eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art17d
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Trend: Inklusion von Menschen mit Behinderung im Alter - noch Zukunftsmusik für die Behindertenhilfe und ihre Fachkräfte?

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Elisabeth Wacker
Das Thema „Älterwerden“ wird in Europa sehr hoch bewertet, denn der Anteil älterer und sehr alter Menschen bezogen auf die Gesamtbevölkerung wächst, während zugleich die Bevölkerung schrumpft. Dies bringt den bisherigen „Generationenvertrag“ aus der Balance, der vorsieht, dass Bürgerinnen und Bürger während ihres Erwerbslebens für die kommende Generation und für den Personenkreis mit Unterstützungsbedarf im Rentenalter Sozial- und Bildungsleistungen sicherstellen.
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235 VHN, 80. Jg., S. 235 - 241 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel themenstrang alter und behinderung Inklusion von Menschen mit Behinderung im Alter - noch Zukunftsmusik für die Behindertenhilfe und ihre Fachkräfte? Elisabeth Wacker Technische Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften 1 Will You Still Need Me … When I'm Sixty-Four 1 - wie gelingt Altern bei Behinderung? Das Thema „Älterwerden“ wird in Europa sehr hoch bewertet, denn der Anteil älterer und sehr alter Menschen bezogen auf die Gesamtbevölkerung wächst, während zugleich die Bevölkerung schrumpft. Dies bringt den bisherigen „Generationenvertrag“ aus der Balance, der vorsieht, dass Bürgerinnen und Bürger während ihres Erwerbslebens für die kommende Generation und für den Personenkreis mit Unterstützungsbedarf im Rentenalter Sozial- und Bildungsleistungen sicherstellen. Besondere Aufmerksamkeit gebührt einer „neuen“ alternden Personengruppe, die durch soziale Ungleichheit und Benachteiligung charakterisiert wird: behinderte Menschen, die „in die Jahre“ kommen (vgl. Berlin-Institut 2009). Sie bringen ihre eigene, oft lebenslange Behinderungserfahrung mit. Für sie sollen Unterstützungsangebote überdacht und Fachkräfte spezifisch qualifiziert werden. Sie überleben ihre alten Eltern und fallen spätestens jetzt - ohne eigene Partnerschaft oder Familiengründung - in die „Obhut“ der professionellen Alten-, Pflege- oder Behindertenhilfe, die ihnen aus je verschiedenen Gründen z. T. skeptisch, z. T. noch planlos begegnen. Verschiedene Perspektiven sind notwendig, um diesem Personenkreis gerecht zu werden: n Aus individueller Perspektive geht es darum, wie eine „vulnerable Bevölkerungsgruppe“ beim Älterwerden gut in eine neue Lebensphase gelangt, aber auch um ihre gerechte Chance auf soziale und materielle Leistungen für ein weiteres Leben voll Qualität und in Gesundheit. n Vor dem Hintergrund eingeschränkter Ressourcen stellt sich die Frage nach den Dimensionen erforderlicher Leistungen, dem bestmöglichen Aufbau von Netzwerken und der Entfaltung eigener Kompetenzen, aber auch nach der Zusammenarbeit mit Selbstvertretungsgruppen und der Entwicklung geeigneter Assistenzleistungen. n Bezogen auf das Konzept von Rehabilitation und Teilhabe geht es um Möglichkeiten für ein Leben in der Gemeinde sowie um passende unterstützende technische und technologische Hilfen zur Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und Sinnerfahrung (beispielsweise über Mobilität, Information und Kommunikation). n Vor allem geht es aber mehr und mehr darum, wie Menschen mit Behinderung auch im Alter ihren eigenen Lebensstil entwickeln, am Leben in der Gemeinschaft teilhaben sowie ihre Bedarfe und Bedürfnisse verdeutlichen und sichern können (im Sinne eines jedem Individuum gegebenen gesellschaftlichen Teilhabeversprechens). Trend VHN 3/ 2011 236 Elisabeth Wacker 2 Altes Eisen oder alte Hasen - Rollen bei Behinderung im Alter Auch