuerst von Hans Mieskes (1970) in den erziehungswissenschaftlichen Kontext eingeführt worden. Er beschreibt sie als eine pädagogische Handlungstheorie, die älteren Menschen durch prophylaktische, präventive, betreuende, beratende und therapeutische Angebote Führung, Leitung und Wegweisung anbieten will. Als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft bezieht sich die Geragogik auf die „Voraussetzungen und Bedingungen, Fakten und Anwendungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Gesamt pädagogischer Fragestellungen des Alternsprozesses“ (Eimbter, zit. nach Bachmann 1985, 550). Veelken hat versucht, eine Verbindung zwischen Gerontologie und Geragogik herzustellen. Er definiert die Gerontologie als „Lehre vom Lebenslauf, Lebenssinn und Lebensziel. Geragogik ist die Umsetzung in die Praxis des Lehrens und Lernens.“ (Veelken 2003, 61) Veelken spricht meist von sozialer Geragogik. Ihr Schwerpunkt liegt darin, älteren Menschen nebst Anregung und Begleitung von Lernprozessen auch Maßnahmen und Angebote zu vermitteln, die sie befähigen, ihre Identität zu entfalten sowie den von der Gesellschaft festgesetzten Altersstatus anzunehmen und die sich darin zeigenden Widersprüche als Herausforderung zur Veränderung zu begreifen (vgl. Veelken 1981, 175). 2.1.2 Gerontopädagogik und Gerontagogik Im Begriffsfeld der Geragogik bzw. der sozialen Geragogik wird auch der Terminus Gerontopädagogik (Karg 1987) diskutiert. Er stößt jedoch allgemein auf Ablehnung, weil mit Pädagogik oder Erziehung gemeinhin die Bemühungen von Mündigen gegenüber Unmündigen bezeichnet werden. Das Lernen im Alter ist nicht mehr von „Lehrern“ abhängig, sondern es ist für Guardini (1959, 51) ein Selbst-Bildungsvorgang, der getragen wird durch die Kraft des Gestaltens, Durchsetzens, Meisterns und Ordnens und der zur Sinnfindung führt, zur Wahrheit, zum Schönen und Guten. Um dieses Selbstlernen oder die Selbstbildung, die der ältere Mensch eigenständig vollzieht, begrifflich besonders hervorzuheben, hat Bollnow (1962) schon früh den Begriff der Gerontagogik, verstanden als Altenbildung, in die Fachdiskussion eingebracht. 2.2 Sozialtherapeutische Geragogik anthroposophischer Prägung In anthroposophischen Fachzusammenhängen wird nicht der bollnowsche Begriff der Gerontagogik, sondern der der sozialtherapeutischen VHN 2/ 2011 114 Maximilian Buchka Geragogik verwendet. In der allgemeinen Heil- und Sonderpädagogik geht man immer mehr über den Kinder- und Jugendbereich hinaus und in den Bereich der Erwachsenen- und Altenarbeit hinein. Für diese Altenarbeit heilund/ oder sonderpädagogischen Zuschnitts werden Begriffe vorgeschlagen wie heilpädagogische Geragogik (Bachmann 1985), heilpädagogisch-integrative Geragogik (Skiba 1996) oder sonderpädagogische Geragogik (Breckow 1992). Diese finden aber keine Zustimmung in der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. Hier geht man nach wie vor mit guten Argumenten davon aus, dass man den Begriff der Heilpädagogik als eine in die Entwicklung eingreifende Pädagogik für den Kinder- und Jugendbereich reservieren und für das Erwachsenen- und Seniorenalter mit seinen Selbstbildungsaktivitäten und ökologischen und sozialen Lebensweltgestaltungen den Begriff der Sozialtherapie verwenden sollte. So ist es verständlich, dass in der anthroposophischen Altenarbeit der Begriff der sozialtherapeutischen Geragogik bevorzugt wird. Der Begriff der Sozialtherapie für die Arbeit bei und mit erwachsenen und älteren Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit wurde von Karl König, dem Begründer der Camphill- Bewegung in Schottland, Mitte des letzten Jahrhunderts eingeführt. Man weiß es nicht genau, aber es scheint möglich zu sein, dass er