eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 80/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2011.art18d
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2011
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Dialog: Wertorientierung als Erziehungskompetenz?

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2011
Urs Haeberlin
Ernst Suter
Wer mit Kindern zu tun hat und damit nicht um ein erzieherisches Verhalten in seinem Tun oder Lassen herumkommt, vertritt Werte. Für welche Werte er sich einsetzt, welche Werte er ablehnt, sein Wertverhalten also, lässt ihn erzieherisch wirken. Werthaltung ist immer auch erzieherische Einflussnahme. Wer berufsmäßig, das ist im Dienste eines Auftraggebers, erzieht, von dem muss erwartet werden können, dass er sich der vertretenen Werte bewusst zu sein vermag und auch bereit ist, sie zu verantworten.
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VHN, 80. Jg., S. 242 - 247 (2011) DOI 10.2378/ vhn2011.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 242 Wertorientierung als Erziehungskompetenz? Urs Haeberlin Ernst Suter Freiburg Greifensee E-Mail vom 5. Mai 2010 Lieber Urs Wer mit Kindern zu tun hat und damit nicht um ein erzieherisches Verhalten in seinem Tun oder Lassen herumkommt, vertritt Werte. Für welche Werte er sich einsetzt, welche Werte er ablehnt, sein Wertverhalten also, lässt ihn erzieherisch wirken. Werthaltung ist immer auch erzieherische Einflussnahme. Wer berufsmäßig, das ist im Dienste eines Auftraggebers, erzieht, von dem muss erwartet werden können, dass er sich der vertretenen Werte bewusst zu sein vermag und auch bereit ist, sie zu verantworten. Damit entzieht er sein Verhalten der Willkür, macht es, um einen moderneren Begriff zu verwenden, „zielorientiert“. Erziehung vermittelt Orientiertheit. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, die als von Orientierungslosigkeit geprägt verstanden wird. Als Folge einer solchen Diagnose ist einerseits ein Nachlassen orientierender Kräfte, andererseits aber auch ein Zunehmen fundamentalistischer Strömungen festzustellen. Das gilt nicht nur in den Bereichen Religion und Politik, sondern auch in der Erziehung. Vermehrt ist nachzuweisen, dass Erziehung von Hilfestellungen abhängig gemacht wird, wobei es in den meisten Fällen darum geht, sich Erziehungsziele vorgeben zu lassen. Es werden Erziehungsprogramme und Fachkompetenz erwartet. Es wird mit kontrollierten Teameinsätzen gerechnet, als könnten Verantwortlichkeiten damit sicherer abgestützt werden. Solche Entwicklungen in der Pädagogik zeugen von wachsender Unsicherheit darüber, welche Wertsetzungen wirklich auch verbindlich sein könnten. Daneben gewinnen aber auch doktrinäre Regelvorgaben an Bedeutung. Es wird mit simplen Rezepten und mit unkritischer Gefolgschaftseuphorie postulierten Parolen nachgeeifert, hinter denen oft nicht viel mehr steckt als eine blendende Verführung zum Kadavergehorsam. Lähmende Verunsicherung und blindes Vertrauen sind als Konsequenzen einer allgemeinen Orientierungslosigkeit verständlich, für Erziehung aber gleichermaßen schlechte Voraussetzungen. Geht es doch gerade darum, Kinder zu eigener Orientiertheit hinzuführen. Das bedeutet weder eine Ausrichtung auf das Chaos noch auf Totalität. Erziehung soll begleiten in ein Leben, das sich nach Wertmaßstäben richtet, die den Menschen von äußeren Zwängen frei und von nicht verstandenen Abhängigkeiten ungebunden machen. Allerdings müssen die orientierenden Werte als verbindlich und nicht beliebig verhandelbar erlebt werden können. Wer es mit Kindern zu tun hat, wird dabei immer wieder zur Reflexion darüber angehalten, worauf sein eigenes Verhalten, sein Urteilen und Empfinden eigentlich beruht. Aus der Beantwortung solcher Fragen erwächst und klärt sich uns erzieherische Kompetenz. Herzliche Grüße Ernst E-Mail vom 20. November 2010 Lieber Ernst Während langer Zeit habe ich deine Mail abwechslungsweise vor mich hergeschoben und vergessen. Vielleicht war der Grund die