wenn wir grundsätzlich davon ausgehen, dass Älterwerden mit einem Gewinn an Erfahrungen, Wissen und Kompetenzen verbunden ist und wir ältere Menschen respektvoll behandeln, werden auch andere - negativ bewertete - Entwicklungen im Alter erwartet, wie abnehmende physische Gesundheit, schwindende kognitive Fähigkeiten und geringere Leistungsfähigkeit bzw. Aktivität. Risiken von Armut und Isolationwachsen ebenso wie soziale Abhängigkeiten. Die Gefährdungen gelten für Menschen mit und ohne lebenslange Behinderung zwar im Prinzip gleichermaßen, werden aber besonders mit dem Altern behinderter Menschen verbunden. Spätestens seit authentische Selbstdarstellungen von Menschen mit Behinderung in die Debatte um ihre „Versorgung“ eingegangen sind (vgl. Lindmeier 2010), ist deutlich geworden, dass die betreffende Personengruppe sehr heterogen ist, und diese Verschiedenheit bleibt auch im Alter bestehen. Mit allen älter werdenden Menschen teilen sie die Angst vor Abhängigkeit (Ausgeliefertsein), den Wunsch nach sozialer Einbindung (Respekt, Würde) an selbst gewählten Orten (Autonomie) sowie die Hoffnung, etwas Sinnvolles tun zu dürfen (etwas geben zu können, gebraucht zu werden) (vgl. Backes/ Kruse 2007). Doch im Gegensatz zu vielen anderen Personen haben sie bereits Routine mit Abhängigkeiten und Kompetenz beim Meistern von Einschränkungen gewonnen. Deshalb ist die Neigung, sie zum „alten Eisen“ zu zählen, zu überprüfen zugunsten der Frage, wie sie als „alte Hasen“ im Umgang mit Behinderung und Leben mit Assistenz ihre Kompetenzen bewahren und an die Klientel der alten Bürgerinnen und Bürger, deren Unterstützungsbedarf wächst, vermitteln können. 3 Auf dem Abstellgleis oder inmitten der Gesellschaft Der absehbare gesellschaftliche Wandel wird dazu führen, dass der Umgang mit Menschen mit Unterstützungsbedarf im Alter ein Prüfstein für die Qualität und Zukunftsfähigkeit einer ausgewogenen Gesellschaft sein wird. Dabei geht es neben dem „Wie“ einer angemessenen Unterstützung auch um das „Wo“. Der Prozess des „Entgrünens“ und „Ergrauens“ verläuft in Deutschland ungleich: Während im Osten ein erheblicher Bevölkerungsschwund eingesetzt hat, ziehen wirtschaftlich und sozial gut entwickelte Gebiete vor allem junge und erwerbsfähige Personen an. Menschen mit Unterstützungsbedarf werden also zukünftig vermehrt als „soziale Lasten“ in den „Abwanderungs- und Schwundgebieten“ bleiben. Die Zahl der (Hoch-)Betagten steigt auch in der Gruppe der Menschen mit einer lebenslangen Behinderung kontinuierlich an, gerade auch in der Sonderwelt der stationären Behindertenhilfe. Bewohnerinnen und Bewohner verbringen nach wie vor viele Jahre bzw. Jahrzehnte ihres Lebens in Institutionen und haben oft sehr schwere bzw. mehrfache Unterstützungsbedarfe (vgl. Dieckmann u. a. 2010, 30ff ). Das Anwachsen der Gruppe der Älteren wird dadurch noch dynamisiert, dass die Nachkriegsgeneration in die Altersphase kommt, d. h. dass nun erstmals in Deutschland eine Generation heranwächst, die die Vernichtungsaktionen des Hitlerregimes überlebt hat. Hinzu kommen die Menschen mit Behinderung, die während ihres Erwerbslebens im Sonderarbeitsmarkt (Werkstatt für behinderte Menschen/ WfbM) untergebracht waren, aber extern wohnten. Dieser Personenkreis muss seine Herkunftsfamilie spätestens dann verlassen, wenn die Eltern sterben oder selbst unterstützungsbedürftig werden. Schließlich zeigen manche Menschen mit Behinderung aufgrund der Art oder Schwere ihrer Beeinträchtigung frühzeitig „alterstypische Veränderungen“. Trotz des bestehenden prinzipiellen Vorrangs ambulanter vor stationären Leistungen wird der tendenzielle Verbleib im stationären Leistungsbereich also anhalten, eine schnel- VHN 3/ 2011 237 Inklusion von Menschen mit Behinderung im Alter: Zukunftsmusik für