als Arzt das Konzept der Sozialtherapie gekannt hat, das von der Psychiatrie angewendet wird. Dort wird Sozialtherapie als ein Mittel verstanden, auf die Klienten, ihr Umfeld und ihre Lebensweise Einfluss zu nehmen durch „Einsatz sozialer und organisatorischer Maßnahmen mit dem Ziel, die erwünschte Veränderung im Menschen zu bewirken“ (Clark 1977, 9). Als sozialtherapeutisches Mittel bietet sich die sozial gestaltete Gemeinschaft an, so zum Beispiel in Kliniken, Tagesstrukturen, Strafanstalten oder Drogeneinrichtungen. Dabei setzt die sozialpsychiatrische Sozialtherapie sehr bewusst auf die heilende Wirkung einer therapeutisch gestalteten Umgebung und bezieht „die störenden Bedingungen mit in ihr Hilfekonzept ein. Die Veränderung zielt also auf das Soziale, und die Mittel sind wiederum das Soziale“ (Stein 1983, 49), d. h., das Soziale wird selbst zum therapeutischen Faktor. In der anthroposophischen Tradition der Arbeit von Karl König bei erwachsenen und alten Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit wird die Sozialtherapie, ähnlich wie in der Sozialpsychiatrie, als ein institutionelles Konzept verstanden, das dazu dient, Menschen bei ihrem Streben nach Veränderung mittels sozialer Wirkfaktoren zu unterstützen. 3 Das Konzept der sozialtherapeutischen Geragogik anthroposophischer Prägung Das Konzept der sozialtherapeutischen Geragogik anthroposophischer Prägung wird durch seine sozialethische Spiritualität, sein Handlungskonzept und seine institutionelle Umsetzung bestimmt. Diese Konzeptbausteine können hier nur kurz skizziert werden. Zur Vertiefung wird auf das Kompendium der anthroposophischen Heilpädagogik (Grimm/ Kaschubowski 2008) hingewiesen. Das wissenschaftstheoretische Konzept der sozialtherapeutischen Geragogik geht vom Materialobjekt „Mensch mit seinem Dasein“ aus. Sein Formalobjekt ist der Mensch in seinem Sosein, nämlich seiner Seelenpflege-Bedürftigkeit. Sie muss zuerst im Rahmen der sozialethischen Spiritualität verstanden werden, bevor man konkrete soziale Hilfeleistungen als Handlungskonzept zur Seelenpflege startet, die wiederum zu ihrer Umsetzung in einen speziellen institutionellen Rahmen gestellt werden müssen. 3.1 Die sozialethische Spiritualität der sozialtherapeutischen Geragogik Die Spiritualität der sozialtherapeutischen Geragogik macht den geistigen Gehalt dieses Theorie-Praxis-Konzepts aus. Der Mensch mit seinem Sosein, d. h. mit seiner Seelenpflege- VHN 2/ 2011 115 Gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen Bedürftigkeit, besteht einerseits aus einer äußerlichen, organgeschädigten, funktionsbehinderten oder entwicklungsbeeinträchtigten Leiborganisation, die als Beeinträchtigung der Sprache, Bewegung, Wahrnehmung, Kognition usw. in Erscheinung tritt, andererseits aber auch aus einer innerlich nicht geschädigten Organisation, „die unsichtbar in ihm [als] sein Seelen- Geist-Wesen, sein Ich, seine Individualität wirkt“ (von Arnim 2000, 25). Beide Seiten, auf der einen der Leib und auf der anderen die Seele und der Geist, wachsen und fügen sich im Idealfall während der menschlichen Entwicklung zu einer Ganzheit zusammen. Diesen Prozess des Hineinwachsens in das geistige Ich- Wesen des Menschen, der sich bei jedem Menschen individuell vollzieht, bezeichnet Rudolf Steiner (1995) als „Inkarnation“. Es gibt aber Menschen, bei denen dieses „ständige Sich- Hineinentwickeln, Sich-Annähern des werdenden Leibes an das sich inkarnierende seelisch-geistige Wesen des Menschen“ (von Arnim 2000, 26) durch die beeinträchtigte Leiborganisation nicht oder nur unzulänglich gelingt. Dadurch entsteht gleichsam eine „seelenpflege-bedürftige Inkarnationsstörung“ (Klimm 1980, 11), die nach Steiner (1995) auf einer „unvollständigen Entwicklung“ beruht. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Rudolf Steiner davon ausgeht, dass trotz geschädigter Leiborganisation „die Geistgestalt bei jedem Menschen als eine geisteswissenschaftlich nachweisbare Realität voll intakt ist und nur die Leiblichkeit von Gebrechen betroffen wird“ (zit. nach Klimm 1981, 19). Diese Sicht nötigt Kobi großen Respekt ab: „Die Anthroposophie ist in unserem kulturellen Umfeld vielleicht die einzige Weltanschauung, in welcher der geistig behinderte Mensch a priori, aus-sich-selbst-verständlich und vorbehaltlos als Mensch erscheint und nicht als ,Auch-ein- Mensch‘, als ,Trotzdem-ein-Mensch‘, als ,Minusvariante‘ und was derartiger Einklammerung mehr sind.“ (Kobi 1988, 49) Die Botschaft der sozialethischen Spiritualität ist die, dass die Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit zwar in ihren Leibfunktionen eingeschränkt, aber in ihrem Personkern bzw. ihrem Geist-Ich nicht geschädigt sind. Wir können ihnen dadurch auf „gleicher Augenhöhe“, gleichsam kongenial verbunden begegnen, und so haben die sozialtherapeutischen geragogischen Hilfeangebote eine ganz andere Qualität. Es gibt noch eine weitere Botschaft dazu: Die sozialethische Spiritualität richtet sich auch an den Dienstleistenden selbst. Jede Hilfeleistung erinnert daran, dass sie immer auch eine individuelle Aufgabe und Verantwortung für die eigene Existenz darstellt, weil man den Menschen mit einer Behinderung brüderlich oder schwesterlich als seinen Nächsten annimmt (vgl. Müller-Wiedemann, zit. nach Kaschubowski 1988, 151). 3.2 Das sozialtherapeutische Handlungskonzept der Geragogik Das sozialtherapeutische Handlungskonzept der Geragogik anthroposophischer Prägung hat drei Schwerpunkte: Handlungsmodalitäten, Handlungsschwerpunkte und Institutionelle Einbindung. Die sozialtherapeutisch-geragogischen Handlungsmodalitäten werden bestimmt durch die anthroposophische Menschenkunde nach R. Steiner (1986). Danach setzt sich der Mensch, der griechischen Philosophietradition (Plato, Aristoteles) folgend, aus den Wesensgliedern des Leibes, der Seele und des Geistes zusammen mit den entsprechenden Handlungsmodalitäten des Wollens (Leib), Fühlens (Seele) und Denkens (Geist). Diese werden in der sozialtherapeutischen Geragogik durch entsprechende Förderaufgaben weiterentwickelt, z. B. durch die n Förderung der Leiborganisation durch Bewegung, Wahrnehmung und Diätetik; sie dient therapeutisch dazu, den Leib zu einem etwas besseren Instrument der Seele-Geist- Organisation werden zu lassen; Förderschwerpunkte sind Motorik und Willenstätigkeit; VHN 2/ 2011 116 Maximilian Buchka n Förderung des Fühlens durch künstlerische Anregungen; sie wirkt therapeutisch auf die seelische Organisation; Förderschwerpunkte sind Emotionalität und Kreativität; n Förderung des Denkens und der Verstandestätigkeit durch eine altersangemessene Didaktik und Methodik der Altenbildung; Förderschwerpunkte sind Vorstellungs- und Erkenntnisfähigkeit. (Buchka 1992) Neben den Handlungsmodalitäten des Wollens, Fühlens und Denkens sind die Handlungsschwerpunkte für die sozialtherapeutische Geragogik von Bedeutung, die in einem individuellen und sozialen Lebens- und Handlungsrahmen wirksam werden. Sie werden eingesetzt unter Berücksichtigung der einschlägigen Alterstheorien (Buchka 2003; Theunissen 2002; Havemann/ Stöppler 2010) und unter Auswahl folgender sozialtherapeutischer Handlungsinhalte: Begleitung und Beratung, Bildung und Förderung sowie Pflege und Therapie. Die einzelnen Handlungsschwerpunkte werden nachfolgend in einer kleinen Übersicht dargestellt: n Begleitung und Beratung sind alltagsstrukturierend anzubieten. Das ist erforderlich, damit es nach