Überlastung mit anderem, viel eher aber war es die Dialog VHN 3/ 2011 243 Wertorientierung als Erziehungskompetenz? Unsicherheit, wie ich mit deinem eindrücklichen Aufruf zur bewussten Wertorientierung der professionellen Erziehungs- und Lehrpersonen umgehen soll. Beim mehrmaligen Lesen habe ich mich immer wieder gefragt: Müsste er denn die Werte nicht benennen, an welchen sich seiner Meinung nach die „kompetente“ Lehrperson zu orientieren hat? In deinem Text finde ich an einer Stelle einen Hinweis auf einen Benennungsversuch: „Erziehung soll begleiten in ein Leben, das sich nach Wertmaßstäben richtet, die den Menschen von äußeren Zwängen frei und von nicht verstandenen Abhängigkeiten ungebunden machen.“ Sogleich drängt sich bei mir als Leser natürlich die Frage auf, welches denn diese richtungweisenden „Wertmaßstäbe“ sind? Und dann beginnen die schwierigen einfachen Fragen nur so auf mich herunterzupurzeln: Was ist eigentlich ein Wert? Wie lässt sich ein Wert überhaupt sprachlich benennen? Wie kann man einen Wert für den andern nachvollziehbar begründen? Wie komme ich zur Überzeugung, dass die von mir favorisierten Werte die richtigen sind? Und nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen, warum ich deine Mail so lange vor mich hergeschoben und immer wieder in die Vergessenheit gedrängt habe. In deinem Brief hast du das schwierigste Kapitel nicht nur der Pädagogik, sondern jeder Form des Zusammenlebens von Menschen eröffnet. Wer sich beim Schreiben dieses Kapitels nicht hilflos fühlt, ist entweder ein Schlendrian oder ein festgefahrener Ideologe und Dogmatiker. Vorerst versuche ich, aufgrund deines oben zitierten Satzes Benennungen der von dir gemeinten Werte zu rekonstruieren. Eine rein sprachliche Rekonstruktion führt mich zu folgenden Benennungen: „Freiheit von äußeren Zwängen“ und „verstandene Abhängigkeit“. Dies wären zwei Werte, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Die Dialektik zwischen Freiheit und Abhängigkeit würde sich dann für das Individuum aufheben, wenn es seine Abhängigkeit versteht. Eine zentrale Aufgabe von professionellen Erziehern und Erzieherinnen wäre es, die Jugendlichen zum Verständnis ihrer Abhängigkeit und zur Freiheit von nicht verstandenen äußeren Zwängen zu führen. So formuliert, spitzt sich dann alles auf die Frage zu: Was heißt „etwas verstanden haben“? Ist das von dir gemeinte „Verstehen“ ein kognitiver Prozess des rationalen Mitvollziehens von Begründungen oder eine emotionale Bereitschaft zum Ja-Sagen oder noch etwas anderes? Beim ersten Verständnis stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens bei Menschen mit geschwächten kognitiven Fähigkeiten bis hin zu Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Beim zweiten Verständnis stellt sich die Frage, wie der zum Ja-Sagen emotional bereite Mensch merken kann, dass er nicht zu sich selbst oder andere Menschen gefährdenden Ideologien und Dogmatismen emotional Ja sagt. Natürlich kannst du jetzt denken, dass ich doch allzu spitzfindig sei. Aber die Spitzfindigkeit richtet sich ganz und gar nicht einfach gegen deine Formulierungen, sondern ist eben Ergebnis meiner eigenen Unbeholfenheit und Ratlosigkeit bei der Frage nach den Werten und der damit verbundenen Grundhaltung von professionellen Erzieherinnen und Erziehern. In diesem Zustand überlasse ich dir nicht ungern das weitere Suchen nach Fortsetzungen der in Angriff genommenen Reflexionen. Herzliche Grüße von Urs E-Mail vom 9. Dezember 2010 Lieber Urs Wertorientiertheit postulieren verpflichtet wohl dazu, Werte zu kennen und benennen zu können. Ob es da mit den von mir vorläufig anvisierten Begriffen „Freiheit von äußeren Zwängen“ und „verstandene Abhängigkeit“ getan sein könnte, ist zu bezweifeln. Deine Analyse verunsichert mich. Nicht etwa, weil ich sie für spitzfindig hielte, sondern ihrer Folgerichtigkeit wegen, die nahelegt, Möglichkeiten des Verste- VHN 3/ 2011 244 Urs Haeberlin, Ernst Suter hens zu bedenken. Was ist unter „Freiheit“, was unter „Abhängigkeit“ zu verstehen, und was gilt für den, der nicht zu verstehen vermag, und den, der emotional nicht entscheidungsbereit ist? Und was wäre von der Vorstellung zu halten, dass die in der Erziehung wegleitenden Werte gar nicht irgendwelcher Einsicht oder gar Akzeptanz bedürfen, um zu gelten, sondern uns schlicht vor die Wahl für oder gegen Einflussnahme (Manipulation) stellen? Stoßen wir so nicht auch noch auf das Problem der Autorität (und des Autoritätsverlustes), welcher in der Geschichte der Pädagogik wechselnde Bedeutung zugeschrieben wurde? Fragen über Fragen treiben uns leicht ins Uferlose ab. Jeder Versuch, Sinn und Werte im und für das Menschenleben näher zu beleuchten, konfrontiert mit dem Menschenbild selbst. Es stellt sich also die Frage: Wie ist der Mensch? Im Zusammenleben der Menschen geht es darum, füreinander möglichst so zu sein und zu werden, wie der Mensch sein sollte. Diese Gedanken überschreiten die Grenze zwischen dem Gegebenen und dem Aufgegebenen. Was gegeben ist, erfahren wir im Erlebten, das Aufgegebene steht als orientierendes Ziel vor uns. In Sinn und Werten näher interpretieren lässt es sich wohl nur als eine Art Erwartung, eine Art Sehnsucht, eine Art Heil im religiösen Sinn. Inhaltlich wäre es allenfalls zu fassen als das erstrebenswert Gute, welches in der Geschichte der Menschheit eine segensreiche Rolle gespielt hat. Damit rücken wir die erfragten „richtungweisenden Wertmaßstäbe“ allerdings ins Ethisch-Religiöse, ins möglicherweise nur noch Spekulative. Hier stellt sich mir auch die Philosophin Jeanne Hersch (1910 - 2000) in den Weg des kritischen Denkens mit dem entwaffnend lapidaren Satz: „Ich glaube, dass die Menschen einen Sinn haben für das, was gut ist, und für das, was schlecht ist.“ In der Suche nach dem richtigen Wert werde ich da nämlich lediglich auf mich selber verwiesen, denn ich habe einen Sinn für gut und schlecht und damit für das richtige „Sollen“. Auch wer erzieht, muss sich also an einen „vorgefundenen Sinn“ und den „vorexistierenden Wert“ in sich selber halten, um zu wissen (oder zu spüren), was den Menschen ausmacht. Und weil ihm dabei die Wahl überlassen bleibt, geschieht ihm „selbstverantwortliche Freiheit“ - allerdings innerhalb menschlicher Grenzen, zu denen im Besonderen die Interessen des Kindes zu zählen sind. Es geht eben nicht primär darum, ob ich das Gute für mich wähle, sondern um die Wahl des Guten für das Kind und damit den Menschen, zu dem ich es heranreifen und „seinen Platz in der Geschichte der Menschen“ finden lassen will. Bleiben solche begrifflichen Ausführungen aber nicht wiederum nur Worthülsen, die es erst noch zu füllen gilt? Müssten das Gute und das Schlechte, gerade wenn wir einen angeborenen Sinn dafür hätten, nicht besser fassbar gemacht werden können? Eines steht für mich einstweilen fest: Erziehungskompetenz wurzelt in der gewagten und gelebten Auseinandersetzung mit dem Bild, das wir uns vom Menschen machen, von dem als ideal postulierten und dem konkret vorgefundenen. Ich bin gespannt darauf, wie du unsere Gedanken wieder zu zentrieren vermagst. Dafür bin ich dir dankbar und grüße dich herzlich Ernst Mail vom 29. Januar 2011 Lieber Ernst Die Fragen „Wie ist der Mensch? Wie soll der Mensch sein? “ sind zwar von Vertretern der philosophischen Anthropologie und wohl auch der Theologie immer wieder in dieser verallgemeinernden Form gestellt und in oft übertrieben idealisierender Weise behandelt worden. Aber ich vermute, dass die so gestellte Frage der pädagogischen Realität nicht gerecht werden kann. Wenn sie nämlich so gestellt wird, steht dahinter die Idee eines über alle Kulturen, Gesellschaften, VHN 3/ 2011 245 Wertorientierung als Erziehungskompetenz? Religionen und Erdteile als verbindlich geltenden Einheits- und Idealtypus’ von Mensch. Natürlich haben Menschen vieles gemeinsam: Alle empfinden Gefühle der Lust und der Unlust, der Trauer, der Freude und der Hoffnung. Doch diese Gemeinsamkeiten gelten zumindest auch für viele höher entwickelte Tiere. Wenn