die Behindertenhilfe? le und radikale Änderung der „Aufnahmepolitik“ oder der Verbleibtrends ist nicht abzusehen. Schon vor über zehn Jahren erkannten die Leitungskräfte einen dringenden Veränderungsbedarf ihrer Organisationen, vor allem im Bereich der strukturellen Angebote, der konzeptionellen Ausrichtung sowie der Rekrutierung und des Einsatzes von Fachkräften. Doch wurde mittlerweile der Weg aus dem fürsorgenden „Abstellgleis“ in eine selbstständigere und partizipatorischere Lebensform für behinderte Menschen im Alter definiert und gebahnt? Tatsache ist, dass Sozialausgaben rasant anwachsen und die Schwelle vom für alles sorgenden „Wohlfahrtsstaat“ zu einer neuen „Wohlfahrtsgesellschaft“ überschritten wurde, in der alle Bürgerinnen und Bürger solidarisch leben und subsidiär zum Gemeinwohl aller beitragen sollen (und dürfen). Dies gilt im Grundsatz auch für Menschen mit Behinderung. Insofern befinden sich Deutschland und seine Leistungssysteme derzeit am Scheideweg und am Beginn eines Lernprozesses (vgl. Blanke u.a. 2000). Die Richtung dieser Entwicklung ist bereits gesetzt: Es geht um gesellschaftliche Teilhabe. Die gleichen Chancen zur Inklusion sollen über eine Entwicklung der bestehenden Sozialleistungssysteme und ihrer Konzepte garantiert werden. Die Aussicht auf umfassende Versorgung ist dann nicht mehr der einzige Bestandteil eines erfüllten Lebens, ebenso wichtig werden die gerechte Chance auf eine eigene Rolle sowie die Möglichkeit, einen eigenen Part im „Orchester“ der Gemeinschaft bzw. des Quartiers zu spielen. 4 Wo spielt künftig die Musik - in Zukunft Inklusionsplanung? Bei der fachlichen und sicheren Versorgung von Menschen mit Behinderung im Alter gibt es in Deutschland derzeit keine echte Alternative zur Behindertenhilfe. Dies führt zu einer schwierigen Doppelrolle für die Wohlfahrts-Monopolistin: Sie soll sichere und qualitätsvolle Unterstützung gewähren, aber zugleich die von ihr abhängige Klientel unabhängiger machen und ihre Kraft zu Selbstbestimmung stärken (vgl. Karimi 2009). Mit der Selbstwirksamkeitserfahrung und der Bewältigungskompetenz werden aber vermutlich auch die Dissonanzen mit einer derzeit hoch an Erfordernisse stationärer Angebote angepassten Klientel wachsen - und das unter dem Druck objektiv steigender Nachfrage. Dennoch ist klar, wo künftig die Musik spielt und wer den Ton angeben wird, denn der Teilhabeanspruch besteht unabhängig von gelebten Jahren. Solange sich die Altenhilfe mit ihrem gemeindebasierten und pflegeerfahrenen Leistungsspektrum quantitativ, fachlich und qualitativ überfordert fühlt - dies ist mehrheitlich ihre aktuelle Haltung -, muss die Behindertenhilfe ihren Inklusionsauftrag auch bei Behinderung im Alter realisieren. Hierfür sind fünf Elemente wesentlich: Gesundheit, soziale Netze, Lebensort, Rahmenbedingungen, Kultur des Miteinander. 1. Wenn Gesundheit als Maßstab für Lebensgenuss zählt, gilt es herauszufinden, was Menschen mit Behinderung im Alter gesund erhält. Diese individuellen Kräfte sind freizusetzen und zu stärken. Als Grundlage könnte jeweils eine persönliche „Charta für Gesundheit“ dienen. 2. Soziale Netze sind eine Kraftquelle, sie können Isolation verhindern und Gemeinschaft fördern. Diese soziale Ressource soll zukünftig nicht nur über professionelle Unterstützung nutzbar gemacht werden. Vielmehr sind neben der (mehr und mehr fragilen) Herkunftsfamilie auch „Wahlverwandte“, Freunde und Intergenerationenbeziehungen gefordert, Aufgaben zu übernehmen. Der Weg führt weg von einer „All-inclusive“-Versorgung und umfassenden Lebensgestaltung im Heim hin zu gewünschten und erforderlichen Unterstützungsleistungen auch aus der Gemeinde. VHN 3/ 2011 238 Elisabeth Wacker Hier wären neben bürgerschaftlichem Engagement auch gekaufte „maßgeschneiderte“ Leistungen (über Persönliche Budgets) durch ambulante Kräfte denkbar. Auf das Persönliche Budget besteht in Deutschland seit 2008 ein individueller Rechtsanspruch ohne Alterslimit. 