dem Ausscheiden aus der Berufstätigkeit und bei der Gewöhnung an eine neue Tagesstruktur nicht zu einem „Aktivitätsstillstand“ oder zu sozialen Rückzugsprozessen kommt (Disengagement- Theorie). Durch Beratung wird ermöglicht oder sichergestellt, dass die betroffenen Menschen unter Beachtung ihrer abnehmenden Kräfte im Alter den gewohnten Lebensstil fortsetzen (Kontinuitätstheorie) oder eine neue Lebensperspektive (Wachstums- und Reifungstheorie) aufbauen können. n Bildung und Förderung sind aktivierend zu konzipieren, damit die Betroffenen mittels ihrer vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen befähigt werden, sich auf neue Rollen und Lebensaufgaben einzustellen (Aktivitätstheorie). Bildung und Förderung ermöglichen es zudem, sich mit Dingen zu beschäftigen, die im bisherigen Lebensalltag zu kurz gekommen sind (Kompensationstheorie), oder sich kreativ und produktiv auf neue Aktivitäten einzulassen, was das Selbstwertgefühl steigern (Produktivitätstheorie) sowie der Selbsterziehung und Identitätsentwicklung dienen kann (Kompetenz-Theorie). n Pflege und Therapie sind funktionserhaltend und zugleich ausgleichend und heilwirksam anzubieten. Pflege und Therapie sind zu gewährleisten, wenn sich altersbedingte Krankheiten und Gebrechen einstellen und man darauf in seiner Lebensgestaltung reagieren will (Defizittheorie) oder wenn der Verlust der leiblich-seelisch-geistigen Leistungsfähigkeit droht und man dagegen eine reifungsunterstützende Pflege und Therapie benötigt, damit die altersbiografisch notwendigen Wachstumsaufgaben (z. B. die Sinnsuche im Leben oder die Erlangung einer ausgeglichenen und über den Lebensaugenblick hinausgehende Altersweisheit) angegangen werden können (Wachstumstheorie). Die leibliche Pflege ist im Rahmen der sozialtherapeutischen Geragogik anthroposophischer Prägung nicht nur die erforderliche Grund- und Behandlungspflege, die auf die Erhaltung der optimalen Leistungsfähigkeit des Menschen mit Seelenpflege-Bedürftigkeit orientiert ist, sondern sie ist zugleich auch als „Menschenbegegnung zu begreifen. Dadurch erhalten täglich anfallende Arbeiten wie Körperpflege, Einreibungen oder Bewegungsübungen eine ganz andere Qualität und können in Ehrfurcht ausgeführt werden.“ (Ried 1993, 191) Zu den Therapieangeboten der sozialtherapeutischen Geragogik zählen neben den bewährten Formen der Werk-, Sinnes-, Bewegungs- und Sprachtherapie insbesondere die künstlerischen Therapien. Sie führen aus den leiblichen Grenzen hinaus und lassen den Menschen in die seelisch-geistige Welt eintauchen. VHN 2/ 2011 117 Gerontagogische Arbeit in anthroposophischen Einrichtungen 3.3 Die institutionelle Umsetzung der sozialtherapeutischen Geragogik Die sozialtherapeutische Geragogik kommt in der Regel in Wohneinrichtungen (Wohnstätten oder Dorfgemeinschaften) sowie in den ganz wenigen anthroposophischen Ambulanzen und Tageseinrichtungen zur Anwendung. Hier wird mit den sozialen Wirkungsfaktoren gearbeitet, wie oben ausgeführt wurde. Ein besonders wichtiges Mittel ist dabei die „therapeutische Gemeinschaft“ (Grimm 1991; 1995). In der anthroposophischen Lebens- und Wohngemeinschaft, deren Bedeutung für die Sozialtherapie zuerst von Karl König beschrieben wurde, gibt es keinen Unterschied zwischen Betreuern und Betreuten, alle Gemeinschaftsmitglieder stehen auf der gleichen Stufe, unabhängig davon, ob einige sich anders - und vielleicht auch eigenartig - verhalten als allgemein gewohnt. Alle leben und arbeiten in der sozialtherapeutischen Gemeinschaft zusammen (vgl. Weihs 1980, 171). Beide Gruppen können sich in dieser therapeutischen Gemeinschaft miteinander und aneinander weiterentwickeln (vgl. König 1994). Schicksalhaft an dieser sozialtherapeutischen