sich dann aber Philosophien beispielsweise darauf einlassen, dass sich das spezifisch Menschliche auf die Verwendung einer elaborierten Sprache und auf die Fähigkeit der Intelligenz und der Selbstreflexion beziehe, dann wird eine Rechtfertigung von (heil-)pädagogischen Grundwerten äußerst schwierig. Wie sollen wir dann noch Grundwerte vertreten können, welche sich auf die Bildungsfähigkeit und den Status des Menschseins von nicht sprachfähigen und wenig sichtbare Intelligenzleistungen zeigenden Schwerbehinderten beziehen? Aber auch wenn ich diese Extremfrage nicht stelle, wird eine Heterogenität von kulturell und gesellschaftlich geprägten menschlichen Wesen erkennbar, welcher die Idee „des Menschen schlechthin“ kaum mehr gerecht werden kann. Solange unser Bildungswesen von einem Bildungsbürgertum dominiert war, welches sich an einem letztlich elitären Bildungsbegriff orientierte, war für die ebenfalls in dieser Tradition stehende Pädagogik die Einheit der Bildungsziele gegeben. Die Auflösung der früheren, relativ festen und lange Zeit wenig hinterfragten gesellschaftlichen Strukturen und dann natürlich in der jüngsten Vergangenheit die rasch voranschreitende Durchmischung unserer auf bestimmten Traditionen fußenden Gesellschaft mit Menschen aus vielen anderen Kulturen mussten zwangsläufig zu den von dir mit Recht festgestellten Verunsicherungen bezüglich Werten sowie verbindlichen Erziehungs- und Bildungszielen führen. Wenn man diese aus den Merkmalen eines unabhängig von kultureller und gesellschaftlicher Prägung rekonstruierbaren „Menschenwesens“ ableiten und begründen könnte, wäre die Verunsicherung ziemlich leicht behebbar. Aber ich sehe keinen Anlass, mit dieser Hoffnung wieder in die Denkweise des europäischen Idealismus zurückzufallen. Wahrscheinlich ist sie eine Sackgasse. Ja, aber was dann als Alternative? Wenn die frühere, wenig reflektierte Wertesicherheit nicht mehr in die Voraussetzungen für die Kompetenz der Erziehrer/ innen und Lehrer/ innen zurückholbar ist, was kann dann diese Basis der Erziehungskompetenz ersetzen? - In einem gewissen Sinne hast du vielleicht zu Beginn dieses Mail- Wechsels eine Lösung des Dilemmas angedeutet, indem du schreibst, Werthaltung sei immer auch erzieherische Einflussnahme. Nur würde ich diesen Satz etwas verändern und ihn so formulieren: „Wenn die Werthaltung von Erwachsenen mit deren Tun und Lassen übereinstimmt, werden sie von Kindern und Jugendlichen als Vorbilder für die eigene Wertorientierung ernst genommen.“ Gemeint ist mit dieser Umformulierung, dass in der Werterziehung das erzieherische Beabsichtigen und Machen-Wollen fehl am Platz ist. In der werteheterogenen Gesellschaft würde dies zu Recht als ideologisierende Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen gebrandmarkt. Der etwas abgegriffene und veraltete Begriff „Vorbild“ kann vielleicht doch das, was ich meine, am treffendsten bezeichnen. Wenn ich mir selbst überlege, warum bestimmte Erwachsene für mich als Kind und Jugendlicher Vorbild waren, dann komme ich jedenfalls immer wieder zum Ergebnis, dass es jene waren, bei welchen ich eine echte Übereinstimmung zwischen ihrer Werthaltung und ihrem Tun zu erkennen meinte. Und die größte Enttäuschung war, in einigen Fällen merken zu müssen, dass das Vorbildverhalten nur Fassade war. Ich bin mir bewusst, dass ich mit dem Schritt zum Begriff des „Vorbildes“ die Gesamtproblematik verkürze und natürlich die Frage der Wertebegründung schon gar nicht löse. Aber vielleicht bin ich bei der Auseinandersetzung mit der erzieherischen Kompetenz bezüglich der Wertfrage in einer werteheterogenen Umwelt doch einen kleinen Schritt weitergekommen: Zur erzieherischen Kompetenz gehört das Vermögen, einerseits selbst von Grundwerten überzeugt zu sein und danach zu leben, VHN 3/ 2011 246 Urs Haeberlin, Ernst Suter und andererseits auch gegenüber andern Menschen, einschließlich erzieherisch abhängigen Kindern und Jugendlichen, unvoreingenommen offen zu sein. Ich weiß auch, von wem ich den