3. Die Wohnform - meist das stationäre Setting - ist für die Menschen da und nicht die Menschen für Organisationen. Heime müssen also individuelle Lebenspläne stützen und zulassen. Es geht um Selbstbestimmung und Teilhabe und nicht alleine um Schutz, Sicherheit, Ordnung oder reibungslose Organisationsabläufe. Aber vor allem im höheren Lebensalter geht es auch um Heimat: Der rechte Ort zum Leben für Menschen mit Behinderung im Alter ist primär dort, wo sie selbst ihr Leben verbringen wollen und wo sie sich zu Hause fühlen. Und dies ist in der Regel - hört man auf ihre Meinung - der Ort, an dem sie viele Jahre ihres Lebens verbracht haben. 4. Zwischen Lebensaufgaben wie Teilhabe am Arbeitsleben, Wohnen und Freizeitgestaltung müssen flexible Übergänge ebenso möglich werden wie zwischen Lebensorten. Dies ist schon alleine der Verschiedenheit der individuellen Alternsprozesse geschuldet. So wachsen die Potenziale, das Alter zu meistern. Hilfreich können auch technische und architektonische Unterstützungen sein, die zusätzliche Barrieren in der Lebensgestaltung abbauen. 5. Bei der Steuerung der Leistungen sind die Nutzerinnen und Nutzer zu stärken! Sie müssen Möglichkeiten erhalten, Leistungen in Gemeinden und Unterstützung nach Maß zu wählen. Denn auch Menschen mit Behinderung im Alter dürfen für sich definieren, was ihnen eine Hilfe ist. Das heißt auch, sie vor fürsorglichen Übergriffen zu schützen. Gute Unterstützung garantiert jedem das Seine und begnügt sich nicht damit, allen das Gleiche zuzuweisen. Die professionellen sozialen Dienste übernehmen dabei eine Lotsenrolle, damit eigene Wege möglich werden, ohne in Untiefen zu geraten, an Felsen zu zerschellen oder niemals die Weite des Meeres erfahren zu haben. Ein respektvoller Umgang setzt Kräfte der Selbstverantwortung und Selbstgestaltung frei. Diese können auch in höherem Alter wachsen, wenn es in einem Klima des Zutrauens und Zulassens geschieht. Mit Information und Bildung steigen die Fähigkeiten und Chancen, Autonomie einzufordern und zu leben, auch für Menschen mit Behinderung im Alter (vgl. Haveman 2006). Denn Teilhabe entsteht durch die nach individuellen Möglichkeiten gestaltete Balance von Eigenverantwortung und Unterstützung durch andere und ist nicht ihre Vorbedingung (vgl. Michna u. a. 2007). Mit dem Abbau baulicher oder kommunikativer Barrieren ebnet sich der Zugang zum öffentlichen Leben. Durch ihre Expertise in eigener Sache oder andere Expertisen können sich einzelne Seniorinnen und Senioren für andere ältere Menschen als Peers engagieren. Sie können ihr Erfahrungswissen an diese und in Fortbildungen auch an Fachkräfte weitergeben. 5 Gelingen macht stark - Capability Approach statt Altenhilfe in der Behindertenhilfe Es müssen Mittel gefunden werden, die erfolgreiches Altern ermöglichen: Als Zukunftsmusik gilt die unendliche Melodie von gewährten Freiheiten und gestärkten Fähigkeiten, von erweiterten Handlungsräumen und -möglichkeiten (siehe Abb. 1, Capability Approach). Dies korrespondiert mit der bereits 1996 vom Council of Europe festgehaltenen „European Social Charter“: “Disabled persons have the right to independence, social integration and participation in the life of the community” (Preamble Part I). VHN 3/ 2011 239 Inklusion von Menschen mit Behinderung im Alter: Zukunftsmusik für die Behindertenhilfe? Rights “to remain full members of society for as long as possible, by means of: a) adequate resources enabling them to lead a decent life and play an active part in public, social and cultural life; b) provision of information about services and facilities