Gemeinschaft ist das Faktum, dass die Seelenpflege-Bedürftigkeit einiger ihrer Mitglieder sie alle zusammengeführt hat. Das gemeinsame Band des Lebens zwischen den beiden genannten Menschengruppen ist die therapeutische Gemeinschaft als ihr „gemeinsamer Entwicklungsraum“ (Grimm 1995, 19), die „aus einem gemeinsamen, verbindenden Menschenbild“ (Grimm 1991, 35) heraus erwächst und in der der Mensch mit seinen Beeinträchtigungen eine Begegnung erfährt, so „wie er ist: in seiner Würde als eine gewordene Person“ (Weihs 1980, 171). Die Seelenpflege- Bedürftigkeit stellt sowohl für die von ihr betroffenen Gemeinschaftsmitglieder eine Lebensaufgabe dar als auch für die sie begleitenden Fachkräfte, weil dadurch einerseits der soziale Helferimpuls immer wieder ausgelöst wird und sich andererseits auch die Solidarität und die Nächstenliebe immer wieder neu bewähren müssen (vgl. Müller-Wiedemann 1995, 148). Dieses Gemeinschaftsideal ist für den sozialen Helfer in einer therapeutischen Gemeinschaft nicht immer einfach zu leben, weil er aufgefordert ist, in allen Hilfsangeboten die verinnerlichte Haltung des genannten Menschenbildes mitschwingen zu lassen. Gerade deshalb schafft dieses Bemühen „ein heilsames Gemeinschaftsklima, das dem Einzelnen seine Würde verleiht und lässt“ (Denger 1993, 143). Die Qualität des gemeinsamen Lebens wird letztlich bestimmt durch die Form der Begegnung (vgl. Denger 1995, 192) und die Art und Weise der Kommunikationsbereitschaft und des Kommunikationsvermögens (vgl. Müller- Wiedemann 1995, 148). Zusammenfassend kann man sagen, dass die sozialtherapeutische Geragogik in anthroposophischer Orientierung ein konsistentes Theorie-Praxis-Konzept ist zwischen der ihr zugrunde liegenden sozialethischen Spiritualität, den aus ihr erwachsenen Handlungsmodalitäten und Handlungsschwerpunkten und den für ihre Umsetzung notwendigen institutionellen Formen der Lebens- und Wohngemeinschaften. In dieser Stringenz kann sich das sozialtherapeutische geragogische Theorie-Handlungs- Konzept anthroposophischer Prägung sehr wohl mit anderen Konzepten der Gerontagogik messen lassen und wird dabei sicherlich nicht schlechter abschneiden. Literatur von Arnim, G. (2000): Bewegung, Sprache, Denkkraft: Der geistige Impuls der Heilpädagogik. Dornach: Verlag am Goetheanum Bachmann, W. (1985): Geragogik - ein Aufgabenbereich der Heilpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 36, 549 - 561 Backes, G. M.; Clemens, W. (2003): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. 2. Aufl. Weinheim: Juventa Bollnow, O. F. (1962): Das hohe Alter. In: Neue Sammlung 2, 385 - 396 VHN 2/ 2011 118 Maximilian Buchka Breckow, J. (1992): Was hat Sonderpädagogik mit Gerontologie zu tun? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 43, 471 - 476 Buchka, M. (1992): Über die Heilpädagogischen Übungen. In: Lernen konkret 11, H. 3, 8 - 21 Buchka, M. (2003): Ältere Menschen mit geistiger Behinderung. München: Reinhardt Clark, D. H. (1977): Soziotherapie in der Psychiatrie. Freiburg/ Br.: Lambertus Denger, J. (1993): Heilpädagogik und Sozialtherapie auf anthroposophischer Grundlage. In: Glöckler, M.; Schürholz, J.; Walker, M. (Hrsg.): Anthroposophische Medizin. Ein Weg zum Patienten. Stuttgart: Freies Geistesleben, 140 - 145 Denger, J. (1995): Sozialtherapie - Begegnungskunst unter erschwerten Bedingungen. In: Denger, J. (Hrsg.): Lebensformen in der sozialtherapeutischen Arbeit. 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Hannover: Brigitte Kunz Maximilian Buchka Professor für Sonderpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Institut für Heilpädagogik und Sozialtherapie Villestraße 3 D-53347 Alfter/ Bonn E-Mail: m.buchka@katho-nrw.de