Grundwert der ideologischen Offenheit für mich übernommen habe - von Heinrich Hanselmann. Herzliche Grüße von Urs E-Mail vom 16. Februar 2011 Lieber Urs Auch wenn nicht zu erwarten war, die Antwort auf die Frage, was eigentlich zum Erziehen befähige, könnte einfach sein, resultiert aus unseren Überlegungen eine banal erscheinende Selbstverständlichkeit: Es kommt beim Erziehen auf das Sein und nicht auf den Schein an. Erziehen ist kein Rollenspiel, bei dem es lediglich darum geht, angelerntes Wissen und Können anzuwenden oder sich mit vermeintlich angeborener Begabung einzubringen. Vielmehr ist es eine existenzielle Herausforderung durch anbefohlene oder anvertraute Geschöpfe. Sie fordert von uns uneigennützige Zuwendung und die Bereitschaft, in unserer Haltung und in unserem Verhalten mit unvoreingenommener ideologischer Offenheit (wie du sie von Hanselmann zu übernehmen erwähnst) Verbindlichkeit zu wagen. Das wiederum setzt tatsächlich voraus, von Grundwerten überzeugt sein zu können und selbst danach zu leben - dieser deiner Formulierung stimme ich mit Überzeugung zu. So betrachtet ist Erziehung als eine elementare Persönlichkeitsleistung zu verstehen, die als ein Wagnis mit Empathie oder schlichter: als Nächstenliebe zu vollbringen bleibt. Noch einmal ist damit eine Selbstverständlichkeit ins Auge gefasst. Erziehung bewusst als ein Wagnis zu verstehen, lässt darauf schließen, dass wir nie damit rechnen können, es je ganz richtig oder ganz falsch zu machen. Die schlechteste Erziehung sei die fehlende Erziehung, ist gesagt worden. Wer sich im ganz persönlichen Einsatz der erzieherischen Aufgabe gewissenhaft, verantwortungsbewusst und gerne widmet, ist vielleicht allein deshalb schon ein guter Erzieher, eine gute Erzieherin. Die Befähigung zum Erziehen liegt also - ein Stück weit - bereits im bejahten Wagnis der herausfordernden Anteilnahme an der Entwicklung des Kindes und der selbstlosen Reaktion darauf. Was darüber hinaus und vor allem konkreter zu den erzieherischen Fähigkeiten gehören mag, könnte eine weiterführende Diskussion über „Anlässe zur und Inhalte der Erziehungsberatung“ erhellen. Es wäre sinnvoll, hierzu eine erfahrene Fachkraft zu Wort kommen zu lassen. Vielleicht dürfte davon sogar ein erfreuliches Plädoyer für den Mut zur Erziehung erwartet werden. Mit herzlichen Grüßen Ernst Mail vom 17. Februar 2011 Lieber Ernst Mich erstaunt, dass du unvermittelt einen Schwenker zur Hoffnung auf Hilfe durch eine „Fachkraft in Erziehungsberatung“ machst. Es macht fast den Eindruck, als ob du die Fragen, mit welchen wir uns so schwertun, an eine imaginäre Fachkraft zu delegieren versuchst. Aber haben wir denn nicht selbst die Kompetenzen von Fachleuten für Erziehungsfragen? Du als erfolgreicher Lehrer, ich als fachlich ausgewiesener Erziehungswissenschaftler. Nein, das Delegieren bringt keine besseren Antworten auf unsere Grundfrage nach der Werthaltung in der Erziehung! Ich glaube, dass zur Erziehungskompetenz, wie wir sie wahrscheinlich beide verstehen, gerade auch die Gelassenheit gehört, Ungewissheiten und vorläufig Unbeantwortbares mit Zuversicht ertragen zu können. Es gehört auch dazu, immer wieder pragmatisch werden VHN 3/ 2011 247 Wertorientierung als Erziehungskompetenz? zu können und sich den vielen Fragen des Gewöhnlichen und Alltäglichen zuzuwenden. So schlage ich denn vor, eine Verschnaufpause einzulegen, unseren Mail-Wechsel etwas ruhen zu lassen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu prüfen, ob wir einen Schritt weitergekommen oder ob wir mit unseren Reflexionen in einer Sackgasse steckengeblieben sind. Ich nehme an, dass du mit diesem Vorschlag einverstanden bist, und grüße dich herzlich. Urs Prof. em. Dr. Urs Haeberlin Emeritierter Ordinarius für Heilpädagogik Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg (Schweiz) Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: urs.haeberlin@unifr.ch Ernst Suter Sonderschullehrer im Ruhestand Sandbüelstrasse 30 CH-8606 Greifensee E-Mail: ernstsuter@ggaweb.ch