available for elderly persons and their opportunities to make use of them; to enable elderly persons to choose their life-style freely and to lead independent lives in their family surroundings for as long as they wish and are able.” (Council of Europe 1996: Part II Art. 15, 15) Das jüngste richtungweisende Signal ist der Klangzauber der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, die Deutschland zeitnah ratifiziert hat. Der Ton wird u. a. in Artikel 19 vorgegeben, in dem von der vollen Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft die Rede ist: „Artikel 19 Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben; Infrastruktur Individuelle Faktoren Sozialer Rahmen Entscheidungsprozess n Klima n Gesundheit n Gesetze n Informationen n Geografie n Alter n Soziale Normen n Werte n Umwelt n Geschlecht n Soziale Institutionen n Soziale Einflüsse n Technologie n Intelligenz n Kultur n etc. n Entwicklungsstand n Geschicklichkeit n Andere Menschen n etc. n etc. n etc. Capability Approach Güter und Dienste individuelle Umwandlung Capability Set (Gelegenheiten zum Erreichen von Funktionen) Entscheidung Funktionen (erreichte Fähigkeiten) Mittel Freiheiten Befähigungen Persönliche Geschichte und Psychologie Einkommen, Bildung, Familie, Arbeitgeber, Verein, Kirche etc. Abb. 1: Capability Approach. In Anlehnung an: Robeyns, Ingrid (2005) VHN 3/ 2011 240 Elisabeth Wacker b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist; c) gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.“ (Vereinte Nationen 2006, 15) Wenn Behinderung im Zusammenspiel von Fähigkeiten, Begrenzungen, Umweltvariablen und gesellschaftlichen Erwartungen entsteht, die in einer Person aufeinandertreffen und dort Chancen der Teilhabe bestimmen, dann wächst für Menschen im Alter Lebensqualität nicht durch spezifische Altenhilfe für Behinderte, sondern aus dem gelingenden Zusammenspiel objektiver Lebensbedingungen in einer Gesellschaft, der subjektiven Wahrnehmungen gebotener Standards und der „Agency“, der Chance zur Bewältigung der Aufgaben in der Lebensführung. Diese Einsicht wird an nationalen Grenzen nicht Halt machen, sondern strahlt in die Europäische Sozialgemeinschaft aus (vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000: hier sind explizit Rechte Behinderter genannt). Zudem vereinen sich alters- und behinderungsbezogene Konzepte; wesentlich bleibt dabei der Einsatz für Kraftquellen, mit denen die für alle bestehenden Ansprüche zum Tragen kommen können, sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Anmerkung 1 Paul McCartney schrieb diesen Song über das „Altern“ 1966 mit 17 Jahren. Er wurde im Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlicht. Literatur Backes, Gertrud; Kruse, Andreas (2007): Soziale Ressourcen älterer Menschen. In: Bertelsmann- Stiftung (Hrsg.): Alter neu denken: Gesellschaftliches Altern als Chance begreifen. Gütersloh: Bertelsmann, 71 - 100 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2009): Alt und behindert. Wie sich der demografische Wandel auf das Leben von Menschen mit Behinderung auswirkt. Berlin Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) (2007): Alter neu denken: Gesellschaftliches Altern als Chance begreifen. Gütersloh: Bertelsmann Blanke, Bernhard; Brandel, Rolf; Hartmann, Anja; Heinze, Rolf G.; Hilbert, Josef; Lamping, Wolfram; Naegele, Gerhard; Schridde, Henning; Stöbe-Blossey, Sybille; von Bandemer, Stephan (2000): Sozialstaat im Wandel. Herausforderungen - Risiken - Chancen - neue Verantwortung. Düsseldorf: MFJFG NRW Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2008): 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin: BMAS Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000): online unter: http: / / www.europarl.eu ropa.eu/ charter/ pdf/ text_de.pdf (Abruf: 21. 3. 2011) Council of Europe - CETS no. 163 (1996): European Social Charter (revised). Straßbourg, 3. Mai 1996 Dieckmann, Friedrich; Giovis, Christos; Schäper, Sabine; Schüller, Simone; Greving, Heinrich (2010): Vorausschätzung der Altersentwicklung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung in Westfalen-Lippe. Erster Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Lebensqualität inklusiv(e): Innovative Konzepte unterstützten Wohnens älter werdender Menschen mit Behinderung“ (LEQUI). Münster: KatHO Haveman, Meindert (2006): Selbstbestimmung im Alter von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Furger, Martha; Kehl, Doris (Hrsg.): Alt und geistig behindert. Herausforderungen für Institutionen und Gesellschaft. Luzern: SZH Edition, 87 - 107 Haveman, Meindert; Stöppler, Reinhilde (2010): Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer VHN 3/ 2011 241 Inklusion von Menschen mit Behinderung im Alter: Zukunftsmusik für die Behindertenhilfe? Karimi, Alamara (2009): Entwicklung und Implementierung neuer curricularer Elemente in der Heilerziehungspflege. Ein Beitrag zur Kompetenzerhaltung älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Frankfurt a. M.: Peter Lang Lindmeier, Bettina (2010): Anders alt? Erwartungen von Menschen mit geistiger Behinderung an ihren Ruhestand. In: Schildmann, Ulrike (Hrsg.): Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne. Behinderung - Geschlecht - kultureller Hintergrund - Alter/ Lebensphasen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 280 - 287 Michna, Horst; Peters, Christiane; Schönfelder, Frauke; Wacker, Elisabeth; Zalfen, Birgit (2007): KompAs - Kompetentes Altern sichern. Gesundheitliche Prävention für Menschen mit Behinderung im späten Erwachsenenalter. Marburg: Lebenshilfe Robeyns, Ingrid (2005): The Capability Approach: A Theoretical Survey. In: Journal of Human Development 6, 93 - 114 Vereinte Nationen (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Online unter: http: / / www.institut-fuer-menschenrechte.de/ de/ menschenrechtsinstrumente/ vereinte-nationen/ menschenrechtsabkommen/ behindertenrechtskonvention-crpd.html (Abruf: 21. 3. 2011) Wacker, Elisabeth (2001): Wohn-, Förder- und Versorgungskonzepte für ältere Menschen mit geistiger Behinderung - ein kompetenz- und lebensqualitätsorientierter Ansatz. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Expertisen zum 3. Altenbericht der Bundesregierung, Bd. 5, Versorgung und Förderung älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Opladen: Leske+Budrich, 43 - 121 Wacker, Elisabeth (2005): Alter und Teilhabe. Grundsatzfragen und Aufgaben der Rehabilitation. In: Wacker, Elisabeth; Bosse, Ingo; Dittrich, Torsten; Niehoff, Ulrich; Schäfers, Markus; Wansing, Gudrun; Zalfen, Birgit (Hrsg.): Teilhabe. Wir wollen mehr als nur dabei sein. Marburg: Lebenshilfe, 337 - 366 Wacker, Elisabeth (2008): Soziologische Ansätze: Behinderung als soziale Konstruktion. In: Nußbeck, Susanne; Biermann, Adrienne; Adam, Heidemarie (Hrsg.): Sonderpädagogik der geistigen Entwicklung. Band 4: Handbuch Sonderpädagogik. Bensheim: Hogrefe, 115 - 158 Wacker, Elisabeth (2009): Alter in Autonomie? Einführung in die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung im fortgeschrittenen Lebensalter. In: Behinderung und Pastoral 12. Themenschwerpunkt: Behinderung und Alter, 3 - 8 Wacker, Elisabeth; Wahl, Hans-Werner (2007): Altersfreundliche und ressourcenförderliche Umwelten. In: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Alter neu denken: Gesellschaftliches Altern als Chance begreifen. Gütersloh: Bertelsmann, 217 - 247 Prof. Dr. Elisabeth Wacker Technische Universität Dortmund, Fakultät 13 Emil-Figge-Str. 50 D-44227 Dortmund elisabeth.wacker@tu-dortmund.de